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planet toys 4/19

Fachmagazin für den Spielwaren- und Buchhandel

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KOLUMNE<br />

<strong>planet</strong> <strong>toys</strong> 17<br />

Chefredakteur Ulrich Texter fühlt sich zunehmend von Politik, Parteien, Wirtschaft und Kirchen in die<br />

Zange genommen, die ihn partout „abholen“ und „mitnehmen“ wollen.<br />

Ich fühle mich bedroht. Das geht schon eine ganze Weile so.<br />

Um ehrlich zu sein, wird das Gefühl von Jahr zu Jahr stärker.<br />

Die Bedrohung ist mittlerweile allgegenwärtig. Zum Glück bin<br />

ich aber symptomfrei, aber was heißt das heute schon? Gesund<br />

ist nur der, der nicht gründlich genug untersucht worden<br />

ist. Medikamente brauche ich jedenfalls nicht, noch nicht.<br />

Sollte es doch mal erforderlich sein, Hilfe zu beanspruchen,<br />

vertraue ich lieber Roger Scrutons Ratgeber„Ich trinke, also<br />

bin ich – Eine philosophische Verführung zum Wein“ als irgendwelchen<br />

Stimmungsstabilisierern aus dem Labor. Wer<br />

nicht trinkt, ist nicht von dieser Welt! Sagt Scruton, nicht ich,<br />

aber ich bin, wenn’s drauf ankommt, auch zielgerichtet labil<br />

und glaube dann oft einfach alles, was man mir auftischt.<br />

Ich kann nicht sagen, wann es das erste Mal aufgetreten ist, aber<br />

das Gefühl ist so real wie die Vergangenheit nicht Vergangenheit<br />

ist, sondern Gegenwart, wenn ich an sie denke, aber ich vermute,<br />

es muss in den Nullerjahren gewesen sein, als nach Basta-Politik<br />

und Agenda 2010 die neue Bedrohung als schleichendes Gift<br />

in die Gesellschaft einsickerte und die halbe Welt mich „abholen“<br />

und „mitnehmen“ wollte. Wohin, hatte mir keiner gesagt, nicht<br />

einmal die Kirchen, deren Ziele doch eher begrenzt sind; vermutlich<br />

in die Zukunft, in ein besseres Leben oder sonst wohin, wo<br />

ich das Gefühl gewänne, das warst du, der das wollte, aber nicht<br />

die, die es angeleiert haben. Dabei neige ich nicht zu paranoiden<br />

Wahnvorstellungen. Das steht fest. Ich bin vom Fach. Eine posttraumatische<br />

Belastungsstörung, weil ich schon so viele Jahre<br />

in der Spielwarenbranche arbeite, schließe ich ebenfalls aus,<br />

obwohl es durchaus Anlässe zur Traumabewältigung gab. Allerdings<br />

bin ich mir, da ich zum Zweifeln neige, nicht ganz sicher,<br />

ob meine Tassen nach der Klassifikation des Diagnostic and Statistical<br />

Manual of Mental Disorders (DSM), der amerikanischen<br />

Bibel des Wahnsinns, auch heute noch richtig eingeräumt sind.<br />

Das ist kein Scherz. Man kann sich bei Amerikanern und ihrer<br />

Vorliebe, die Schwelle zum „Irresein“ immer weiter zu senken,<br />

nie ganz sicher sein, auf welcher Seite man sich gerade<br />

wiederfindet. Ihr Notenbankpräsident soll ja laut Trump<br />

selbst „verrückt“ sein. Von einem Tag auf den anderen ist man<br />

also irre, obwohl man sich normal fühlt und Billionen bewegt.<br />

Über den Zustand des scheidenden EZB-Präsidenten ist weniger<br />

bekannt. Er ist Italiener, das Land eben, wo die Zitronen<br />

