Campuls - Konstanzer Studi-Magazin WiSe19/20 #2
Wintersemester 2019/20 Ausgabe 02 Radio Free Europe Ein Kampf gegen die Zensur HSG Arbeiterkind Von den Ersten in ihren Familien, die den Sprung an die Hochschule wagen Der "Mädelstreff" in Konstanz Ein Integrationsprojekt des Malteser Hilfsdienstes
Wintersemester 2019/20
Ausgabe 02
Radio Free Europe
Ein Kampf gegen die Zensur
HSG Arbeiterkind
Von den Ersten in ihren Familien, die den Sprung an die Hochschule wagen
Der "Mädelstreff" in Konstanz
Ein Integrationsprojekt des Malteser Hilfsdienstes
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POLITIK
Die Gästebeauftragte, Frau Konovalova –
eine junge Frau aus Russland – führt die Gruppe durch
den Komplex. Es handelt sich um das Headquarter
des Medienunternehmens, das Radio-, Fernseh- und Social-
Media-Nachrichten produziert. Das klingt erst einmal
nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich jedoch ist die Mission:
Der Kampf gegen Zensur. Im Eingangsbereich hängt
eine Weltkarte. Die 22 Länder, in denen Radio Free Europe
in 26 Sprachen berichtet, sind orange eingefärbt.
Diese Länder haben Eines gemeinsam: In ihnen hat die
Regierung die Pressefreiheit eingeschränkt oder verboten.
Die Bürger_innen haben, wenn überhaupt, nur schwer
Zugang zu ungefilterten Nachrichten. Das Internet ist stark
zensiert, die Nutzung von Social Media oft tabu.
Politische Diskussionen werden in der Regel einseitig geführt;
Wer kritische Debatten beginnt oder private Meinungen äußert,
kann hart bestraft werden. Dieses Risiko nehmen über
600 Vollzeit-Journalist_innen und 750 Freiberufler_innen
von Radio Free Europe auf sich. Sogenannte `Fixer`,
Journalist_innen, die in einem der Länder leben, berichten
als Expert_innen aus erster Hand von den Geschehnissen
in die Zentrale. Von Prag aus werden die Informationen dann
veröffentlicht. Die Menschen in den betroffenen Ländern
können die Nachrichten dann mit `VPNs` abrufen.
Das heißt, dass sie mithilfe eines virtuellen privaten
Kommunikationsnetzwerks vor ihrer Regierung
geschützt das Internet nutzen können.
Gang durch einige Redaktionsräume: Flaggen,
Farben und Statuen geben Hinweise auf das jeweilige Land,
über das und aus dem berichtet wird. Am Ende des Ganges
befindet sich ein Konferenzraum, in dem Platz genommen
werden darf. Ein Mann betritt den Raum. Es ist Farruh Yusupov,
der Leiter des Redaktionsteams, das über Turkmenistan
berichtet. Die Geschichte seiner Karriere ist ein wahrer Krimi:
Zuerst berichtete der Journalist über Uzbekistan und deckte
während seiner Ermittlungen einige Machenschaften wie
die finanzielle Korruption des uzbekischen Präsidenten Islam
Karimov und dessen Familie auf. Was er jetzt erzählt,
macht sprachlos:
„Mein Bruder ist erst im Februar nach drei Jahren Haft aus dem
Gefängnis in Uzbekistan freigelassen worden. Er wurde eingesperrt,
damit ich aufhöre, über diese Missstände zu berichten.
Mein Bruder sagte mir, ich solle auf keinen Fall nachgeben.
Also habe ich weitergemacht.“ Leider passiere es immer
wieder, dass Menschen, die für Radio Free Europe arbeiten,
beobachtet, befragt, verhaftet, eingesperrt oder im schlimmsten
Fall sogar getötet werden. Das Unternehmen hat auf
seiner Website diesen Mitarbeiter_innen eine ganze Rubrik
gewidmet und veröffentlicht immer wieder Updates zu
deren Situation. Auch in Turkmenistan müssen die Journalist_innen
vorsichtig sein: „Erst vor kurzem wurde ein Kollege vor Ort von
der Polizei verhört. Er hatte seine Kamera dabei, aber zum
Glück konnte er die Beamten davon überzeugen, ein Tourist
zu sein, bevor sie diese beschlagnahmen konnten“, erzählt
Yusupov. Warum es so wichtig ist, über Turkmenistan zu berichten,
erklärt er im Folgenden. Der Präsident des Landes
Gurbanguly Berdimuhamedow regiert seit 2006 und gewann
die letzte Wahl mit einer Mehrheit von 98 Prozent.
