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sich im Erdgeschoß eines Altbauhauses neben einem Sex-&-Action-Kino und einer

Reihe von Stehbierkneipen und Imbißbuden. Mit den Jahren werden die Kneipen

immer weniger hier; die alte Bierschwemme ist abgerissen, und wahrscheinlich wird

an der freigelegten Stelle ein Bürohochhaus gebaut. Die Szene der Huren und Zuhälter,

der großen und kleinen Ganoven verschwindet. Ein paar lizensierte, offizielle

Neppläden, ähnlich wie in der Augsburger Straße, werden für die Touristen übrig

bleiben.“ (18)

Eine Beschreibung mit Genauigkeit und Treffsicherheit, die zeitlos ist, und genauso

heute als Diagnose des Wandels noch steht, nur, das heute Latte-Macchiato-Läden

und Startups in Neukölln die alt eingesessenen Kiezkneipen und Ramschläden verdrängen...

Auch, wenn Gorski und Benjamin jetzt mit Kleinganoven in Kneipen abhängen

und Hasch rauchen, kommen sie nicht weiter mit ihrem Drehbuch.

– „Wir müssen uns mit Spartas Wirklichkeit einlassen, wenn unsere Filme nicht nur

immer schöner und leerer werden sollen“, sagt Benjamin nochmal. Aber: Wo fängt

man da an?

Schließlich kommen sie auf den Trichter: Sie müssen ganz am Anfang beginnen,

wenn sie die Geschichte authentisch erzählen wollen: Zunächst müssten sich ihre

Protagonisten also Waffen besorgen.

– „Das hab ich auch schon hundertmal gesehen im Kino. Kriegt man Waffen nicht

praktisch überall? Was ist der Witz daran?“, wirft Benjamin ein.

– „Kino zählt nicht. Der Witz ist, daß du zum Beispiel nicht weißt, wo man Waffen

herkriegt. Dir fallen dazu vielleicht Kinoszenen ein, aber du weißt es nicht wirklich.“,

sagt Gorski.

– „Du meinst also um schreiben zu können wie die beiden Typen sich Waffen besorgen...“

– „... müssen wir es selber tun.“ (19)

[Pistolenkauf-Szene in Kreuzberg: Seiten 100–107, ab Kapitelanfang bis: „‘Hände

hoch‘, sagte Blacky.“]

Sparta verfolgt Gorski und Benjamin auf Schritt und Tritt, ständig taucht er aus

dem Nichts auf, vielleicht aus echter Sorge, dass sein alter Freund in etwas geraten

könnte, was er nicht kontrollieren kann, vielleicht aus Sorge, dass die beiden den

Coup durchziehen, ohne ihn zu beteiligen. Bei einem Lokaltermin am Flughafen Tegel

zersticht Gorski als Test die Reifen eines der Begleitwagen der Army, so dass nur

noch ein Jeep den Transport begleitet. Die beiden Filmemacher verfolgen den Transport,

und als beim Überqueren eines Bahnübergangs zufällig die Schranke zwischen

Transport- und Begleitfahrzeug runtergeht und ein Güterzug vorbeidonnert, kommt

ihnen die entscheidende Idee zur Trennung des Transports per Bahnschranke.

Bei ihren Recherchen werden, wie auch beim Pistolenkauf, die Parallelen zwischen

Gangsterfilm und den Bedingungen des Filmemachens evident: Der voyeuristische

Blick der Filmemacher, die authentische Drehborte und das richtige Timing suchen,

entspricht ziemlich genau dem Auge, mit dem Gangster ihre zukünftigen Tatorte

auskundschaften. Der Künstler als Gangster. Der Gangster als Künstler.

Filmemachen, das hieß für Miehe in der Anfangszeit vor allem eine ausgesprochen

produktive Arbeitsbeziehung mit Volker Vogeler, aka Gorski. Die beiden teilten

eine Liebe zum Genre-Film, und so nahmen sie sich in ihren Produktionen ein Genre

nach dem anderen vor, allerdings nicht in einer bloßen Reproduktion, sondern

vielmehr in einer lustvollen De- und Rekonstruktion von Film-Genres. Ihr erster

Film Jaider, die Geschichte über einen bayerischen Wilddieb, entlarvt den deutschen

Heimatfilm: die gute alte Zeit war alles andere als gut, sie war ungerecht, trostlos und

grausam. „Wir haben den alten deutschen Heimatfilm an den Beinen aufgehängt und

lassen Blut aus seiner Nase tropfen“, (20) sagte Vogeler dazu. Ihr Western Verflucht

dies Amerika zerstört die romantischen Bilder vom mythischen Westen der USA,

den etwa Karl-May-Filme der gleichen Zeit abfeiern, und zeigten die Sinnlosigkeit,

Fremde und Leere, die fünf ausgestoßene Deutsche dort weit weg von zuhause erleben.

Ihr dritter gemeinsamer Film sollte also ein Kriminalfilm werden, doch das

Projekt scheiterte und Miehe schrieb notgedrungen seinen ersten Roman.

