ME2BE CAMPUS 2019/02
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Ein bisschen früh.
Das finde ich auch. Insofern dachte ich: Ich weiß, was ich nicht will.
Ich will nicht mehr im Handel arbeiten, das habe bis dahin die Hälfte
meines Lebens gemacht – von 14 bis 28. Im Handel hatte ich alles
gegeben, was man einbringen kann, und nun gab es eine Grenze. Mir
war klar, dass alles so bleiben würde. Also habe ich für mich ein Ziel
formuliert und in eine Kladde geschrieben: Ich möchte in einem Industrieunternehmen
arbeiten, das mir mehr Chancen bietet, mich hochzuarbeiten
und Bildungsmöglichkeiten innerhalb des Unternehmens zu
nutzen. Der zweite Punkt war die Altersabsicherung. Ich wollte nie
wieder arm sein wie als Kind.
Ihr Mentor war Klaus-Peter Nebel. Was hat er in Ihnen
gesehen, als Sie ins Unternehmen gekommen sind?
Nach meinem Konkurs absolvierte ich ein Volontariat bei Teldec Schallplatten
in Eimsbüttel. So lernte ich den PR-Bereich kennen und stellte
fest, dass mir die Arbeit liegt. Mir fehlten für einen Einstieg bei Beiersdorf
allerdings alle dafür erforderlichen formalen Voraussetzungen.
Daher bewarb ich mich 1984 im Einkauf; in einer Mittagspause entdeckte
ich etwa zwei Jahre später zufällig die Ausschreibung für die
Pressestelle am schwarzen Brett. Ich rief, ohne mich zu bewerben,
einfach Herrn Nebel an und erzählte ihm, warum ich diesen Job haben
möchte. Wir trafen uns in der Kantine und nach dem Essen sagte er:
„Stellen Sie einen Versetzungsantrag, Sie haben den Job.“
Hatten Sie sich vorher überhaupt Chancen ausgerechnet?
Ich wollte diesen Job, deswegen bin ich nicht den üblichen Weg
gegangen.
Mussten Sie diesen Weg gehen, weil Sie aufgrund fehlender
Abschlüsse sonst chancenlos gewesen wären?
Ja. Wer sich meinen Lebenslauf angeguckt hätte, hätte mich nicht
eingeladen.
Offenbar besitzen Sie Talent für unkonventionelle Wege.
Ich habe nach dem Konkurs sehr viele Bewerbungen geschrieben und
meistens nicht einmal eine Antwort erhalten. Also musste ich nach
anderen Möglichkeiten suchen.
Empfinden Sie Stolz oder Genugtuung, wenn Sie Ihre
Karriere betrachten?
Genugtuung kenne ich nicht in der Form. Selbst das mit dem Stolz hat
ganz schön lange gedauert. Während der Arbeit an meinem Buch wurde
mir jedoch bewusst, dass es nach fast fünfzig Berufsjahren doch eine
ganz beachtliche Lebensleistung ist.
Neben Ihrer Karriere bei Beiersdorf sind Sie seit
vielen Jahren Dozentin an der Hochschule für Musik
und Theater.
Meine Professur erhielt ich Anfang 2000, war aber davor schon seit 1992
als Gastdozentin tätig. Mittlerweile besteht der Studiengang Kulturund
Medienmanagement seit 31 Jahren – eine Initiative von Professor
Dr. Hermann Rauhe. Insgesamt 29 Studiengänge habe ich begleitet.
Inwiefern haben Sie Ihre Studierenden geprägt?
Erst kürzlich schrieb mir Lisa, eine Studentin aus dem 18. Jahrgang,
die jetzt für eine Filmproduktionsgesellschaft arbeitet. Sie habe
mich in der Redaktion für eine Portraitreihe vorgeschlagen, die Menschen
mit ungewöhnlichen Lebensläufen vorstellt. Sie erinnerte sich
an mich. Jetzt freue ich mich darauf, sie wiederzusehen. Das sind
Beziehungen, die sich fortsetzen. Ehemalige rufen mich an und tauschen
sich mit mir aus. Das ist ein wunderbares Netzwerk, auf das
ich zurückgreifen darf. Für mich ist das eine zweite Familie, meine
‚intellektuelle Familie‘.
Hat es Sie in Ihrer ‚intellektuellen Familie‘ gestört,
dass Sie selbst keine akademische Ausbildung besitzen?
