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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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20 JAHRE<br />

AUSGABE 04/20<strong>19</strong><br />

JUNI – JULI – AUGUST 20<strong>19</strong><br />

WWW.<strong>CRESCENDO</strong>.DE 7,90 EURO (D/A)<br />

mit CD im Heft<br />

SCHWERPUNKT<br />

Vom Kuss der Musen:<br />

Mode und Musik<br />

GIDON KREMER<br />

Hommage des großen Geigers<br />

an den Komponisten Weinberg<br />

REBECCA SAUNDERS<br />

VALERY TSCHEPLANOWA<br />

MAURICE STEGER<br />

VALENTINA LISITSA<br />

Benjamin<br />

Schmid<br />

Genialer Grenzgänger<br />

zwischen Klassik und Jazz<br />

B47837 Jahrgang 22 / 04_20<strong>19</strong><br />

Mit Beihefter CLASS: aktuell


MET<br />

OPERA<br />

LIVE IM KINO<br />

20<strong>19</strong>/2020<br />

12. Oktober<br />

TURANDOT<br />

Giacomo Puccini<br />

26. Oktober<br />

MANON<br />

Jules Massenet<br />

09. November<br />

MADAMA BUTTERFLY<br />

Giacomo Puccini<br />

23. November<br />

AKHNATEN<br />

Philip Glass<br />

11. Januar<br />

WOZZECK<br />

Alban Berg<br />

01. Februar<br />

The Gershwins’<br />

PORGY AND BESS<br />

29. Februar<br />

AGRIPPINA<br />

Georg Friedrich Händel<br />

14. März<br />

DER FLIEGENDE<br />

HOLLÄNDER<br />

Richard Wagner<br />

11. April<br />

TOSCA<br />

Giacomo Puccini<br />

09. Mai<br />

MARIA STUARDA<br />

Gaetano Donizetti<br />

Photo: Richard Hubert Smith / English National Opera<br />

Änderungen vorbehalten<br />

C L A S S I C<br />

www.metimkino.de /METimKino /METimKino


P R O L O G<br />

SERVUS HABIBI*<br />

Liebe Lesende,<br />

oder hätte ich schreiben sollen: „Liebe Leser*Innen“? „Liebe Leser/Innen“? Bereits im<br />

letzten Editorial fragte ich Sie ja, ob wir in Zukunft sprachlich beide Geschlechter<br />

kennzeichnen sollen. Die Reaktionen waren teilweise durchaus emotional und reichten<br />

von „unbedingt!“ bis „auf keinen Fall!“ (s. S. 44). Den meisten Antwortenden ist die<br />

angenehme Lesbarkeit von Texten jedoch viel wichtiger als Genderneutralität.<br />

WINFRIED HANUSCHIK<br />

Herausgeber<br />

Tatsächlich aber fällt auf, wie willkürlich die deutsche Sprache mit dem Genus umgeht:<br />

DIE Frau, DER Mann, DAS Kind. So weit, so klar. Aber warum DER Mond und DIE<br />

Sonne? Was macht den Mond männlicher als die Sonne? DAS Auto, aber DIE Maschine?<br />

Nach patriarchalischem Rollenverständnis müsste es doch DER Auto und DER Maschine<br />

heißen! Auch im Ethymologischen Wörterbuch „Kluge“ fand ich keine Erklärung, die auf<br />

Diskriminierung hinweisen würde. Deshalb bleiben wir bei der gewohnten Schreibweise<br />

mit dem Hinweis: „Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in <strong>CRESCENDO</strong> die<br />

gewohnte männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen<br />

verwendet. Dies impliziert keine Benachteiligung des weiblichen Geschlechts, sondern<br />

soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein.“<br />

Reale Diskriminierung passiert täglich – auch in Kunst und Kultur. Das dürfen wir nicht<br />

tolerieren. Im wöchentlichen Newsletter BRÜGGEMANNS KLASSIK-WOCHE<br />

machte unser Kolumnist in den letzten Wochen auf solche Missstände aufmerksam.<br />

Bilden Sie sich selbst eine Meinung: unter <strong>CRESCENDO</strong>.DE/KLASSIKWOCHE.<br />