„Schreiben und Filmedrehen war für [Ulf] Miehe eins“ (21), und hinter

dem Autor Miehe ist oft der Filmregisseur sichtbar, der all seine Krimis als

Vorlage für Filmdrehbücher ansah. Sein Stil wirkt oft wie importiert aus einem

Skript, Personenbeschreibungen etwa sind stichworthaft, aber unendlich treffend

komprimiert. Wenn es etwa heißt: „Mac Froehlich. Ende fünfzig. Trägt

großkarierte Zweireiher mit Fliege. Melancholische schwarze Säuferaugen

und Halbglatze. Dazu eine Stimme, deren Skala von spuckesprühender Euphorie

bis zu weinerlichem Selbstmitleid reicht“ (22), wirkt das wie aus der

eingestampften Drehbuch-Vorlage. Doch das entspräche nicht Miehes Idee

der Adaption, wenn er zum Transfer zwischen Literatur und Film sagt „daß

der Film die Geschichte ganz neu erzählen muß, schließlich redet er in Bildern.

Der Roman ist kaum noch ein Zettelkasten, grundsätzliche Werktreue

nichts weiter als eine Denkfaulheit.“ (23) Und, so kann man annehmen, ist es

auch andersherum bei der Adaption des gescheiterten Skripts in einen Roman.

Vielmehr ist sein drehbuchhaftes Schreiben ein ästhetisches Mittel, um

Filmästhetik in den Roman zu transportieren, es ist ein filmisches Schreiben,

das sich durch Zooms, Schnitte, eine ausgefeilte Dramaturgie auszeichnet –

Miehe machte „literarisches Cinemascope“, wie Peter Henning es nennt. (24)

Film und Literatur bedingen sich bei Miehe also gegenseitig. Eins geht

nicht ohne das andere, eins soll im Idealfall immer wieder ins andere übersetzt

werden. Miehes Leidenschaft steht nur eines entgegen: Das Geld und

die Geldgeber.

Gleich in der ersten Szene des Romans, beim Dreh in der Bank, taucht der

missmutige Produktionsleiter von Westrum auf, der sich – stilecht mit kalter

Zigarre im Mundwinkel – über Gorskis Geldverschwendung beschwert.

Durch den Roman zieht sich dann auch die ständige Kommunikation mit dem

zuständigen Redakteur vom Sender um einen Vorschuss, Gorski und Benjamin

schicken ihm unzählige Bittbriefe mit Exposés, mal mit vollmundigen

Ankündigungen, mal mit Drohungen, in fast jedem Kapitel ist Geldmangel

und Geldbeschaffung Thema sowie die immer zu knapp bemessenen Budgets,

um einen „richtigen“ Film machen zu können. An einer Stelle lässt Miehe

den Journalisten Mac Froehlich die eigentlichen Aufgaben eines Regisseurs

beschreiben: „Er muß das Geld für seinen Film aufspüren in den Tresorhöhlen

der Kapitalisten. Gegen eine Leibgarde scharfer Hunde von Dramaturgen,

Juristen, Geldverwaltern. Leider gibt es kaum noch echte Produzenten heute,

nur noch Spekulanten.“ (25) So ernst ist es, so schwierig, einen Film zu machen.

In den 60ern|70ern etabliert sich das Fernsehen als Coproduzent fürs Kino,

und kaum mehr ein Film wird ohne Zahlung der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten

gemacht. Deren Redakteure und Dramaturgen sind keine Advokaten

der filmischen Kunst, sondern Bürokraten, die panische Angst vor der

Quote, dem Publikum, der konservativen Presse haben und den Filmemachern

unentwegt reinreden, wenn sie sich überhaupt mal durchringen, einen Film zu

machen, der über den Vorabendserien-Horizont hinausgeht. Dazu kommt das

Einwirken der Politiker, die in den Sender-Gremien sitzen.

Diese Gremien entscheiden über die Förderungswürdigkeit von Projekten,

und so scheitert etwa die Verfilmung von Miehes zweitem Roman Puma tragisch,

weil das Trauma der Schleyer-Entführung jede Kidnapping-Geschichte

bei den Sendern, hier dem Bayrischen Rundfunk, und dahinter natürlich der

CSU, auf Jahre unmöglich machte.

Einmal hat sich Miehe die Vorsichtigkeit dieser Gremien allerdings auch

zunutze gemacht, indem er in seinem Debüt eine Novelle von Theodor Storm

verfilmte, denn bei Literaturverfilmungen wähnen sich Redakteure auf der sicheren

Seite, da kann nicht viel schiefgehen. Und ging es bei John Glückstadt

ja auch nicht, Miehe gewann den Bundesfilmpreis für Regie.

Die gleichen Dramaturgen jedenfalls, deren Feigheit heute immer noch für

die Mittelmäßigkeit des deutschen Films und Fernsehens verantwortlich ist,

sorgten jedenfalls dafür, dass bei Miehes Tod tragischerweise keine Verfilmungen

seiner eigenen Romane stehen, sondern eine Reihe Tatorte und

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