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Die Zeit in W und anderswo
Die erste von 13 Erzählungen aus dem gleichnamigen
Band, erschienen im Peter Hammer Verlag,
Wuppertal 1968
I
Die ersten fünf Jahre seines Lebens hatte er in W gelebt,
einer Kleinstadt, die von Fremden eher für ein
Dorf gehalten wurde, obwohl der lebhafte Autoverkehr
— eine wichtige Verbindungsstraße zwischen
Hamburg und Berlin führte durch den Ort — W etwas
Hektisches, Städtisches verlieh; die Einwohner nahmen
teil am lärmenden Treiben der Welt, hörten Motorengeräusch,
Autotüren klappten, die Fahrer machten eine
Pause, zehn Minuten, um einen Kaffee zu trinken. Er
war fünf Jahre alt, als seine Mutter mit ihm die Stadt
verließ; er war ein kleiner Junge. Sein widerspenstiges
Haar wurde von der Mutter mit einer Haarklemme festgesteckt.
Als er merkte, daß sich seine Spielgefährten
darüber lustig machten, ihn Mädchen nannten, riß er
die Haarklemme heraus und warf sie weg. Später, wenn
er an seine Kindheit dachte, erinnerte er sich, wie ihn
damals die Angst befallen hatte: es war Sommer, Gerüche
aus dem Garten drangen durch das geöffnete Fenster
ins Zimmer, er lag unter der Bettdecke im Dunkeln,
schwitzend, schweißig, in Bächen lief ihm das salzige
Wasser über das Gesicht, den Hals hinab; er keuchte,
schrie, holte keuchend, rasselnd Luft zwischen den
Schreien — schon damals hatte er Asthma, sagte die
Mutter —, er schrie, bis jemand kam und ratlos vor seinem
Bett stand: aber aber, was ist denn, mein Gott, wo
sind denn die Tropfen. Er meinte, sich noch genau an
den Augenblick zu erinnern, in dem ihm die Angst bewußt
geworden war, sah sich noch manchmal, in Träumen,
dieses unheimliche Männergesicht hatte auf ihn
hinabgestarrt, ihn bis in die Träume verfolgt, noch heute
träumte er manchmal davon, von diesem finsteren, feisten
Männergesicht, von dem er später erfahren hatte,
daß es das Bildnis des Reformators Martin Luther gewesen
war. Dieses Bild war damals ebenso bekannt wie
das, das den Schnurrbärtigen zeigte, der nicht weniger
finster blickte. Zu seinen ersten Erinnerungen gehörte
der Tag, an dem seine Mutter den Entschluß faßte, zu
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fliehen; der Himmel war dunkel, Regen kam auf, bei solchem
Wetter konnte man dort den nahen See riechen;
seine Erinnerung war lautlos, er erinnerte sich nicht an
Gespräche, Geräusche, er sah sich wie im Traum mit
der Mutter quer über die Straße laufen, er konnte nicht
Schritt halten mit ihr, er trug eine braune Trainingshose
von der HJ, die ihm zu weit war; die Mutter lief schnell,
der alte Traum, Alptraum, die Mutter lief zu ihren Eltern
mit ihm, diese Träume kamen immer wieder, die Träume,
in denen man läuft und nicht von der Stelle kommt, sie
stürzten ins Haus der Großeltern, in die Küche, der alte
Koksofen qualmte, die Mutter redete hastig, sprudelnd:
sie haben den Laden enteignet, die Wohnung, Kommunisten,
sagte sie, dabei hatten die Nazis ihren Mann aus
der SA hinausgeworfen, wie kommen die denn dazu,
jetzt; das Fahrrad hatten sie ihr auch noch weggenommen,
waren in den Laden gekommen, höhnisch, langsam,
jede Minute auskostend, ganz die neuen Herren:
bißchen dunkel hier, finden Sie nicht auch, müßte noch
ein Fenster rein. Sie hatte stumm dabeigestanden. Später,
bei dem Wort Kommunisten sollte sich ihr Gesicht angewidert
verziehen, Kommunisten, das waren die, die von
anderen nahmen, was sie nicht selbst erworben hatten.
II
Ein Jahr später wohnten Vater, Mutter und Sohn in einem
Dorf in Westfalen. Der Vater arbeitete bei der englischen
Besatzungsmacht und besuchte seine Familie nur
zum Wochenende. In den Schulferien fuhr die Mutter
mit ihm nach W, um die Großeltern zu besuchen. Sie benutzten
meistens den Nachtzug, standen auf dem Flur,
die Züge waren fast immer überfüllt. Er mochte diese
Zugfahrten nicht, sie dauerten ihm zu lange, die Gerüche
im überfüllten Zug stießen ihn ab, die Mutter zwang
ihn zum Essen, sie hatte belegte Brote mitgenommen,
hartgekochte Eier, Äpfel — sie wohnten auf einem Bauernhof
und bekamen genug zu essen —, aber er konnte
nicht essen, der Magen war ihm zugeschnürt, schon
der Gedanke an Essen verursachte Brechreiz; die Blicke
der Mitreisenden quälten ihn, sie blickten stumpf in die
Gegend, die Frauen trugen dicke, wollene Kopftücher,
Wollstrümpfe und alte Wehrmachtsmäntel, die sie eingefärbt
hatten. Männer reisten selten in dieser Zeit, immer
nur Frauen mit Kindern und alte Frauen. Er konnte
ihre Blicke nicht ertragen. Er durfte sich auf einen Koffer