Unser Titelbild<br />

Wenn Künstler fotografiert werden, geschieht<br />

das meist im natürlichen Umfeld des Konzertsaals<br />

oder in artifiziellen Inszenierungen. Mal<br />

ganz anders: Benjamin Schmid, den Sandro<br />

Kumric vor einer Bergkulisse aufgenommen<br />

hat. Das wirkt fast schon privat. Und gut. Mehr<br />

Bilder des spannenden Fotografen:<br />

www.artaussee.wordpress.com<br />

Das Gegenteil von Ausgrenzung ist Teilhabe – Thema in der von <strong>CRESCENDO</strong> präsentierten<br />

„Kultur-Lounge“ auf Deutschlands größter 50plus-Messe. In der Podiumsdiskussion<br />

ging es darum, wie man „digital“, aber auch „real“ Gleichgesinnte kennenlernen<br />

kann. Ich erzählte von <strong>CRESCENDO</strong> LIVE, unseren Veranstaltungen, zu denen Leser<br />

unbesorgt allein kommen können. Denn dort ergeben sich viele interessante Gespräche<br />

und Bekanntschaften ganz selbstverständlich. Neugierig? Der nächste After-Work-Apéro<br />

mit Vernissage der Künstlerin FRIEDERIKE HOELLERER findet am 11. Juli in der<br />

Redaktion am Münchner Marienplatz statt (s. S. 73). Sind Sie dabei? Der Eintritt ist frei.<br />

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe dreht sich um „Musik & Mode“. Wir trafen den<br />

Modeschöpfer CHRISTIAN LACROIX und zeigen Ihnen sensationelle Kostüme, die er<br />

für diverse Inszenierungen entworfen hat. Aber wussten Sie, dass Coco Chanel ebenfalls<br />

als Kostümbildnerin gearbeitet hat – und eine Affäre mit Strawinsky hatte? Und ist Ihnen<br />

schon einmal aufgefallen, wie sehr auch die klassische Musik Moden unterliegt?<br />

Exklusiv für Käufer und Abonnenten:<br />

die <strong>CRESCENDO</strong> Premium-CD<br />

Viel Inhalt in besonders hochwertiger Ausstattung finden<br />

Sie in dieser Premium- Ausgabe: Reportagen, Porträts,<br />

Interviews, Aspekte und Hintergrundwissen aus der Welt<br />

der Klassik. Außerdem für alle Käufer und Abonnenten<br />

der Premium-Ausgabe:<br />

sechs Mal pro Jahr die <strong>CRESCENDO</strong> CD,<br />

ein exklusives Album mit Werken einiger in der<br />

aktuellen Ausgabe vorgestellter Künstler.<br />

In diesem Heft: die 78. CD der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Premium-Edition.<br />

Fehlt die CD? Dann rufen Sie uns an: 089/85 85 35 48.<br />

Ein wichtiger Motor der Moderne mit einer langen Liste von Uraufführungen und<br />

Auftragskompositionen ist der Ernst von Siemens Musikpreis. Wir freuen uns sehr, Ihnen<br />

REBECCA SAUNDERS vorzustellen, die im <strong>Juni</strong> den mit 250.000 Euro dotierten Preis<br />

erhält. Außerdem erzählt uns GIDON KREMER (exklusiv) über Weinberg. Wir trafen<br />

die Geigerin Fabiola Kim, den Flötisten Maurice Steger, die Sopranistin Nuria Rial, den<br />

Geiger <strong>August</strong>in Hadelich und die Pianistin Valentina Lisitsa. Und als Sahnehäubchen,<br />

passend zum Kaffee mit ihr in Berlin: VALERY TSCHEPLANOWA, die neue Buhlschaft<br />

in Salzburg. PAULA BOSCH stellt Ihnen toskanische Icon-Weine vor, RAGNA<br />

SCHIRMER hat für uns gekocht, und BENJAMIN SCHMID zeigt uns sein Salzburg.<br />

Und nun wünschen wir Ihnen einen inspirierenden Festspiel-Sommer. Bis zur nächsten<br />

Ausgabe, die Mitte September erscheint, bleiben Sie mit <strong>CRESCENDO</strong>.DE, der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Klassikwoche und auf <strong>CRESCENDO</strong> Facebook auf dem Laufenden.<br />

In diesem Sinne: Servus Habibi*,<br />

Ihr Winfried Hanuschik<br />

* ... ist ein großartiges Stück aus dem aktuellen Album von „Quadro Nuevo“, das bayerische und<br />

arabische Volksmusik sehr geschmeidig verbindet. „Habibi“ ist arabisch und bedeutet „Liebling“.<br />

Hören Sie selbst: www.br-klassik.de/concert/ausstrahlung-1759826.html (ab 42:30)<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli –<strong>August</strong> 20<strong>19</strong> 3


