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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 142 · 2 2./23. Juni 2019 3<br />
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Report<br />
IM OSTEN GEHT DER<br />
SOMMER AUF<br />
Die Sommerserie der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong>,Teil 1<br />
die Wunden zu versorgen. In der Szene hatte sich das<br />
schnell herumgesprochen. Seitdem rollten immer weniger<br />
Motorräder nach Herzsprung. Eggi glaubt: „Die<br />
haben uns den Club versaut.“<br />
Raus aus der Stadt: Herzsprung ist<br />
etwa100 Kilometer von Berlin entfernt.<br />
Der dorfgesellschaftliche Höhepunkt des<br />
Jahres, das Sommerfest, findet im Juni statt.<br />
Nächster Badeort? Der Königsberger See.<br />
Kulinarische Spezialität? Knieperkohl,<br />
säuerlich, eingestampft, im Bräter mit fettem<br />
Fleisch angesetzt, dazu Pellkartoffeln.<br />
Buchen Sie im Voraus, es gibt nur drei<br />
Ferienwohnungen im Ort.<br />
Nächste Woche:<br />
Naschhausen<br />
Herzsprung<br />
IV. IN FREUNDSCHAFT UND RESPEKT<br />
Thomas kommt in die Clubhausküche, erhat vor ein<br />
paar Minuten als Erster mit dem Aufräumen begonnen,<br />
gießt sich Wilthener Goldkrone ein, gibt den ersten<br />
Fundsachenbericht ab: „Kamm, Feuerzeug, fünf Cent.“<br />
Thomas gehört zum Club, 19Mitglieder sind es nur<br />
noch, jeder zahlt 20 Euro im Monat. Siesind mal mit 42<br />
Maschinen Kolonne gefahren.<br />
Eggi führtmich tiefer ins Clubhaus,zeigt Pokale,einen<br />
Adler aus Stein, die feuchten Stellen an der Decke;<br />
das Dach istzur Hälfte fertig, eine neue Heizung kommt<br />
bald. Er nimmt einen alten Ostschnaps in die Hand,<br />
dann die russische Granate voneinemTresenregal, Eggi<br />
sagt: „Jeder stellt seinen Scheiß ab.“<br />
An einer holzvertäfelten Wand hängen ein Wildschweinfell<br />
und der sachdienliche Hinweis: „Ein laufender<br />
Meter“; darüber eine Streitaxt, ein Geschenk<br />
zum zwanzigsten Clubjubiläum. „Alter“, sagt Eggi,<br />
„scharf wie Sau. Haben wir richtig festgemacht, damit<br />
keiner rankommt.“ Der White Eagle MC verschenkt<br />
Kunst zu runden Anlässen, selbst gemacht, zum Beispiel<br />
einen Eichenklotz mit zwei Pleuelstangen drauf;<br />
dazu Plakette,Widmung, fertig.<br />
Zwischen Tischen, Kartons, Klappbetten, Ersatzteilen,<br />
die sie auf Märkten kaufen oder verkaufen, schläft<br />
noch Michaauf der Couch. Oder ist das Andy,der Road<br />
Captain? Aufder anderen Wandseite fällt ein Flammenbild<br />
auf. „In Freundschaft und Respekt“ steht drauf,<br />
zum Dreißigjährigen, vomMotorradclub Route88–die<br />
88 ist Symbolik, selten Zufall.<br />
Wasich Eggi nicht frage am Morgen nach dem Dorffest:<br />
Warumvier Mikrowellen in seiner Clubhausküche<br />
stehen; wie es eigentlich dazu kam, dass Hells Angels<br />
und Bandidos ihren Bandenkrieg in Herzsprung austragen<br />
wollten; und was genau ihn an den Schwarzen<br />
auf Mallorca gestörthat, als er zum ersten MalamBallermann<br />
war.Die Bemerkung war so irritierend beiläufig.<br />
Thomas kaute, ich schwieg, war gelähmt, wollte eigentlich<br />
was sagen, hatte Leberwurst im Hals. Man<br />
muss aufstehen gegen Rassismus; ich bin sitzengeblieben.<br />
Eggi wurde mir plötzlich fremd.<br />
Wieder draußen auf der Clubhausveranda fällt mir<br />
auf, dass David gar nicht da ist, dabei wollte er doch um<br />
elf hier sein, helfen. Undich wollte noch mal nüchtern<br />
mit ihm reden. Am Morgen nach dem Dorffest hätte ich<br />
ihn gefragt, wie er es schafft, alle Produkte vonNestlé zu<br />
boykottieren oder in wenigen Monaten über zwanzig<br />
Kilogramm Muskelmasseaufzubauen; warum er Angst<br />
