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CRESCENDO 2/18 März-Mai 2018

CRESCENDO - Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Christa Ludwig, Philippe Entremont und Daniel Barenboim.

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K Ü N S T L E R<br />

„JETZT HABE ICH DAS RECHT,<br />

FAUL ZU SEIN!“<br />

FOTO: SUSESCH BAYAT<br />

ich unentwegt gestrickt habe, weil ich beim Stricken meine<br />

Nervosität durch die Finger wegbekommen habe. Und Erika Köth<br />

sagte: „Christa, du machst mich ganz nervös mit der ewigen<br />

Strickerei.“ Ich habe allerdings immer schön weitergestrickt und<br />

kam erst abends um sechs Uhr mit dem Singen dran. Also habe ich<br />

wirklich lange gestrickt. Und wir gewannen beide einen Preis!<br />

… und Sie hatten einen Pullover.<br />

Ha! Ja, fast.<br />

Wenn Sie an Sänger denken, denken Sie sofort an Opernsänger?<br />

Ja, denn es gibt keine Liedersänger mehr. Es gibt viele Sänger, die<br />

Lieder singen, aber das müssen noch lange keine Liedersänger sein.<br />

Das ist ein Unterschied. Zugegebenermaßen gehe ich kaum noch<br />

in Liederabende. Aber wenn ich sehe, wie Opernsänger Liederabende<br />

geben, denke ich, dass etwas verkehrt ist.<br />

Da liegt das Problem oft schon an der Umgebung. Wenn ich in<br />

einem großen Opernhaus einen<br />

Liederabend gebe, ist das zum<br />

„MAN HAT DAMALS DIE STIMMEN AUCH<br />

AN IHREN FEHLERN ERKANNT UND<br />

FAND SIE TROTZDEM TOLL“<br />

Scheitern verurteilt, oder?<br />

Ich habe in der Metropolitan<br />

Opera vor fast 4.000 Menschen die<br />

Winterreise gesungen, immerhin.<br />

Und die fanden es schön.<br />

Aber leidet nicht die Intimität<br />

eines Liederabends in einem<br />

fußballstadiongroßen Opernhaus wie der Met?<br />

Die Intimität eines kleinen Saales macht Angst. Es ist viel schwieriger,<br />

vor 20 oder 10 Leuten zu singen als vor 4.000. 4.000 sind eine<br />

unbekannte abstrakte Masse. Aber Einzelne, die man vielleicht<br />

sogar kennt, und die ganz nahe vor einem sitzen – da bekommt<br />

man fürchterliche Angst. Gott sei Dank haben diese Opernhäuser<br />

eine gute Akustik, da kann man so leise singen wie möglich. Ich<br />

erinnere mich an einen Liederabend in der Avery Fisher Hall<br />

(inzwischen David Geffen Hall – Anm. d. Redaktion). Meine liebe<br />

Kollegin Gundula Janowitz war dort in einem vorangegangenen<br />

Liederabend – ich glaube von Birgit Nilson – gewesen und sagte<br />

mir: „Christa, wenn du den Liederabend dort singst, darfst du<br />

nicht meinen, dass du dort lauter singen musst. Das kleinste Piano<br />

ist bis ganz hinten hörbar.“ Tatsächlich konnte ich in der Metropolitan<br />

pianissimo singen, und es war zu hören.<br />

Sie haben erwähnt, dass Sie nur noch wenig Musik hören, im<br />

Konzert und aus der Konserve. Warum?<br />

Wissen Sie, seit meiner Kindheit höre ich nur Musik. Von morgens<br />

bis abends nur Musik. Und wenn Sie dann mal nichts zu singen<br />

haben, müssen Sie etwas lernen oder sich einsingen. Da habe ich<br />

einmal genug gehabt von Musik. Und jetzt liebe ich die Stille. Ich<br />

liebe es, einem Vogel zuzuhören, wenn er „tirrili“ macht. Oder<br />

wenn er gar nichts macht. Die Stille ist etwas Wunderbares. Ich<br />

höre die Stille!<br />

Kennen Sie diese wunderbare kleine Geschichte von Heinrich Böll,<br />

„Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“? Der hat sich aus den<br />

Bändern im Radio die ganzen Pausen herausgeschnitten und sie zu<br />

Hause laufen lassen. Wunderbar! Sehen Sie, so geht’s mir auch: Ich<br />

lasse nur noch die Pausen laufen. Aber ich höre schon hin und wieder<br />

Musik. Neulich war ich in<br />

Bruckners Neunter mit den<br />

Philharmonikern hier in Wien. Es<br />

war eine Sternstunde, und ich war<br />

von Musik erfüllt. Da habe ich<br />

dann aber für eine Woche genug<br />

Musik in mir.<br />

Man muss sie auch verarbeiten. Ein<br />

Sänger zum Beispiel muss einen<br />

Text und die Musik ja erst mal begreifen, bis er sie wirklich<br />

wiedergeben kann. Das ist ein langer Prozess und ein ewiges<br />

Lernen. Und wenn man älter wird, ändert sich der Blick auf Text,<br />

Musik und Interpretation. Das ist wunderschön. Da kommt es<br />

dann darauf an, wie reif man ist. Für die meisten kommt die Reife<br />

viel später als die Stimme, und das ist das Unglück eines Sängers:<br />

Der Tonus der Stimmbänder ist nicht mehr da, aber man weiß<br />

genau, wie man’s tut. Das ist wie bei einem Eunuchen: Man weiß,<br />

wie man es macht, aber man kann es nicht mehr.<br />

Das ist unser großes Unglück!<br />

■<br />

The Christa Ludwig Edition (Deutsche Grammophon).<br />

Eine weitere Box zum Geburtstag finden Sie auf S. 36, die aktuelle<br />

Autobiografie auf S. 29.<br />

Das Video zum Interview: www.youtube.de/crescendomagazin<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — April – <strong>Mai</strong> 20<strong>18</strong>

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