P R O G R A M M<br />

06<br />

BLICKFANG<br />

Der Fotograf Roland Steitz<br />

packt mit seiner Kamera<br />

große Bilder in kleine<br />

Welten. Alles eine<br />

Frage der Perspektive!<br />

20<br />

MAURICE STEGER<br />

Der Flötist ist dem Klang<br />

seines Instruments<br />

bedingungslos verfallen.<br />

Und widersetzt sich dem<br />

Paganini-Etikett<br />

38<br />

FRANZISKA HÖLSCHER<br />

Da steckt Feuer drin: Die<br />

Geigerin legt mit<br />

Leidenschaft und Verve<br />

warme Glut in die Musik<br />

STANDARDS<br />

KÜNSTLER<br />

HÖREN & SEHEN<br />

Der neue<br />

Newsletter von<br />

<strong>CRESCENDO</strong>:<br />

Jeden Montag<br />

mehr wissen<br />

Abonnieren Sie<br />

Brüggemanns<br />

Klassik-Woche<br />

kostenlos auf<br />

www.crescendo.de<br />

Der Klassik-Newsletter,<br />

mit dem Sie jede Woche<br />

über die aktuellen<br />

Themen informiert sind.<br />

03 PROLOG<br />

Der Herausgeber stellt<br />

die Ausgabe vor<br />

06 BLICKFANG<br />

„Das Auge hört mit“:<br />

Panoramabild<br />

vom Münchner<br />

Prinzregententheater<br />

08 OUVERTÜRE<br />

Klassik in Zahlen<br />

Was hört ...<br />

Cédric Tiberghien?<br />

Ein Anruf bei ...<br />

Jan Meier, Leiter der<br />

Kostüm- und<br />

Maskenabteilung<br />

Salzburger Festspiele<br />

39 IMPRESSUM<br />

42 KOMMENTAR<br />

Hinschauen unbedingt<br />

erforderlich: #MeToo-<br />

Skandale in der Klassik<br />

44 RÄTSEL &<br />

REAKTIONEN<br />

82 HOPE TRIFFT …<br />

Rob Gibson, Executive und<br />

Artistic Director des<br />

Savannah Music Festivals<br />

12 EIN KAFFEE MIT …<br />

Valery Tscheplanowa<br />

14 GIDON KREMER<br />

widmet sein neues Album<br />

dem Komponisten<br />

Mieczysław Weinberg<br />

zu dessen 100. Geburtstag<br />

18 AUGUSTIN<br />

HADELICH<br />

Eine ungewöhnliche<br />

Geschichte<br />

20 MAURICE STEGER<br />

Die vielen Facetten des<br />

Paganini der Flöte<br />

22 FABIOLA KIM<br />

ist verrückt nach Bartók<br />

– und auf dem<br />

Weg nach ganz oben<br />

24 NURIA RIAL<br />

„Das Leben hat<br />

mir alles geschenkt“<br />

26 REBECCA<br />

SAUNDERS<br />

erhält als erste<br />

Komponistin den<br />

Siemens Musikpreis<br />

28 VALENTINA LISITSA<br />

Der YouTube-Klassikstar<br />

legt eine Tschaikowsky-<br />

Gesamteinspielung vor<br />

31 DIE WICHTIGSTEN<br />

EMPFEHLUNGEN DER<br />

REDAKTION<br />

33 DOROTHEE<br />

OBERLINGER<br />

Die Blockflötistin ergründet<br />

die Facetten der Nacht<br />

34 WIENER<br />

STAATSOPER<br />

150 Jahre Haus am Ring:<br />

Elf DVDs erinnern an<br />

unvergessene Opernabende<br />

36 UNERHÖRTES &<br />

NEU ENTDECKTES<br />

Vergessene Meister,<br />

legendäre Vorbilder und<br />

unübertroffene Giganten<br />

40 JULIAN PRÉGARDIEN<br />

Der Meister der Modulation<br />

singt mit berührender<br />

Schönheit Schumanns<br />

„Dichterliebe“<br />

FOTOS: ROLAND STEITZ; MARCO-BORGGREVE; IRENE ZANDEL<br />

4 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


NEUHEITEN<br />

Händel<br />

Concerti<br />

grossi op. 3<br />

Berliner<br />

Barocksolisten,<br />

Reinhard Goebel<br />

HC<strong>19</strong>031<br />

Bach´s Family<br />

Choral Motets<br />

Kammerchor<br />

Stuttgart,<br />

Frieder Bernius<br />

HC18014<br />

FOTOS: ANDREJ GRILC; WOLFGANG RUNKEL; LIENBACHER<br />

55<br />

TIROLER<br />

FESTSPIELE ERL<br />

Jazz, Klassik & Improvisation:<br />

Das SIGNUM saxophone<br />

quartet ist eines der vielen<br />

Highlights des Festivals<br />

ERLEBEN<br />

45 DIE WICHTIGSTEN<br />

TERMINE UND<br />

VERANSTALTUNGEN<br />

52 SACHSEN<br />

Eine spannende Reise<br />

durch die Heimat der Musik<br />

54 SOLI DEO GLORIA<br />

Das Braunschweig Festival<br />

legt den Fokus auf Haydn<br />

55 TIROLER<br />

FESTSPIELE ERL<br />

Ein Bekenntnis zur Musik<br />

der Gegenwart<br />

56 NADIA SINGER &<br />

LUTZ GÖRNER<br />

Klavier plus Lesung: mit<br />

Berlioz durch Deutschland<br />

57 IAN HOLENDER<br />

„Rettet die Stadttheater!“<br />

58 THEATERSOMMER<br />

BAD LAUCHSTÄDT<br />

Goethes Opernambitionen<br />

EXKLUSIV<br />

FÜR ABONNENTEN<br />

Hören Sie die Musik zu<br />

unseren Texten auf der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD –<br />

