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Dosse

Springer ist nicht Springer

Geschichte (wesentlich): Aufrechnungen,

Abrechnungen. Erbfeind erledigt in

kürzester Frist.

Situation (sentimental): Zwei Hälften,

Wachen, Türme. (Sachlich): Einer ist taub

Und immer ist Eines des Anderen Schuld.

Geschichte jüngeren Datums: Unangenehm.

Aber: Ich möchte noch mal zwanzig sein.

Widerspruch (großzügig): Gutmachen

Nicht Wieder gut zu Machendes: Einfache

Rechnung: Bezahlt ist bezahlt. Schwere

Träume: selten, auch die pharmazeutische

Industrie gehörte zum Deutschen Wunder -:

Tiefer, fester Schlaf ist garantiert.

Die Beherrschten üben Verblödung.

Die beiden letztgenannten Gedichte von 1962 belegen zweierlei: Zum einen war

Ulf Miehe bereits vor seinen Berliner Jahren politisiert und fähig, starke politische,

gesellschaftskritische Gedichte zu schreiben. Zum anderen ist diese frühe Lyrik

anders als die oben erwähnten direkten, alltagsnahen, einfach gehaltenen Gedichte,

die Miehe Ende der 1960er Jahre schrieb. Sie ist rhythmisierter, wertender, komplexer

und reflexiver in der Benennung von Phänomenen und Widersprüchen.

Eine stilistisch wie inhaltlich gänzlich andere Tonart wiederum schlägt

Ulf Miehe in Gedichten an, die in und um seinen Geburtsort Wusterhausen an

der Dosse lokalisiert sind. Nur wenige davon wurden bislang veröffentlicht. Einige

stammen aus seinem Nachlass und erschienen erst nach seinem Tod, etwa

zur Ulf-Miehe-Lesung und Gedenktafel-Enthüllung 2015 im Alten Laden des

Herbst’schen Hauses in Wusterhausen. Hier wurde er 1940 geboren. 1945 geht er

mit seiner Mutter nach Westfalen, besucht seine Großeltern im Ort seiner frühen

Kindheit aber weiterhin bis in die 1960er Jahre hinein. Miehes Vater lebte nach

dem 2. Weltkrieg ebenfalls in Westdeutschland und starb 1956.

In den 16 mir vorliegenden Gedichten, die Miehe in den späten 1950er und 60er

Jahren schrieb, geht es wiederholt um das Motiv des abwesenden Vaters und um

die drängende Suche und Frage nach dessen und damit auch der eigenen Herkunft

und Verortung an genau diesem Ort.

Dosse, sprich mit mir, Fluss, sprich nur

vom Vater, hier hat er gelebt. Er spürte

dein Wasser immer, tief in den Jahren versunken,

ich weiß es, Dosse, ich weiß. Red

mit mir, Fluss, sag, wie ist er gewesen, er

spürte lang noch den Sand deiner Ufer zwischen

den Zähnen, knirschend sprach er, Wasser im

Mund, Sand in den Zähnen, die Augen ins Dunkle

gerichtet, weit: Dosse, mein Fluss, Sohn komm

dort hin, tauch deine Hände ins Wasser. Fluss,

Fluss, rede. Sag, wie ist er gewesen, der Mann.

Ich frage und frage.

Der konkret benannte Fluss, zugleich Metapher für das fließende Leben, ist

Vertrauter und Mitwisser. Als solcher wird er angerufen, um der Vergangenheit

des Vaters auf den Grund zu gehen, die der Fragesteller nicht kennt.

Miehe findet einprägsame Bilder und erzeugt in Kombination mit einem

prägnanten Sprachrhythmus eine beeindruckende Dringlichkeit.

Auch das Gedicht „KLEMPOW SEE ~ “ lässt sich als Teil einer solchen

dringlichen Suche lesen. Darin wird eine Vaterfigur zum König über Flora,

Fauna und Tierwelt (v)erklärt. Der Text liest sich zudem als Ausdruck starker

Sehnsucht des jungen Autors nach einer ursprünglichen Parallelwelt im natürlichen

Gleichgewicht, deren Elemente quasi paradiesisch zusammenspielen:

KLEMPOW SEE ~

Sag ich im Schilf

deinen Namen,

löschen die Fischer

die Feuer am Ufer,

wo sie lagerten, nachts.

Ihre Fackeln werfen

Schatten im Wald.

Ihr Schritt knirscht

in sandigen Hängen.

Es ist Gesang in der Luft.

Hab einen Kranz

aus Schilf für dich

wenn du kommst

zum See, in der Nacht.

Leg ihn ins Haar dir,

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