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CRESCENDO 2/18 März-Mai 2018

CRESCENDO - Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Christa Ludwig, Philippe Entremont und Daniel Barenboim.

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K Ü N S T L E R<br />

C<br />

MEINE AGENDA WAR<br />

DIE REVOLUTION!<br />

Als sechstes von 13 Kindern geboren, war Franz Wittenbrink Soziologiestudent,<br />

Maschinen- und Klavierbauer, Müllwagenfahrer und Barpianist, bevor er sich zu einem<br />

der berühmtesten Arrangeure von szenischen Liederabenden entwickelte.<br />

rescendo: Herr Wittenbrink, Ihre szenischen Liederabende<br />

sind im deutschsprachigen Raum seit Jahrzehnten<br />

eine Sensation. Laufen Sie mit Abenden wie „Männer“,<br />

„Sekretärinnen“ oder „Mütter“ nicht Gefahr, sich in Stereotypen<br />

zu verfangen?<br />

Franz Wittenbrink: Den Vorwurf des Klischees kann man jedem<br />

machen, der an zentralen Themen andockt. Das Interessante am<br />

Leben ist, dass es oft dem Klischee unglaublich nahekommt. Meine<br />

Idee ist, Klischees zu benutzen, um die Aufmerksamkeit zu bekommen,<br />

und sie dann zu unterlaufen und auszudifferenzieren. Eindimensionale<br />

Figuren gibt es bei mir kaum. Sie haben immer eine<br />

Fallhöhe zwischen Wollen und Können. Etwa eine Arroganz, hinter<br />

der dann plötzlich der jämmerliche kleine Junge auftaucht. Deshalb<br />

sind bei aller Lustigkeit meine Abende immer auch traurige.<br />

Sie haben Ihre musikalische Karriere bei den Regensburger<br />

Domspatzen begonnen, wo Sie auch Missbrauch erfahren<br />

haben. Hat sich das auf Ihre Arbeit ausgewirkt?<br />

Ich habe mit dem Berliner Ensemble einen Abend über Kindesmissbrauch<br />

gemacht („Schlafe, mein Prinzchen“). Da mache ich<br />

bewusst keine Schuldzuweisung<br />

nach rechts oder links, sondern<br />

stelle klar, dass das ganze<br />

Ideologiegequatsche meistens ein<br />

Ablenkungsmanöver ist. Der erste<br />

Teil geht um die Domspatzen, die<br />

nicht explizit genannt sind, aber<br />

es spielt in einem gotischen,<br />

übermächtigen Dom. Im zweiten<br />

Teil geht es um die Odenwaldschule – also zwei ganz konträre<br />

Ideologien: einmal der katholische Hochkonservatismus, zum<br />

anderen die linke Vorzeigeidylle zur Befreiung der Menschheit. In<br />

beiden sind die Kinder geknechtet, kaputtgemacht und vergewaltigt<br />

worden – mit der gleichen Verlogenheit gegenüber den Eltern<br />

und den gleichen sozialen Abstufungen. Auch an der Odenwaldschule<br />

wurden nicht die Kinder von Weizsäcker und anderen<br />

Promi familien zu den Sexwochenenden gezwungen, sondern die<br />

Sozialfälle, bei denen die Eltern glücklich waren, dass die Kinder<br />

überhaupt die Schule besuchen konnten. Bei uns bei den Domspatzen<br />

war das genauso: Ich bin zwar nackt verprügelt worden,<br />

was semisexuell ist, musste aber keine harten sexuellen Handlungen<br />

ausführen, weil ich der Neffe des bayerischen Ministerpräsidenten<br />

Alfons Goppel war.<br />

Und jetzt? Ihre Haltung zur aktuellen #MeToo-Debatte?<br />

VON MARIA GOETH<br />

„EINE GESELLSCHAFT VON VIELEN<br />

MILLIONEN MENSCHEN KANN OHNE<br />

MACHTSTRUKTUREN ÜBERHAUPT<br />

NICHT EXISTIEREN“<br />

Das ist relativ einfach! Der große Fortschritt, der geschehen ist,<br />

nachdem dieser Teil der Kindeszerstörung öffentlich diskutiert<br />

worden ist, ist die höhere Sensibilisierung. Egal ob im Verhältnis<br />

Mann/Frau, Mann/Kind und Gewalt oder Sexualität, die Konstellation<br />

und die Gefahr werden bleiben. Aber es ist ein Unterschied,<br />

ob ich als Kind zaghaft versuche zu sagen: „Da hat der Herr Pfarrer<br />

aber dies und jenes mit mir gemacht!“ oder ob man mir heute<br />

wirklich zuhören würde. Heute wüsste ich, dass ich eine Möglichkeit<br />

habe, da rauszukommen! Das ist in der #MeToo-Debatte<br />

dasselbe. Ich gehöre nicht zu den Anarchisten, die sagen, es gibt<br />

eine machtfreie Gesellschaft. Eine Gesellschaft von vielen Millionen<br />

Menschen kann ohne Machtstrukturen überhaupt nicht<br />

existieren! Gleichzeitig hat Ballung von persönlicher Macht und<br />

Abhängigkeiten automatisch und immer die Gefahr der Ausnutzung<br />

– ob sexuell oder, wie das viele Regisseure machen, durch die<br />

Vernichtung eines schwächeren Schauspielers, um den anderen zu<br />

demonstrieren, wie stark man ist.<br />

Sie kommen aus einem sehr katholischen, CSU-nahen Elternhaus,<br />

traten später aus der Kirche aus und waren Mitbegründer<br />

des Kommunistischen Bunds<br />

Westdeutschlands. War das echte<br />

Ideologie oder eine Art<br />

„Dagegen“-Haltung?<br />

Ideologie ist eines meiner großen<br />

Lebensthemen. Mit dem Katholizismus<br />

bin ich aufgewachsen. Mit<br />

dem Älterwerden denkt man nach<br />

und bekommt den Verdacht, dass<br />

er dem Wohl des Menschen gar nicht so nah ist. Ich habe die<br />

Kirche nicht als menschen- und kinderfreundliche Institution<br />

erlebt. Und über die Frage von Schuld, Sünde und Gottes Existenz<br />

kann man ohnehin streiten. In den Kommunismus bin ich<br />

freiwillig geraten. Davon waren mindestens 80 Prozent freudigst<br />

aufgenommener Zeitgeist. Man kommt aus einer verklemmt<br />

katholischen Familie, macht Abi 1968 zur Hippie-Zeit – was für ein<br />

Spaß! Meine Freundin und ich haben uns mit Plaka-Farben als<br />

Ganzkörperskulptur im Niki-de-Saint-Phalle-Stil bemalt. So sind<br />

wir bunt bemalt und fast nackig und bester Laune durch die<br />

Fußgängerzone in Heidelberg gelaufen. Die Omis sind vor Schreck<br />

fast in Ohnmacht gefallen. Da war Euphorie, Spaß und Spiel.<br />

Das änderte sich dann?<br />

Schlimm wurde es, als sich die Bewegung in ein paar Rest-Hippies<br />

und die Leninisten, Stalinisten und andere kommunistische<br />

20 w w w . c r e s c e n d o . d e — April – <strong>Mai</strong> 20<strong>18</strong>

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