exklusiv für Abonnenten.<br />

Infos auf den Seiten 3 & 70<br />

59<br />

MODE UND MUSIK<br />

Wenn das nicht großes Kino<br />

ist! Der Modedesigner<br />

Christian Lacroix liebt die<br />

Bühne. Eine Geschichte<br />

gegenseitiger Inspiration<br />

SCHWERPUNKT<br />

60 CHRISTIAN<br />

LACROIX<br />

Der Designer und seine<br />

Liebe zur ganz großen Oper<br />

64 DRESSCODE<br />

Der Künstler kleiner<br />

Kleiderkreisel<br />

66 ZEITBAROMETER<br />

Klassische Musik und das<br />

historische Modediktat<br />

68 FRISCHER WIND<br />

Der Fächer: Seitenblick auf<br />

ein durchaus musikalisches<br />

Modeaccessoire<br />

71 COCO UND DIE<br />

KUNST DER STUNDE<br />

Mademoiselle Chanel war<br />

für mehr zuständig als nur<br />

fürs kleine Schwarze<br />

72 WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH …<br />

der Begriff<br />

„Mendelssohns Auge“?<br />

78<br />

BENJAMIN SCHMID<br />

führt durch Salzburg. Und<br />

eine Ausstellung, die den<br />

Thron des kleinen Wolferls ein<br />

bisschen wackeln lässt. Und<br />

sich vor Papa Mozart verneigt<br />

LEBENSART<br />

73 KUNST AM COVER<br />

Großstadt-Labyrinth von<br />

Friederike Sofie Hoellerer<br />

74 LIEBLINGSESSEN<br />

À la Clara: Die Pianistin<br />

Ragna Schirmer kocht<br />

das Schumann’ sche<br />

Hochzeitsessen<br />

76 PAULA BOSCHS<br />

WEINKOLUMNE<br />

Die neue Toskana-Fraktion<br />

78 SALZBURG<br />

Ein Spaziergang mit dem<br />

Geiger Benjamin Schmid<br />

durch seine Stadt<br />

81 GLOBETROTTER<br />

Termine in Sydney<br />

81 BUKAREST<br />

Leserreise für Klassikfans<br />

zum George Enescu<br />

Festival<br />

5<br />

Joseph Haydn<br />

Variations & Pieces<br />

for Piano<br />

Ekaterina<br />

Derzhavina<br />

2CD PH<strong>19</strong>027<br />

Nordic Music<br />

Grieg<br />

Berwald<br />

Nielsen<br />

Ana-Marija<br />

Markovina,<br />

Schleswig-<br />

Holsteinisches<br />

Sinfonieorchester,<br />

Peter Sommerer<br />

HC17027<br />

Duo Rosa<br />

American Soul<br />

from Broadway<br />

to Paris<br />

HC<strong>19</strong>026<br />

Profil<br />

Edition<br />

Günter<br />

Hänssler<br />

Profil Medien GmbH<br />

www.haensslerprofil.de · Vertrieb: Haenssler Alliance Distribution


O U V E R T Ü R E<br />

6 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Das Auge hört mit!<br />

Hochgerühmt ist die Akustik des Prinzregententheaters,<br />

die natürlich besonders bei Konzerten zur vollen<br />

Geltung kommt. Doch nicht nur das! Das Große<br />

Haus des Prinzregententheaters ist eine eindrucksvolle<br />

Kombination aus Architekturelementen des Jugendstils<br />

und des Klassizismus: Auch das Auge wird<br />

verwöhnt, Dekoration und Funktion verschmelzen<br />

hier zu einer sinnlich-sinnigen Einheit. Gebaut wurde<br />

das Haus Anfang des 20. Jahrhunderts nach Vorbild<br />

des Bayreuther Richard-Wagner-Festspielhauses von<br />

Max Littmann. Seit <strong>19</strong>93 beherbergt das Prinzregententheater<br />

