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12 * <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 18 · D ienstag, 22. Januar 2019<br />
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Berlin<br />
Die SPD-Abgeordneten<br />
wollen Pflege- und Seniorenheime<br />
selbst<br />
bauen und dafür eine<br />
landeseigene Trägerstruktur schaffen.<br />
250 Millionen Euro sollen dafür<br />
ausgegeben werden – ein Novum.<br />
Doch Dilek Kolat (SPD), Senatorin<br />
für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung,<br />
will mehr: ImInterview erklärt<br />
sie, wie sie dem wachsenden<br />
Bedarf anPflegekräften in der Stadt<br />
gerecht werden will und welche<br />
Rolle Roboter dabei spielen. Denn<br />
bis zum Jahr 2030 wird die Zahl der<br />
Pflegebedürftigen von 136 000 auf<br />
etwa 170 000 Menschen steigen.<br />
Frau Kolat, ist 2019 das Jahr, indem<br />
Berlin beim Thema Pflege und Gesundheit<br />
digital aufholen wird?<br />
Ja.InBerlin gibt es eine große Dynamik<br />
in diesem Bereich. Viele Startups<br />
und Technologieunternehmen<br />
entwickeln digitale Lösungen für die<br />
Pflege- und Gesundheitsbranche.<br />
Das Problem: Es kommt nicht dort<br />
an, wo es ankommen soll –bei den<br />
Pflegebedürftigen, den Angehörigen,<br />
den Pflegekräften. Wir sind dabei<br />
zu analysieren, wieso das so ist<br />
und welcheTechnologien überhaupt<br />
einen Nutzen haben. Nicht jede<br />
Technologie ist gut für den Menschen.<br />
Dabei ist auch die Finanzierung<br />
ein Knackpunkt. Der Katalog<br />
der Pflegehilfsmittel muss erweitert<br />
werden. Hinzu kommt, dass die<br />
Menschen überhaupt erstmal wissen<br />
müssen, welche Innovationen es<br />
für den Alltag gibt.Wirbrauchen also<br />
mehr Digitalkompetenz – im Alter<br />
und vorallem in der Ausbildung. Genau<br />
deshalb habe ich im vergangenen<br />
Jahr die <strong>Berliner</strong> Initiative<br />
„Pflege 4.0“ auf den Weggebracht.<br />
Digitale Lösungen –das klingt toll.<br />
Nur, was versteckt sich dahinter, mal<br />
ganz praktisch?<br />
Grundsätzlich: Mehr Sicherheit<br />
und ein selbstbestimmteres Leben<br />
für Pflegebedürftige und Entlastung<br />
für Pflegekräfte und Angehörige.<br />
Praktisch können zum Beispiel Sensorsysteme<br />
dafür sorgen, den Weg<br />
zur Toilette zu beleuchten. Mit diesen<br />
sogenannten Assistenzlösungen<br />
wollen wir in Berlin Vorreiter werden.<br />
Roboter können mit Pflegebedürftigen<br />
kommunizieren, aber<br />
auch Gedächtnistraining machen<br />
oder Lieder abspielen. Dasdarauf zu<br />
reduzieren, wäre aber falsch. Die Innovationen<br />
gehen viel weiter.InBerlin<br />
gibt es zum Beispiel ein Projekt,<br />
bei dem eine Hausärztin und die<br />
Pflegekräfte digital zusammenarbeiten.<br />
Die Vitaldaten werden übertragen,<br />
die Ärztin ist nah dran am Patienten<br />
und kann entsprechend reagieren.<br />
Ein schönes Projekt, leider<br />
nur ein einzelnes Beispiel, von denen<br />
wir in der Stadt viel mehr<br />
bräuchten. Ich will diese Beispiele<br />
bekannter machen, damit auch andere<br />