blühen, aber Kinder keine Bausparverträge zur Taufe kriegen.<br />

Das entschuldigt manches, aber selbst die vorschnellen<br />

Urteile unverdächtiger schwäbischer Hausfrauen wollen seit<br />

Jahren Anzeichen auffälligen Verhaltens bei ihm entdeckt haben.<br />

Aber vermutlich ist „Mutti“ da kompetenter, das zu beurteilen,<br />

als ich. Zu leugnen ist jedenfalls nicht mehr, dass sich<br />

zu meinem Gefühl, bedroht zu sein, nunmehr auch das Gefühl<br />

mischt, dass aus Sicht des Weißen Hauses die halbe Welt außerhalb<br />

des Weißen Hauses gestört ist.<br />

Neulich fuhr mir der Schock einmal mehr in alle Glieder und<br />

ich dachte: Könnt ihr mich nicht endlich in Ruhe lassen und<br />

eure Arbeit ohne mich machen? Dabei fing alles ganz harmlos<br />

an. Ein Interview mit dem FDP-Vorsitzenden, mehr nicht, aber<br />

selbst die Partei, die so viel Wert auf Selbstbestimmung und<br />

Vielfalt setzt, will mich „mitnehmen“. Ich finde, das geht zu<br />

weit. Als sei es damit nicht genug, drohte mir selbst die CSU-<br />

Frau fürs Digitale, die Fränkin Dorothee Bär, an, mich „mitzunehmen“.<br />

Das wäre mein endgültiger Zusammenbruch. Allein<br />

die Vorstellung, dann stets „Fränggisch“ hören zu müssen,<br />

wäre schlimmer, als 24 Stunden mit den Kastelruther Spatzen<br />

KOLUMNE<br />

bombardiert zu werden. Auch mein Geist ist nur begrenzt widerstandsfähig.<br />

Dabei bin ich durchaus tolerant. Würde Scarlett<br />

Johannson mich „mitnehmen“ wollen, würde ich mir die<br />

Sache jedenfalls mal durch den Kopf gehen lassen, auch wenn<br />

das mit einer Reihe von Komplikationen verbunden wäre.<br />

Kürzlich war ich im Urlaub. Dort, wo man als einstige Zukunft<br />

Deutschlands nie hinwollte, weil die Eltern die Gegend vor<br />

Jahrzehnten mit ihrer Präsenz kontaminiert hatten. Als Inkarnation<br />

der Zukunft kann das Ziel ja nie weit genug weg sein.<br />

Ich glaube, das kennt jeder, der mal jung war. Südtirol also,<br />

irgendwo zwischen Meran und Bozen. Die Dinge des täglichen<br />

Bedarfs deckten wir im örtlichen Schwarz-Markt ein. Nein,<br />

nicht auf, sondern im, auch wenn wir uns in Italien befanden.<br />

Wir gratulierten dem Inhaber dieses 25 m 2 großen, vollgepfropften<br />

Supermarktes zu dem wundervollen Naturfreibad<br />

des Ortes. Es war ein Juwel, das Wasser einmalig. Schwarz<br />

lächelte vielsagend. Das Freibad, so der Schwarz-Händler, sei<br />

vom scheidenden Bürgermeister gegen viele Widerstände und<br />

die Mehrheit durchgesetzt worden, die sich vermutlich nicht<br />

abgeholt und mitgenommen gefühlt haben dürften. Jetzt lächelte<br />

ich. Menschen, die nichts mehr erreichen oder wiedergewählt<br />

werden wollen, dachte ich bei mir, sind offensichtlich<br />

in der Lage, zu ihren Überzeugungen zu stehen und Risiken<br />

einzugehen, ohne uns mit Sprechblasen wie „Wir müssen die<br />

Menschen auch mitnehmen“ einzulullen. Die „Nichtmitgenommenen“<br />

und „Schwarmintelligenten“ kommen inzwischen<br />

scharenweise. Ich fühlte mich gleich besser. Es geht auch ohne<br />

mich. Den Rest besorgte der wunderbare Lagreiner Rosé.

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