die Bayerische Theaterakademie <strong>August</strong><br />

Everding mit seinen Studiengängen.<br />

7<br />

FOTO: ROLAND STEITZ


O U V E R T Ü R E<br />

KLASSIK<br />

IN ZAHLEN<br />

14<br />

Meter<br />

hoch ist der riesige Kopf, der das Bühnenbild für Guiseppe Verdis<br />

Oper Rigoletto bei den Bregenzer Festspielen dominiert. Premiere ist am<br />

17. Juli. Die Oper wird 20<strong>19</strong> zum ersten Mal auf der Seebühne gespielt.<br />

5.000<br />

Besucher hat der Festspielfrühling<br />

der Festspiele Mecklenburg-<br />

Vorpommern in diesem Jahr<br />

angezogen. 14 der 22 Konzerte auf<br />

der Insel Rügen waren ausverkauft,<br />

teilten die Veranstalter mit. Das<br />

zehntägige Festival stand unter der<br />

künstlerischen Leitung des Cellisten<br />

Daniel Müller-Schott.<br />

FOTOS: BREGENZER FESTSPIELE / DIETMAR MATHIS<br />

3,17<br />

Prozent mehr Geld – mindestens<br />

aber 100 Euro – gibt es für<br />

die künstlerisch Beschäftigten<br />

an Staatstheatern. Darauf haben<br />

sich der Deutsche Bühnenverein<br />

auf Arbeitgeberseite und<br />

die Künstlergewerkschaften<br />

Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger,<br />

Vereinigung<br />

deutscher Opernchöre und<br />

Bühnentänzer und Deutsche<br />

Orchestervereinigung geeinigt.<br />

80.000<br />

Liter Wasser sind wegen einer defekten Sprinkleranlage<br />

ins Theater der Stadt Duisburg gelaufen.<br />

Das Vierspartenhaus – Oper, Ballett, Konzert,<br />

Schauspiel – wird auf nicht absehbare Zeit<br />

nicht bespielbar sein. Unfälle dieser Art gab es<br />

kürzlich auch in Berlin, Dresden und Weimar.<br />

0<br />

2<br />

Stunden dauerte es, bis im Onlineshop<br />

der Bayreuther Festspiele die Hälfte<br />

der Karten für die verschiedenen Wagner-Vorstellungen<br />

vergriffen war. Insgesamt<br />

können in dieser Festspielsaison 9.000 Karten<br />

online erworben werden.<br />

Euro beträgt das Preisgeld, das die Firmen Buffet<br />

Crampon Deutschland und Kühnl & Hoyer für den<br />

Deutschen Musikinstrumentenpreis erhalten. Der<br />

Deutsche Musikinstrumentenpreis, den die Hersteller<br />

für ihre B-Trompeten mit Perinet-Ventilen erhalten, ist<br />

ein Ehrenpreis. Die Gewinner können in ihrer Werbung<br />

auf den Gewinn des Preises hinweisen.<br />

8 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


»Ich liebe Dich«<br />

55 € *


Herausragende<br />

NEUHEITEN<br />

bei Sony Classical<br />

Jan Vogler<br />

Songbook<br />

Cellist Jan Vogler hat<br />

mit dem fantastischen<br />

finnischen Gitarristen<br />

Ismo Eskelinen in New York<br />

ein faszinieren des Album<br />

mit Werken für Gitarre und<br />

Cello aufgenommen.<br />

Erhältlich ab 14.06.<br />

O U V E R T Ü R E<br />

Was hört …?<br />

Cédric<br />

Tiberghien<br />

Der französische Pianist verrät uns seine<br />

Lieblingsaufnahmen.<br />

www.janvogler.com<br />

www.sinfonieorchesterbasel.ch<br />

Sinfonieorchester<br />

Basel<br />

The Secret Fauré 2<br />

Nach dem hochgelobten<br />

ersten Album „The Secret<br />

Fauré“ hat das Sinfonieorchester<br />

Basel unter der<br />

Leitung von Chefdirigent<br />

Ivor Bolton weitere selten<br />