Pflegeeinrichtungen und Ärzte<br />
ihnen folgen.<br />
Je nach Studie lehnen es 44 bis 56 Prozent<br />
der Menschen ab,von einem Roboter<br />
gepflegt zu werden. Wie wollen<br />
Sie mehr Akzeptanz schaffen? Auch<br />
das Thema Datenschutz spielt bei der<br />
Ablehnung solcher digitalen Lösungen<br />
oft eine Rolle.<br />
Wenn Betroffene und Pflegekräfte<br />
damit nicht arbeiten wollen, ist das<br />
eine Innovation, die am Menschen<br />
vorbeientwickelt wurde.Auch damit<br />
beschäftigen wir uns. Und Gesundheit<br />
und Pflege sind sehr sensible<br />
Themen, es geht um Zuwendung,<br />
um Menschlichkeit. Die Rolle von<br />
Technik ist begrenzt. Pflege muss immer<br />
eine Mensch-zu-Mensch-Beziehung<br />
bleiben. Technik kann die<br />
Pflege unterstützen, aber nur so weit<br />
wie die Menschen souverän über die<br />
Technologien Bescheid wissen. Es<br />
geht um die Stärkung von Digitalkompetenz,<br />
um Wissen und Information,<br />
damit jeder die individuelle<br />
Entscheidung, welche Innovationen<br />
er zulässt, selbst treffen kann.<br />
Können Sie sich selbst vorstellen, von<br />
einem Roboter gepflegt zu werden?<br />
Ichkann es mir gerade auch nicht<br />
vorstellen. Wir wollen mit Technik<br />
auch nicht den Menschen ersetzen.<br />
Das ist mir sehr ernst. Gerade in einer<br />
Single-Hauptstadt wie Berlin<br />
wissen wir,dass sich insbesonderein<br />
„Wir wollen Pfleger nicht<br />
durch Roboter ersetzen“<br />
der häuslichen Pflege die soziale<br />
Teilhabe einschränkt. Wenn Menschen<br />
ohnehin schon isoliert leben<br />
und die Pflegekraft am Tagder einzige<br />
Kontakt ist, können wir diesen<br />
Menschen keinen Pflegeroboter hinstellen.<br />
Maßnahmen zur sozialen<br />
Teilhabe in Kiez und Nachbarschaft<br />
sind hier wichtig.<br />
Dieneue Technik wirdden Fachkräftemangel<br />
in der Pflege nicht lösen.<br />
Der Landespflegeplan prognostiziert<br />
Berlin bis 2030 etwa 170 000 pflegebedürftige<br />
Menschen. Bis2030 könnten<br />
etwa 8000 Altenpflegekräfte fehlen.<br />
Wie konnte es zu so einem desolaten<br />
Zustand überhaupt kommen?<br />
Der Pflegenotstand ist hausgemacht.<br />
Es war absehbar,dass der Bedarf<br />
ineiner alternden Gesellschaft<br />
steigen wird. Auch im Krankenhausbereich<br />
hat man das Thema Pflege<br />
völlig vernachlässigt und unterschätzt.<br />
Dort sind in den letzten 15<br />
Jahren sogar 30 Prozent des Pflegepersonals<br />
abgebaut worden. Wenn<br />
Gesundheitssenatorin Dilek Kolat (SPD) über fehlende Fachkräfte,<br />
den Einsatz moderner Technik in der Altenbetreuung und überfüllte<br />
Notaufnahmen in Krankenhäusern<br />
man das Problem nicht erkennt,<br />
dann bildet man auch nicht bedarfsgerecht<br />
aus, daher haben wir jetzt<br />
auch zu wenig Fachkräfte. Und es<br />
stimmt einfach nicht, dass es keine<br />
Jugendlichen gibt, die in der Pflege<br />
arbeiten wollen. Zudem kommen<br />
viele junge Menschen nach Berlin.<br />
Wirhaben also die bestenVoraussetzungen.<br />
ZUR PERSON<br />
