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CRESCENDO 2/18 März-Mai 2018

CRESCENDO - Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Christa Ludwig, Philippe Entremont und Daniel Barenboim.

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H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

FEGEFEUER INNERER SCHMERZEN<br />

Sein unorthodoxer Auftritt erinnerte mehr an einen Mafioso als an einen Akademiker.<br />

Wohl weil er die Kunst der Selbstvermarktung nicht beherrschte,<br />

ist Nicolas Flagello heute so gut wie in Vergessenheit geraten.<br />

Am 15. <strong>März</strong> wäre Nicolas Flagello<br />

(1928–1994) 90 Jahre<br />

alt geworden. Er war einer<br />

der ganz großen Komponisten<br />

der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.<br />

Aus einer italienischen Musikerfamilie,<br />

die sich in New York niedergelassen<br />

hatte (sein Großvater mütterlicherseits<br />

war einer der letzten Schüler von Verdi)<br />

stammend, wuchs er in einer von Belcanto<br />

und spätromantischer Emphase<br />

geprägten Umgebung auf. Mit drei Jahren<br />

erhielt er Klavierunterricht, mit acht<br />

Jahren begann er zu komponieren.<br />

Sein großer Lehrmeister wurde<br />

Vittorio Giannini, den Richard Strauss<br />

in den 1930er-Jahren als neuen Hoffnungsträger protegierte. Doch<br />

es kam anders, der Krieg zerstörte viele Hoffnungen, und danach<br />

stand Gianninis aus der Tradition gewachsenes Ethos wider den<br />

Zeitgeist, der die Brücken zur Vergangenheit abbrechen wollte.<br />

Giannini und Flagello wurden enge Freunde und bildeten eine<br />

ästhetische Haltung aus, die in den USA einzigartig war: Schönheit,<br />

existenzielles Drama, Kunst der organischen sinfonischen Formung,<br />

vollendete Beherrschung der kontrapunktischen Techniken<br />

und harmonischen Mittel auf der Grundlage einer erweiterten kantablen<br />

Tonalität. Ende der 1950er-Jahre zeichnete sich in Flagellos<br />

Schaffen eine stilistische Wandlung ab, die auch auf Giannini<br />

zurückfärbte: Die Musik spiegelte in ihrer dunklen Glut immer<br />

mehr Zustände dramatischer Verzweiflung, Rebellion gegen die<br />

Ignoranz und Veräußerlichung der modernen Zivilisation und seelische<br />

Vereinsamung in der kalten Betonwelt der Metropole wider.<br />

Ein brodelnder Abgesang.<br />

In den 1970er-Jahren geriet Flagello allmählich in einen<br />

Zustand innerer Verlorenheit und tiefer Depression, sein Leben<br />

endete in geistiger Umnachtung. Dass er ein Outsider blieb, hat<br />

jedoch nicht unbedingt mit seiner künstlerischen Haltung zu tun,<br />

die ihn ohne jede Rücksicht auf Moden unbeugsam seinen Weg<br />

gehen ließ. Andere, wie Barber oder Bloch, wurden für ihren offenen<br />

Neoromantizismus gefeiert. Er hingegen, der viel mehr furioser<br />

Nicolas Flagello<br />

Existenzialist als Nostalgiker war, dessen<br />

Musik den Hörer oft durch ein Fegefeuer<br />

innerer Schmerzen führt, verstand<br />

es einfach nicht, sich „gut zu verkaufen“.<br />

Obwohl selbst ein exzellenter Pianist<br />

und Dirigent, musste er die Aufnahmen<br />

seiner Musik in Italien machen, denn<br />

sein unorthodoxer Auftritt erinnerte<br />

mehr an einen Mafioso als an einen<br />

gewandten Akademiker. Er blieb sozusagen<br />

ein „Mann von der Straße“, dessen<br />

Musik zwar die Kenner herausfordert,<br />

aber zugleich für jeden Hörer<br />

unmittelbar verständlich ist.<br />

Flagello musste fast zwangsläufig<br />

eine tragische Figur werden. Seine<br />

Musik spricht in ihrer Zeit eine so unverstellt vehemente Sprache wie<br />

Tschaikowsky in seiner. Sie nimmt den Hörer ebenso stürmisch und<br />

zärtlich mit in ihre leidenschaftlichen und intimen Regionen und ist<br />

zugleich kompromisslos klar, unbestechlich balanciert geformt. Auf<br />

CD ist Flagello mittlerweile so dokumentiert, dass man sich – bei<br />

allen Lücken – einen Überblick verschaffen kann (etliche Einspielungen<br />

sind bei NAXOS erschienen), doch seine Hauptwerke sind nach<br />

wie vor fast nie im Konzert zu hören. Manche harren trotz Ersteinspielung<br />

weiter der Uraufführung. Es ist nicht einfach, beim vielseitigen<br />

Reichtum seines Schaffens Empfehlungen abzugeben. Doch<br />

möchte ich seine beiden Sinfonien nennen, das herrlich zwischen<br />

improvisatorischem Gestus und expressionistischer Gesangsszene<br />

angesiedelte Capriccio für Cello und Orchester, die übermütig an den<br />

Montmartre entführende Lautrec-Suite mit einem abgründigen Valse<br />

triste, wie sie sich selbst Sibelius nicht erträumt hätte, oder der Piper<br />

of Hamelin, eine der hinreißendsten Kinderopern der Geschichte.<br />

Nie hat sich der Bekenntnismusiker Flagello, der 1968 mit der Passion<br />

of Martin Luther King sein berühmtestes Werk schrieb, der Sentimentalität<br />

der nostalgischen Neoromantik ergeben, immer halten<br />

das vielfältige rhythmische Pulsieren, der weit dimensionierte harmonische<br />

Spannungsverlauf, die lineare Energie das stringent konturierte<br />

Geschehen im Fluss. Wer Schostakowitsch liebt, dürfte auch<br />

Flagello lieben. Nur muss man ihn zuerst kennenlernen. n<br />

FOTO: WALTER SIMMONS<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — April – <strong>Mai</strong> 20<strong>18</strong>

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