zu hörende Werke des<br />

französischen Komponisten<br />

eingespielt.<br />

Sein aktuelles Album<br />

(Hyperion) enthält<br />

Sonaten für Violine<br />

und Klavier von Ysaÿe,<br />

Franck, Vierne und<br />

Boulanger<br />

Track 6 auf der<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Violinsonate A-Dur.<br />

I. Allegretto ben moderato<br />

von César Franck<br />

www.lauttencompagney.de<br />

www.nuriarial.com<br />

Lautten Compagney<br />

Gender Stories<br />

Die Lautten Compagney<br />

unter Wolfgang Katschner,<br />

Vivica Genaux und<br />

Lawrence Zazzo widmen<br />

sich der barocken Lust am<br />

Verwirrspiel der Geschlechter.<br />

Ein virtuoses Feuerwerk<br />

emotionaler und gefühlvoller<br />

Arien von Händel, Hasse,<br />

Porpora, Vivaldi und Galuppi.<br />

Nuria Rial<br />

Mother<br />

Sopranistin Nuria Rial,<br />

Flötistin Danya Segal,<br />

Komponistin Dima Orsho<br />

und das preisgekrönte<br />

Alte­Musik­Ensemble<br />

Musica Alta Ripa beleuchten<br />

Mutterrollen in Barockarien<br />

von Händel und Telemann<br />

und in Liedern aus dem<br />

Morgenland. Ein faszinierender<br />

musikalischer Dialog.<br />

1<br />

Richard Wagner: Tristan und Isolde; Carlos Kleiber<br />

Jede einzelne Note rührt mich zu Tränen, egal ob von diesem<br />

absoluten Genie gespielt (Carlos Kleiber ist mein musikalischer<br />

Held) oder von Margaret Price gesungen. Jede Linie, jede Artikulation<br />

ist Liebe, Leben, Mensch. Perfekt.<br />

2<br />

Erroll Garner: Concert by the Sea<br />

Diese Musik gehört mit zum außergewöhnlichsten Klavierspiel,<br />

das ich kenne – kombiniert mit der positivsten und glücklichsten<br />

Energie. Das Lächeln dauert mindestens eine Woche an!<br />

3<br />

Franz Schubert: Lieder;<br />

Gundula Janowitz und Irwin Gage<br />

Reinheit, Einfachheit, Schönheit. Die Kunst des Liedes, von einer<br />

der besten Sopranistinnen. Diese Bewunderung für Janowitz habe ich<br />

von meinem Großvater geerbt, der immer weinte, wenn er ihre<br />

„4 letzten Lieder“ von Strauss hörte.<br />

4<br />

Tord Gustavsen, Simin Tander,<br />

Jarle Vespestad: What was said<br />

Tord Gustavsen „reist“ immer mit mir. Ich höre auf fast allen Flügen<br />

seine großartigen Alben. Dieses spezielle drückt mit am eindrucksvollsten<br />

aus, was Emotionen in der Musik bedeuten. Das Spiel, die Auswahl<br />

der Lieder, die Sprache (Pashto) und die Art und Weise, wie sie<br />

erzählt/gesungen werden – alles geht direkt ins Herz.<br />

5<br />

Bach: Violin Concertos;<br />

Alina Ibragimova und Arcangelo; Jonathan Cohen<br />

Am besten treffen es die poetischen Worte von Henri Michaux:<br />

„Musique, art de l’élan“. Jede Linie führt irgendwo hin, ist in Bewegung,<br />

geht „nach oben“. Diese Musik ist vollkommen lebendige Musik. Sie belebt<br />

dich wochenlang! Sie bringt dich dazu, zu deinem Instrument zu<br />

rennen und zu spielen!<br />

WWW.SONYCLASSICAL.DE<br />

facebook.com/sonyclassical<br />

www.facebook.com/sonyclassical<br />

10 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


„Ein rotes Kleid ist eine Botschaft“<br />

Anruf bei Jan Meier, Leiter der Kostüm- und Maskenabteilung Salzburger Festspiele,<br />

