Das Stadtgespräch Oktober 2019
Das Stadtgespräch Oktober 2019 Mein Rheda-Wiedenbrück
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12 <strong>Das</strong> <strong>Stadtgespräch</strong><br />
Auch in wohlhabenden Gegenden wurde am Hungertuch genagt ...<br />
REDENSARTEN AUF DEN GRUND GEGANGEN<br />
Am Hungertuche nagen<br />
»Der verdient zwar kein Wahnsinnsgeld,<br />
aber am Hungertuch nagt er<br />
auch nicht gerade« – das ist von<br />
der Aussage her eindeutig. Wer<br />
nicht am Hungertuch nagt, hat<br />
Geld, muss also keineswegs Hunger<br />
leiden. Aber was ist überhaupt<br />
ein Hungertuch und warum soll<br />
man daran nagen, wenn man nicht<br />
reich ist? Wir sind der Redensart einmal<br />
auf den Grund gegangen. <strong>Das</strong><br />
Hungertuch ist in kirchlichem Kontext<br />
zu sehen und das schon seit<br />
rund tausend Jahren. Als Hungertuch<br />
wurde nämlich die Stoffbahn<br />
bezeichnet, mit der Geistliche ab<br />
dem 11. Jahrhundert zur Fastenzeit<br />
den Altar mit der Darstellung des<br />
gekreuzigten Jesu vor den Blicken<br />
der Gemeinde abschirmten. Erst zu<br />
Ostern, also 40 Tage später, wurde<br />
das Hungertuch wieder abgenommen<br />
und die Gläubigen konnten der<br />
Messe wieder optisch folgen, die bis<br />
dahin hinter dem Tuch stattgefunden<br />
hatte. Bis ins 18. Jahrhundert<br />
war die Verwendung des Tuchs,<br />
noch weit verbreitet, allerdings<br />
nur in katholischen Gegenden,<br />
denn Luther hielt die Verhüllung<br />
für »Gaukelwerk«. Während die<br />
Fastentücher, wie die Hungertücher<br />
offiziell hießen, zunächst einfach<br />
nur einfarbige Leinentücher waren,<br />
begann man schon im 12. Jahrhundert<br />
damit, sie zu verzieren. Dazu<br />
wurden meist biblische Szenen auf<br />
die Bahnen genäht. <strong>Das</strong> nannte<br />
man dann am Hungertuch nähen<br />
und die Sprachwissenschaftler des<br />
Duden Herkunftswörterbuchs vermuten,<br />
dass schon in dieser Zeit aus<br />
dem Nähen ein Nagen wurde, denn<br />
schließlich ging es ja um Buße und<br />
... selbst hier.<br />
Verzicht, vor allem nahrungstechnischen<br />
Verzicht. Es entstanden beim<br />
Nähen wahre Kunstwerke wie das<br />
Fastentuch aus dem sächsischen<br />
Zittau von 1472, das nicht weniger<br />
als 90 Szenen aus der Bibel in wundervollen<br />
Farben wiedergibt. Doch<br />
auch ganz in unserer Nähe gibt es<br />
ein berühmtes Hungertuch, denn<br />
das Fastentuch aus der Marienfelder<br />
Klosterkirche ist mit drei Metern<br />
Höhe und fast sieben Metern Länge<br />
ebenfalls ein beeindruckendes<br />
Beispiel sakraler Kunst. Die Entstehungszeit<br />
wird auf die zweite Hälfte<br />
des 18. Jahrhunderts geschätzt, fällt<br />
also in die aktive Zeit des Zisterzienserklosters.<br />
<strong>Das</strong> größte erhaltene<br />
Fastentuch kommt aus Freiburg<br />
und misst zehn mal zwölf Meter bei<br />
einem Gewicht von einer Tonne.<br />
Ein weiteres deutsches Wort für<br />
ein Fastentuch, lateinisch velum<br />
quadragesimale, also Tuch der 40<br />
Tage, ist übrigens Schmachtlappen.<br />
Damit war, im Gegensatz zur<br />
heutigen Bedeutung, nicht ein<br />
besonders schmächtiger Mensch<br />
gemeint, sondern das Hungertuch.<br />
Dieses Wort wurde allerdings nur<br />
im norddeutschen Raum benutzt<br />
und ist schon im Mittelalter durch<br />
das mittelhochdeutsche smaht<br />
belegt. Bei uns wird der Ausdruck<br />
»Mann, habe ich Schmacht« ja noch<br />
heute verstanden im Sinne von besonders<br />
viel Hunger haben. Und<br />
da ich schon mal bei Hunger war,<br />
habe ich hinter dem Hungerhaken<br />
hergeforscht. Aber da war die Ausbeute<br />
eher enttäuschend, denn der<br />
Ausdruck geht nach verschiedenen<br />
Quellen nur bis ins Jahr 1965 zurück.<br />
Zu dieser Zeit wurden die Models<br />
dünn, bekannter Maßen so dünn,<br />
dass manch ein Knochen wie ein<br />
Haken unter der Haut zu sehen war,<br />
ein Hungerhaken. Der hatte dann<br />
zwar auch etwas mit Fasten zu tun,<br />
allerdings nichts mit Religion…