„Die Wahl war manipuliert und das Land hat eine hochkorrupte
Regierung“, sagt Yusupov.
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Das Parlament genehmigte sogar eine Verfassungsänderung,
die dem Präsidenten erlaubt, bis zu seinem Tod zu regieren.
Er zeigt ein Propagandavideo, das so verrückt ist, dass
zunächst Gelächter entsteht: Das Video ist mit kitschiger traditioneller
Musik unterlegt und stellt den Präsidenten mit
allerlei bunten Effekten vor: Es zeigt ihn unter anderem beim
Basketballkörbe werfen, Tischtennis spielen und Singen.
Weitere Videoclips zeigen, dass er außerdem angeblich – so
ist es auch in den Untertiteln bezeichnet – ein Rennfahrer,
Autodesigner, DJ, Stuntfahrer, Autor und Pferdeexperte ist. Als
Berdimuhamedow im Sommer für einen Monat von der
Bildfläche verschwand und Gerüchte über seinen Tod die Runde
machten, reagierte die Regierung mit einem Video, das
35 Minuten lang zeigt, dass der Präsident nur im Urlaub war
und quicklebendig ist. Die Highlights dieses absurden
Beweises zeigen ihn rappend mit seinem Enkel und mit einem
Rennauto um einen glühenden Krater fahrend. Immer
wieder sieht man Regierungsmitglieder in Reih und Glied
aufgestellt diese Tätigkeiten beklatschen. Yusupov nennt ein
weiteres Beispiel der maßlosen Selbstdarstellung:
„Weil Weiß Berdimuhamedows Lieblingsfarbe ist, ließ er alle
andersfarbigen Autos in der Hauptstadt verbieten.“
Hinter der lächerlichen und fast schon amüsant anmutenden
Fassade steckt jedoch eine ernste, traurige Wahrheit.
Freedom House, eine internationale Organisation zur
Förderung liberaler Demokratien, gibt Turkmenistan null von
vierzig Punkten für politische Rechte und Bürgerrechte.
Auf Homosexualität stehen bis zu zwei Jahre Haft. Die Wirtschaft
ist miserabel; Zucker, Mehl, Speiseöl und Eier sind kaum zu
finden. Jede_r Bürger_in hat ein Limit von zwei Brotscheiben
pro Tag, die Geldautomaten sind schon wieder leer bevor
die Mehrheit die Chance hatten, Geld abzuheben. Wenn es
denn Geld abzuheben gibt: Über 60 Prozent der Turkmen_innen
sind arbeitslos. 2018 wurden die seit 1990 etablierten
Fördergelder für Gas, Elektrizität, Wasser und Salz gestrichen.
Aufgrund dieser Umstände ist bereits ein Drittel der Bevölkerung
in umliegende Länder ausgereist; die Ausreise wurde
inzwischen jedoch auch größtenteils verboten. Als Tourist in den
Staat zu kommen, ist ebenfalls fast unmöglich. Derweil ertönt
in einem weiteren Video das Parlament in einem gruseligen
Chor „Ehre dem Beschützer und dem Helden“. Aussicht auf
Änderung gibt es kaum: Turkmenistan hält sich aus der
Weltpolitik heraus, die Missstände bleiben weitgehend unbemerkt.
Tatsächlich wird in letzter Zeit über Turkmenistan berichtet:
Die amerikanischen Comedians John Oliver und Trevor Noah
machten sich über Berdimuhamedow lustig, kein Wort
aber fiel über die Probleme im Land. Yusupov berichtet:
„Wenn der Präsident im Fernsehen kommt, läuft kein anderes
Programm. Und natürlich sind die Turkmenen nicht auf
den Kopf gefallen. Ich behaupte, kaum jemand schenkt dem
Personenkult ihres Präsidenten Glauben. Aber machtlos sind
sie trotzdem.“ Yusupov steht ständig in Kontakt mit seinen
Kolleg_innen vor Ort. „Die Sicherheit unserer Journalisten
steht immer an erster Stelle. Der Wahrheitsgehalt aller
Informationen wird streng überprüft und wir veröffentlichen
diese nur, wenn niemand dadurch zu Schaden kommt.
Tatsächlich können wir von allen Nachrichten nur einen kleinen
Teil veröffentlichen, oft ist das Risiko zu groß, Journalisten
oder Bürger zu belasten. Erst kürzlich hat ein Kollege
eine lange Menschenschlange gefilmt, die auf Mehl wartete.