Die Politikerin: Dilek Kolat ist seit dem 8. Dezember 2016 Senatorin für Gesundheit, Pflege<br />
und Gleichstellung.Zwischen 2011 und 2016 war sie Senatorin für Arbeit, Integration und<br />
Frauen. VonDezember 2014 bis Dezember 2016 war sie zusätzlich als Bürgermeisterin Stellvertreterin<br />
des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller.Der SPD gehörtsie seit 1995 an.<br />
Ihre Herkunft: Die 51-Jährigeist in der Türkei in Kelkit geboren und in Neukölln aufgewachsen.<br />
Nach demAbitur an der Otto-Hahn-Schule folgte ein Studium an derTU Berlin, das sie als<br />
Diplom-Wirtschaftsmathematikerin abschloss. Sie ist mit Kenan Kolat verheiratet.<br />
Aber der Beruf ist unattraktiv –wenig<br />
Geld, Schichtdienst, Stress, körperlich<br />
anstrengend…<br />
Nicht der Beruf ist unattraktiv,<br />
sondern die Arbeitsbedingungen.<br />
Dasist ein Unterschied und das wird<br />
leider immer wieder verwechselt. Ich<br />
habe vor kurzem 200 Jugendliche<br />
eingeladen. Ich bin heute noch begeistert,<br />
wie motiviert sie sind und<br />
BERLINER ZEITUNG/GERD ENGELSMANN<br />
wie attraktiv sie die Gesundheitsund<br />
Pflegeberufe finden, weil sie in<br />
ihrem Leben etwas Sinnvolles tun<br />
und Menschen helfen wollen. Zu<br />
Recht beklagen sie sich über<br />
schlechte Arbeitsbedingungen.<br />
Wiewollen Siedie Situation in Berlin<br />
verbessern?<br />
Wir brauchen in Berlin eine einheitliche<br />
Ausbildungsvergütung,<br />
Teilzeitmodelle, flexiblere Arbeitszeiten.<br />
Und wir müssen in die Ausbildung<br />
investieren. Wenn es mehr<br />
Pflegekräfte gibt, verteilt sich die Arbeit<br />
auf mehrere Schultern. Ich unterstütze<br />
die „Konzertierte Aktion<br />
Pflege“ im Bund. Berlin hat daran<br />
maßgeblich mitgewirkt. Ich bin mir<br />
mit Arbeitgebern und Arbeitnehmervertretungen<br />
darüber einig, dass<br />
wir bedarfsgerecht ausbilden müssen.<br />
Ich erwarte deshalb von jedem<br />
Krankenhaus und jeder Pflegeeinrichtung,<br />
dass sie ermitteln, wie viele<br />
Pflegekräfte gebraucht werden, um<br />
den BedarfanAusbildungskapazitäten<br />
zu decken. Wenn mir das keiner<br />
beantworten kann, dann haben wir<br />
ein Problem.<br />
DieKrankenhäuser wissen das nicht?<br />
Nein, weil es nicht immer eine solide<br />
Bedarfsplanung gibt.<br />
In den Krankenhäusern scheinen<br />
auch die Notaufnahmen überfordert<br />
zu sein. Patienten, die stundenlang<br />
auf eine OP warten, Babys, die nicht<br />
versorgt werden.<br />
DieEinzelfälle müsste ich mir ansehen.<br />
Aber es ist wahr, dass wir in<br />
den Notaufnahmen ein Problem haben,<br />
aber nicht im stationären Krankenhausbereich.<br />
DieNotaufnahmen<br />
haben so langeWartezeiten, weil sich<br />
die weniger dringlichen Patienten<br />
mit schwerwiegenden Notfällen dort<br />
mischen. Der Bundesausschuss hat<br />
Qualitätsstandards zu Notaufnahmen<br />
formuliert. Alle Notfallaufnahmen<br />
in Berlin erfüllen diese Qualitätsstandards<br />
sehr gut. Was nicht<br />
funktioniert, ist der ambulante Notdienst.<br />
Der ist nicht gut aufgestellt.<br />
Deshalb kommen alle in die Krankenhäuser<br />
