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BIBER 03_20

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„Die Leiden des jungen Todor“

Von Todor Ovtcharov

Studenten

I

on und Radu sind groß wie zwei Nilpferde.

Sie arbeiten schwarz auf Baustellen und ich

frage mich immer, wie die Baugerüste ihr

Gewicht aushalten. Sie sehen aus wie Zwillinge,

obwohl der eine vier Jahre älter ist. Beide haben

angeblich jeweils fünf Kinder. „Und sie sehen

genau so aus wie wir!!“. Die zwei Brüder sind

stolz. Ich stelle mir zehn kleine Ions und Radus

vor und muss lachen.

Seit zehn Jahren kommen die beiden mit dem

ältesten VW-Bus, den ihr euch vorstellen könnt,

nach Wien. Dieser Bus war schon alt, als die

Hippies sich auf dem Weg nach Indien mit alten

VW-Bussen machten. Ion und Radu könnten ruhig

diesen Bus einem Museum anbieten. Sie kommen

aber nicht auf die Idee. Sie kommen nach Wien

und lassen den Bus dort, wo man keinen Parkschein

kaufen muss. Er hat nur zwei Vordersitze,

alles andere ist leer. Jeden Tag kommen Ion und

Radu zu ihrem Bus und er wird immer voller: ein

weggeworfener Tisch, den sie sorgfältig auseinandernehmen,

eine Nähmaschine aus der Mitte

des vergangenen Jahrhunderts, ein gebrochener

Spiegel, eine Schreibmaschine mit fehlenden

Tasten, eine ganze Ausgabe des „Neckermann“

Katalogs aus den 1980-er, sogar eine gebrauchte

Kloschüssel. All das findet seinen Platz im Bus,

der immer mehr nach unten sinkt. Die beiden

ordnen alles sehr genau, damit kein Zentimeter

leer bleibt. Im Bus wird es so dicht wie auf einer

Supernova. Ion und Radu können nicht lesen und

schreiben. Weder auf Deutsch noch auf ihrer

Muttersprache. Ich wundere mich, wie sie es

geschafft haben, den Führerschein zu machen,

es ist aber eine Tatsache, dass sie bis jetzt noch

nie Probleme mit der Polizei hatten. Ich fragte

sie mal, warum sie dieses ganze weggeworfene

Zeug sammeln. Sie antworteten mit einem listigen

Lächeln, insofern ein Nilpferd listig lächeln kann,

dass sie „das Leben in Wien studieren“. Daraufhin

nannte ich sie „ewige Studenten“, was ihnen sehr

gefiel.

Irgendwann ist der Bus so voll, dass sein

Hinterteil nach unten neigt und sein Vorderteil so

hoch wie das Vorderteil eines Motorboots. Man

kann nichts mehr reintun, da er bis oben voll ist.

In so einem Moment fragte mich Ion, ob ich ihm

vielleicht nicht eine Zahnbürste schenken kann.

Ich gab ihm eine. Ich glaube, genau sie fehlte, um

den Bus ganz voll zu machen. Danach setzen sich

Ion und Radu in den Bus und von ihrem Gewicht

steht er wieder gerade. Sie schnallen sich an. Von

draußen sehen sie aus wie ein Bild aus einem

Kinderbuch, wo zwei Nilpferde einen Bus fahren.

Sie fahren zurück zu ihrem Dorf in Rumänien.

Am Weg überlegen sie sich, was sie mit der alten

Schreibmaschine machen und wo die gebrauchte

Kloschüssel in Verwendung kommt. Bis sie

wieder nach Wien kommen und ihr Bus wieder

leer ist. Das letzte Mal kamen sie mit noch einem

Mann – einer Kopie von ihnen, der aber doch

kein Verwandter war. Anscheinend sehen alle in

diesem Dorf ähnlich aus. „Florentin!“, stellte er

sich vor. Ion und Radu lächelten mich an – das ist

ein weiterer Student, den wir bringen! Er wird das

Leben in Wien studieren!“. ●

echt.

großartig.

Dancing Stars | die neue Stael

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