die vom 20. Juli bis 31. <strong>August</strong> über die Bühne gehen.<br />

Herr Meier, wobei störe ich Sie gerade?<br />

Ich sitze vor den Bewerbungen der Hospitanten für die Salzburger<br />

Festspiele im Sommer. Alle möchten gern zu Jacques Offenbachs<br />

Orphée aux enfers mit Barrie Kosky und Victoria Behr. Was<br />

verständlich ist – nicht umsonst ist Victoria<br />

Behr Kostümbildnerin des Jahres.<br />

Wo liegt in Ihrer täglichen Arbeit momentan<br />

der Schwerpunkt?<br />

Soeben liegt der Fokus auf jenem Orphée. Es<br />

handelt sich hier um eine Co-Produktion mit<br />

der Komischen Oper Berlin. Ein Teil meines<br />

Teams, das diese Produktion betreut, ist<br />

gerade eine fahrende Werkstatt. Sie packen<br />

hier in Salzburg alles ein, vom Spiegel bis zur<br />

Nadel, und reisen dorthin, wo die Künstler<br />

dieser Produktion sind, und machen in diesem<br />

Fall in Berlin die Anproben.<br />

Worin bestehen die besonderen<br />

Herausforderungen?<br />

Die Herausforderung ist oftmals die Größe der<br />

Produktion. Wir haben Chorstärken von etwa<br />

100 Personen. Wie bekommt man diese Masse angezogen? Wir<br />

beginnen mindestens ein Jahr vorher mit der Vorbereitung und<br />

der Konzeption. Meine durchdachte Gesamtorganisation lässt<br />

aber auch spontane künstlerische Ideen zu. Planung und Logistik<br />

ist ebenso wichtig wie Intuition und Fingerspitzengefühl. Bei<br />

Produktionen der Größenordnung wie Simon Boccanegra von<br />

Giuseppe Verdi etwa braucht man Zeit. Oder 2018, bei Pique<br />

Dame, da wurden knapp 500 Kostüme für den Chor angefertigt<br />

– etwa fünf Kilometer Stoff! Damit hätten wir das Festspielhaus<br />

sehr gut einwickeln können.<br />

Hat man bei Kostümen und Maske die aktuelle Mode im Blick?<br />

Es gibt natürlich immer Einflüsse, und manchmal kommen die<br />

aus der Haute Couture. Als John Galliano für Dior oder Alexander<br />

McQueen ihre große Zeit hatten, hat man auffallend viele<br />

Abbildungen aus diesen Couture-Kollektionen gesehen. Momentan<br />

ist das eher weniger en vogue. Natürlich gibt es Zeitströmungen,<br />

die wir auch aufnehmen. Bei Peter Sellars’ Inszenierung von<br />

Jan Meier<br />

Mozarts Idomeneo ist das Thema Flüchtlinge sehr stark besetzt.<br />

Wir fragen uns dann: Welche Kleidung spiegelt dieses Thema?<br />

Wir recherchieren und übersetzen es für das Theater. Die<br />

Kostüme werden dann auf die Choristen und Statisten zugeschneidert.<br />

Eine spannende Herausforderung.<br />

Also gilt hier: „Kleider machen Leute!“?<br />

Das auf jeden Fall. Wir aus der Abteilung<br />

Kostüm und Maske sind am nächsten an der<br />

Person dran. Man geht heute sensibel auf<br />

Darsteller und Sänger ein. Nicht nur die<br />

Körperlichkeit ist relevant, sondern man fragt<br />

auch: Welcher Persönlichkeit stehe ich<br />

gegenüber, als Mensch und in seiner Rolle?<br />

Gibt es trotzdem noch Diven, mit denen man<br />

diskutieren muss?<br />

Immer wieder mal, aber seltener. Ich kenne<br />

Geschichten von früher, in denen spezielle<br />

Kostüme erstellt wurden, die bei der Sängerin<br />

nicht auf Gegenliebe stießen. Es ist bei uns<br />

Usus, dass man sich vorher mit den Protagonisten<br />

trifft und sie auch kostümtechnisch<br />

einlädt, sich „gemeinsam auf die Reise zu begeben“. Es ist wichtig,<br />

die Vorstellungen, wie sie eine Rolle anlegen und darstellen<br />

wollen, abzufragen und dies in die Umsetzung einzubringen.<br />

Vermitteln Kostüme Botschaften?<br />