hat vor den Fremden, aber nicht vor mir, dem gebürtigen<br />
Polen, der mit dem Fahrradüber die Landstraße gekommen<br />
ist, um ihm Partyzeitzustehlen.<br />
BLZ/GALANTY<br />
BevorEggi Motorenschlosser bei der LPG lernte,war<br />
er Kulissenmaler bei der Defa in Babelsberg; reiste viel<br />
herum, Kuba, Jugoslawien, in Bulgarien bekam er fünfzehn<br />
Lewa Auslöse am Tag, mehr als ein Wessi damals,<br />
sagt er.Für seinen Fluchtversuch bekam fünf Jahre.<br />
Rüber mit der Leiter, soerzählt er es, schon waren<br />
die Grenzer da, dann die Polizei in einem alten Wolga,<br />
es fielen Schüsse.„DerStaat hat nicht gefackelt.“ Als er<br />
wieder draußen war, sagte sein Vater: „Alter Freund,<br />
wenn du noch mal abhaust, komme ich dir hinterher<br />
und erschieße dich.“ DerVater war bei der Stasi, hatte<br />
vielleicht nachgeholfen, die Haftstrafe zu verkürzen.<br />
Eggi weiß das nicht. Wollte es nicht wissen. „Ich gegen<br />
den Staat“, sagt er,„und mein Alter ist da voll drinne.“<br />
Ich frage nicht weiter nach, bin noch müde, kaue,<br />
schweige,kaue, warte auf den ersten Kaffeeschluck des<br />
Tages, der Seekaffee ist immer noch aufgewühlt. Eggi<br />
hat wohl ohnehin beschlossen, sein Leben in Langform<br />
zu erzählen, ich hatte ihn nicht danach gefragt. Das<br />
Einzige, das er von mir wissen will: „Machst du da ein<br />
Praktikum bei der <strong>Zeitung</strong>?“<br />
Natürlich war er froh, wieder frei zu sein. Im Gefängnis<br />
hatte er auf einer Fahrraddecke geschlafen, immer<br />
auf dem Flur,weildie Zellen Ende der Achtziger so voll<br />
waren, sagt er. Aber wahre Freiheit, die schenkte ihm<br />
kein Vater, kein Staat, auch nicht der Mauerfall wenige<br />
Monate später,sondernimmer nur die Straße.<br />
Das Clubhaus war früher eine Kegelbahn, die einzige<br />
in der Gegend, vierzig Meter lang. Montags spielten<br />
die Frauen, freitags die Männer, Bezirksmeisterschaften<br />
wurden hier ausgetragen. Beim Einzug 1991<br />
rissen die Biker alles raus. Die ersten sechs Clubjahre<br />
haben sie in Wittstock verbracht, doch dann gab es irgendwelche<br />
strittigen Immobilienfragen. Eggi sagt nur:<br />
„Dakam derWessi wieder.“ Seine nachträgliche Standortanalyse:<br />
„1989, 90, 91, 92, 93, da waren wir alle staatenlos<br />
hier,alles war am Boden durch die Wende.“<br />
Wir gehen rein, das wird jetzt eine offizielle Clubhausbesichtigung,<br />
in der Küche sagt Eggi, dass Mikrowellen<br />
stinken, wenn sie lange nicht genutzt werden.Es<br />
ist keine Entschuldigung, es ist eine Erklärung. Dann<br />
folgt die Ergänzung: „Wenn Partyist, wirdaufgeräumt.“<br />
Früher gab es noch Ingo, der hat das alles gemacht,<br />
dann den Rasen gemäht, die Kutten entworfen, die<br />
Leute mit einem kalten Bier empfangen. „Dann ist Ingo<br />
fünfzig geworden“, sagt Eggi, „tot, Krebs.“<br />
III. VON „KLING KLANG“ ZU „LA MACARENA“<br />
Der White Eagle MC ist für die Verpflegung der Sommerfestgäste<br />
in Herzsprung zuständig, das ist Tradition,Gemeinschaft<br />
verpflichtetet. Seit fünfzehn Jahren<br />
machen sie das, immer im Juni, auf einer Freilichtbühne<br />
neben ihrem Clubhaus. Der dorfgesellschaftliche<br />
Höhepunkt des Jahres kostet zwei Euro Eintritt.<br />
Hans sitzt an Einlasstisch, stempelt Hände, später<br />
kontrolliert keiner mehr. Erwohnt mit seiner Frau in<br />
Berlin, jedes Wochenende verbringen sie in Herzsprung.<br />
Für zehn Euro die Stunde würde Hans, der<br />
Hausmeister,hiernicht arbeiten.<br />
DieTürsitzer begrüßen jeden Festbesucher mit Vornamen,<br />
hier ein Spruch, da eine Umarmung.„Wirsind<br />
als Fremde hier reingekommen“, sagt Hans. Seine<br />
Asylstrategie: „Ich stelle mich vor: Hallo, ich bin der<br />