und es kommt zu Wartezeiten.<br />
Seit Januar gelten bundesweit Personaluntergrenzen<br />
für besonders pflegeintensive<br />
Bereiche im Krankenhaus:<br />
2,5 Patienten am Tagpro Pflegekraft<br />
auf der Intensivstation oder<br />
zehn Patienten in der Unfallchirurgie.<br />
Reicht das?<br />
Nein, diese Untergrenzen sind ein<br />
erster Schritt, reichen aber nicht aus.<br />
Wirbrauchen einen Personalschlüssel,<br />
der den Bedarfdeckt. Dazu habe<br />
ich auch eine Bundesratsinitiative<br />
auf den Weggebracht, die auch eine<br />
Mehrheit gefunden hat. Es geht<br />
nicht um die Frage, wie viele Pflegekräfte<br />
man braucht, damit der Patient<br />
nicht stirbt. DerSchlüssel müsste<br />
viel höher sein. Unddas Traurige ist,<br />
dass viele Krankenhäuser nicht mal<br />
die Untergrenzen einhalten können.<br />
Personal ist das eine, Qualität und<br />
Ausstattung der Krankenhäuser das<br />
nächste Problem.<br />
Das Land Berlin hat in der Zeit,<br />
wo viel gekürzt und gespart wurde,<br />
auch bei den Krankenhausinvestitionen<br />
gespart. Und das rächt sich<br />
jetzt. Wir haben daher einen hohen<br />
Investitionsbedarf. Aber der rot-rotgrüne<br />
Senat hat hier eine Kehrtwende<br />
auf den Weggebracht und die<br />
Landesmittel von 79Millionen Euro<br />
für 2017 auf 150 Millionen Euro für<br />
2019 erhöht.<br />
Aber das reicht auch nicht.<br />
Richtig. Wir haben viel aufzuholen<br />
und die Stadt wächst, weshalb<br />
wir auch mehr Kapazitäten brauchen.<br />
Wir haben immer noch Nasszellen,<br />
die draußen sind, immer<br />
noch Vier-Bett-Zimmer, veraltete<br />
Medizin-Technik. Dort, wo wir aber<br />
investieren, ändernsich auch die Arbeitsbedingungen<br />
für die Ärztinnen<br />
und Ärzte und die Pflegekräfte.<br />
Gesundheit und Pflege betrifft wie<br />
das Thema Wohnen eigentlich jeden<br />
in Berlin. In der jüngsten Forsa-Umfrage<br />
der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> landen Sie<br />
zwar auf Platz zwei der beliebtesten<br />
Senatorinnen und Senatoren. Gleichzeitig<br />
rangiertdas Thema Gesundheit<br />
auf dem letzten Platz, wenn die <strong>Berliner</strong><br />
nach ihren dringlichsten Sorgen<br />
befragt werden. Werden Ihre Themen<br />
in der Stadt nicht wahrgenommen?<br />
Das ist Ihre Interpretation. Ich<br />
nehme das anders wahr in meiner<br />
Arbeit. Undich bin ja viel in der Stadt<br />
unterwegs, in Krankenhäusern, in<br />
Pflegeeinrichtungen und spreche<br />
viel mit Jugendlichen in der Ausbildung<br />
und mit Angehörigen. Pflege<br />
geht uns alle an. Pflege ist ein Zukunftsthema.<br />
Auch für die <strong>Berliner</strong> SPD?<br />
Die SPD hat vor kurzem ein Pflegemanifest<br />
veröffentlicht und es mit<br />
vielen hundert Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmernauf einem Innovationsforum<br />
diskutiert. Außerdem hat<br />
die SPD-Fraktion das Thema auf ihrer<br />
Fraktionsklausur am Wochenende<br />
aufgerufen. Die SPD ist in der<br />
Stadt erkennbar die Partei der Pflege<br />
geworden.<br />
DasInterviewführte Melanie Reinsch.