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johlende Meute darum herum, sein unförmiger Körper zuckte vor Angst, aber das

war kaum zu sehen, sie hatten ihn mit Teer übergossen und Bettfedern darüber gekippt,

schreiend und singend zogen sie durch den Ort, zu seinem Haus, und hängten

ihn am Dachgiebel auf. Nach Stunden hatte ihn der Alte losgeschnitten. Goldstein

lebte noch. Goldstein lebte und hatte keinen Haß auf die Leute in W. Aber später, als

die dritte Fahne schon ein paar Jahre lang aus dem Rathausfenster hing, da sagte er

zu jedem: die machen ja auch nicht besser. Eines Morgens öffnete er sein Geschäft

nicht, er war weg. — Ich weiß nicht, hatte der Bürgermeister gesagt, das kam doch

von oben, aber ich will versuchen. Wo ist er denn, Hans, wo ist Goldstein?

Und er wußte noch nicht, daß er ihn packen würde, an Hosenbund und Kragen, gehst

du, Hans, oder gehst du nicht, wußte noch nicht, daß er ihn aus dem Fenster werfen

würde, daß sich der Bürgermeister an der Fahne festhalten würde, die da hing, aber

das Tuch war morsch, knackte vom Gewicht, hielt nicht, riß vom Repräsentantengewicht,

machte nicht mehr mit und segelte, einen Teil des Körpers des Repräsentanten

bedeckend, der hatte nicht losgelassen, schrie, ließ nicht locker, wollte oben

bleiben, segelte samt Bürgermeister in den kleinen Teich vorm Rathaus; es klatschte,

die Leute klatschten auch, aber sie meinten den Alten, der, noch immer den Fall

des Bürgermeisters beobachtend, am Fenster stand und mit ernstem Gesicht, doch

befriedigt feststellte: der Lappen war weg. Die klatschenden Leute verlangten, er,

der Alte, möge dort bleiben, wo er sich befinde, so einen wollten sie, sie hätten das

schon immer gesagt, sie nickten einander zu, sangen, riefen, es sei nun gut so, er solle

bleiben, man kannte ihn ja, der Ort war nicht groß, aber der Alte ging lieber angeln.

VI

Als er in N ankam, dachte er an den Ritter Kahlbutz, der dort aufgebahrt in einem

Keller lag; eine mumifizierte Leiche, die von Kindern und Fremden bestaunt wurde.

Er bekam kein Taxi und wartete zwei Stunden auf den Zug nach W. Er fror. Im

Park vor dem Bahnhof saßen Jugendliche auf den Bänken; sie hatten Kofferradios

auf höchste Lautstärke gestellt und hörten Radio Luxemburg. Über dem Bahnhofseingang

hing ein Spruchband: Vorwärts in die lichte Zukunft des Sozialismus. Am

nächsten Tag ging er in W umher. Er blieb auf der Brücke stehen. Der Fluß war eingetrocknet

und schlammig. Er stand vor den Kaninchenställen im Hof. Da lagerten

jetzt Kohlen. Die Türen mit den Drahtgittern hingen schief in den Angeln. Im Gewächshaus

standen alte Möbel. Die meisten Scheiben waren kaputt. Das Badezimmer

hatte einen Warmwasserboiler. Der Vetter hatte keinen Urlaub bekommen von

der Nationalen Volksarmee. Am nächsten Tag fuhr er zurück.

Rathaus Wusterhausen|Dosse

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