Ja, besonders als ich Professorin wurde. Seit diesem Tag fragte man
mich regelmäßig: Was haben Sie studiert? Mit dem Zusatz „Professorin“
auf der Visitenkarte fühlte ich mich anfangs unwohl. Diese Frage hat
mich so gequält, dass ich den Titel zuerst weglassen wollte. Mein Mentor
Herr Nebel überzeugte mich schließlich. Er sagte: „Den Titel müssen
Sie jetzt mit Stolz tragen.“
Aber ist es dann nicht eher ein gesellschaftliches
Problem, dass Zertifikate letztendlich mehr zählen als
Wissen bzw. Bildung?
So ist es. Bildung umfasst viel mehr als Wissen. Bildung hat auch mit
dem Herzen zu tun, mit Lebenserfahrung und einer Wertorientierung. Auf
der Frankfurter Buchmesse habe ich mich dann endlich als Professorin
geoutet. Viele Menschen reagierten sehr wohlwollend. Seither fällt es mir
wesentlich leichter, dem Ratschlag von Herrn Nebel zu folgen.
Mit welchen Herausforderungen sind junge Menschen
wie Ihre Studierenden heute konfrontiert?
Ich glaube, die größte Herausforderung ist, dass wir die Arbeit gleichmäßiger
verteilen müssen. Die ehemals kontroversen Themen Frauen
in Teilzeit oder der Mann als Alleinverdiener gibt es eigentlich nicht
mehr. Nur in der Gesellschaft hat sich diese Einsicht noch nicht so ganz
durchgesetzt. Insofern müssen die jungen Leute heute überlegen, wie
sie Einkommen und Familienleben in Einklang bringen. Auch die Zeit
für Kinder und pflegebedürftige Angehörige spielt eine immer größere
Rolle, aber auch lebenslanges Lernen sowie die Möglichkeiten der Digitalisierung.
Sind die Gesellschaft und die Wirtschaft schon so
weit?
Wir sind alle auf dem Weg.
Stichwort: Frauenquote. Die gibt es jetzt seit vier
Jahren für Aufsichtsräte. Noch 2015 hat ein Aktionär
auf offener Bühne die Führungskompetenz von Frauen
infrage gestellt – und Applaus bekommen. Nehmen
Sie so etwas persönlich?
Ich war schockiert und wie gelähmt. Ich dachte, das kann nicht die
Realität im Jahr 2015 sein, so absurd war die Situation. Völlig unwirklich.
Dennoch hatte ich die klischeehafte Vorstellung, dass jetzt
jemand vom Aufsichtsrat aufsteht und das gerade rückt.
Ein Mann?
Ja, ein Mann, ich hatte das vom Aufsichtsratsvorsitzenden erwartet.
Der hat es aber nicht getan. Im Nachhinein haben wir darüber gesprochen
und er sagte, er habe die Bühne für diesen Unsinn nicht erweitern
wollen. Damit lag er taktisch richtig.
Wie wichtig ist die Frauenquote?
Text Lutz Timm
Fotos Maxim Schulz
Man kann die Frauenquote ganz sachlich darstellen: Ich bin dafür und
dagegen. Die Quote ist eine Krücke. Und Krücken helfen manchmal,
auf dem Weg ein Stück weiter zu kommen. Irgendwann kann man sie
wieder weglegen. In Deutschland sind etwa 28 Prozent der Positionen
in Aufsichtsräten mit Frauen besetzt, das war vorher anders. In den
Vorständen gibt es nur die freiwillige Quote, da tut sich so gut wie
gar nichts. Für mich der Beleg, dass eine Quote als Übergangslösung
funktioniert.
Wie lange dauert es noch, bis derartige gesetzliche
Regelungen überflüssig sind?
Angeblich noch 30 Jahre. Die Generation der Frauen, die in den 70ern
für Frauenrechte kämpfte, hat den Weg für uns alle freigemacht. Heute
gehen mehr Frauen von einer Universität ab als Männer, aber sie
sind noch nicht in gleichem Maß bis in die Führungspositionen vorgedrungen.
Frauen und Männer müssen miteinander vereinbaren, wie
sie ihr Leben gestalten wollen. Dadurch wird sich der Prozess gewiss
beschleunigen. Wenn die Männer sich trauen und erkennen würden:
Alleinverdiener zu sein war und ist keine attraktive Rolle und Zeit für
Kinder oder Hobbys zu haben, wäre auch schön, dann kämen wir voran.
Frau Professorin Rousseau, vielen Dank für das
Gespräch.
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