Hans, dann geht das schon, ich finde sofortAnschluss.<br />
Wir sind voll integriert.“ Er sagt aber auch: „Es gibt<br />
nichts Schlimmeres,als nicht angenommen zu werden<br />
im Dorf.“ Vielleichthabe es geholfen, dass die Leute ein<br />
paar Jahre lang keine Ahnung gehabt hätten, dass sie<br />
nicht aus Ost-Berlin kommen, sondern aus dem Westteil<br />
der großen, fremden Stadt. Buletten? Hans lacht.<br />
DerNachmittag auf dem Dorffest ist für das Kinderprogramm<br />
reserviert: Bauchredner, Hüpfburg, Softeis,<br />
Tanzeinlagen; die Einnahmen aus dem Kuchenverkauf<br />
gehen an die Kita,die vorfünf Jahren gebaut wurde und<br />
schon wieder zu klein ist. DieViecher werden ins Bett<br />
gebracht, sagen sie hier. Dann beginnt die Nacht, beschleunigt<br />
der DJ von„Kling Klang“ auf „La Macarena“<br />
in einer halben Stunde. Früher hat die Musik 300 Euro<br />
am Taggekostet. Heute sind es 450.<br />
DerDorfverein Jung und Alt ist für die Festorganisation<br />
zuständig. SandraMielke heißt dieVorsitzende,vor<br />
sechs Jahren ist sie mit ihrer Familieaus Schleswig-Holstein<br />
nach Herzsprung gezogen, natürlich gab es Namenswitze.<br />
Heute wird sie Dorfchefin genannt. Und<br />
Dorfchefin Mielke sagt: „Man muss auf die Leute zugehen<br />
und mit ihnen reden. DasDorfist wie eine Großfamilie.“<br />
Privates und Politisches werdebessergetrennt.<br />
Hinter dem Bierwagen ist der Grillstand aufgebaut,<br />
überall stehen Tischreihen, geschmückt mit Fähnchen<br />
von McDonald’s,Luftballons von der AOK, davor eine<br />
Tanzfläche,schwofen wollen sie am Ende immer,ringsherum<br />
hohe Bäume und über dem DJ-Pult das Plakat:<br />
„Herzsprung –mit der Lizenz zum Feiern“.<br />
Beiden Bikertreffs Mitteder Neunziger feierten mal<br />
3000 Leute hier,Bands ausBerlin und Leipzig spielten.<br />
Daswaren diebesten Zeiten. EinpaarJahre später sollen<br />
Bandidos auf den Chef der Hells Angels eingestochen<br />
haben. Sietrugen ihn ins Clubhaus,sagtEggi, um<br />
V. CROSSFIT UND KERNSEIFE<br />
Auf dem Sommerfest trägt David Sneakers, Röhrenjeans,<br />
wir reden über Kiffen und Cypress Hill, ein Auswandererleben<br />
in Österreich, wo jedes Dorf noch eine<br />
Gaststätte haben soll, über den Wedding, wo man angeblich<br />
nur Döner essen kann, über Identität, die Gefahr<br />
eines kulturellen Austauschs in Deutschland, wie<br />
er es sagt. Wiedie IdentitäreBewegungesnennt.<br />
David ist Eggis Sohn, 22, der Jüngste beim White<br />
Eagle MC;erkönnte malPräsident werden, weiß nicht,<br />
ob er es will, er sei ganz anders als sein Vater. David<br />
macht Crossfit, duscht mit Kernseife, fährteine Simson,<br />
fräst an Motoren herum, baut Fremdzylinder ein.<br />
Nach Mitternacht, zwischen „What Is Love?“ und<br />
„Sing Hallelujah“, fragt mich David: „Du bist überrascht,<br />
weil ich bei der AfD bin, oder?“ Bin ich. Gleichzeitig<br />
bin ich esnicht. Die Gemeinschaft hier ist nicht<br />
füralle offen. Fremdenfeindlichkeit gilt als Meinung.<br />
Manchmal werden die Dinge klarer, wenn man näherkommt,<br />
in Herzsprung wurdealles verschwommen.<br />
Vonder Autobahn betrachtet ist dieses Dorf ein Sehnsuchtsort.<br />
Abfahrt Herzsprung, das weckt Erwartungen,<br />
versprichtVerstrickungen, vielleicht eine Sommerromanze.<br />
Es gibt ein Buch und einen Defa-Film von<br />
1992, die „Herzsprung“ heißen. Beide haben sich den<br />
Namennur geliehen, die Handlung spielt jeweils woanders.Ich<br />
war nun da und stand auf dem Rückweg noch<br />
lange über der A24. Fühlte nichts. Ein Auto hupte. Ich<br />
konnte die Kennzeichen nicht erkennen.<br />
Paul Linke<br />
ist mal über die Alpen gefahren mit dem Fahrrad,<br />
mit den Hügeln vorHerzsprung hatte er kaum Mühe.