Ein Kostüm etabliert einen Stil auf der Bühne. Ganz klar: Ein<br />

rotes Kleid ist eine Botschaft. Man setzt Farben für Charaktere<br />

ein. Kostüme unterstützen einen Charakter – hier gehen Regie,<br />

Bühne und Kostüm Hand in Hand.<br />

Der jüngst verstorbene Karl Lagerfeld hat einmal gesagt: „Wer<br />

Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“<br />

Wie stehen Sie zu dieser Meinung?<br />

Ich habe im vergangenen Jahr auf einer Fachtagung für Bestattungskultur<br />

einen Vortrag über die Entwicklung der Figur des<br />

Todes im Jedermann gehalten. In der Diskussionsrunde habe ich<br />

gefragt: „Warum trägt der Tod nicht auch mal Jogginghose?<br />

Warum ist er nicht der Mann von nebenan, der im Büdchen steht,<br />

sein Bier trinkt und sagt: ,Ich lauer auf dich!‘?“<br />

■<br />

DAVID JOHANNES RANFTL begegnete uns<br />

bei der Recherche zum Thema Fächer. Wir stießen<br />

dabei auf das Deutsche Fächermuseum in<br />

Bielefeld, dessen aktuelle Ausstellung „Ein Streifzug<br />

durch das Alte Europa“ er kuratiert. Ranftl<br />

begann bereits mit 13 Jahren, sich für Fächer des<br />

17. bis frühen 20. Jahrhunderts zu interessieren,<br />

der Weg zu einer heute sehr ansehnlichen Sammlung lag nahe. Das<br />

Studium der Kunstgeschichte ebenso, er schloss mit der Arbeit „Die<br />

Fächerkultur am Münchner Hof zwischen 1850 und <strong>19</strong>14“ ab. Für<br />

dieses Heft stellte er uns nicht nur die Fotos von Fächern aus seiner<br />

Sammlung zur Verfügung, sondern auch sein fundiertes Wissen und<br />

seine ansteckende Begeisterung. (www.faechersammlung.de)<br />

HINTER DEN KULISSEN<br />

Der Fotograf ROLAND STEITZ<br />

geht auf „Panorama-Jagd“. Entdeckt<br />

hat er die Panoramafotografie 2011<br />

und musste sich zunächst im Umgang<br />

mit dem Stativ, dem Panoramakopf<br />

und der Kamera üben.<br />

Mittlerweile erhält er, wie er selber<br />

findet, „brauchbare Ergebnisse“.<br />

Diese Einschätzung kann man mehr<br />

als teilen, wenn man sich die Panoramatouren<br />

vom Prinzregententheater,<br />

dem Münchner Siegestor, aber auch etwa einem Basketball-<br />

Court so ansieht ... (www.meinepanoramen.eu)<br />

FOTOS: C. BRASCH, BERLIN; PRIVAT; ROLAND STEITZ<br />

11


K Ü N S T L E R<br />

Auf einen Kaffee mit ...<br />

VALERY TSCHEPLANOWA<br />

VON PATRICK WILDERMANN<br />

FOTO: PATRICK WILDERMANN<br />

12 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Die deutsche Schauspielerin und Sängerin Valery Tscheplanowa (*<strong>19</strong>80)<br />

wurde im sowjetrussischen Kasan geboren. Sie spielt – gern auch in männlichen<br />

Rollen – auf den großen deutschen Bühnen, in Frank Castorfs Faust-<br />

Inszenierung an der Berliner Volksbühne sogar in drei Rollen. Nun gibt sie bei<br />

den Salzburger Festspielen neben Tobias Moretti die Buhlschaft.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Frau Tscheplanowa, könnten Sie mit jemandem<br />

befreundet sein, der einen wirklich miesen Musikgeschmack hat?<br />

Valery Tscheplanowa: Nein! Wobei sich natürlich die Frage stellt:<br />

Was ist das, richtig mieser Geschmack?<br />

Das, was Sie dafür halten.<br />

Für mich ist das alles Undefinierte, alles, was im Dazwischen<br />

verbleibt – Easy Listening also.<br />

Was hat Sie musikalisch geprägt?<br />

Ich war als junge Frau die Partnerin eines Komponisten, Samir<br />

Odeh-Tamimi. Ein klassischer, mittlerweile bekannter Komponist.<br />

Über ihn bin ich in die Neue-Musik-Szene reingewachsen.<br />

Als ich 16 oder 17 war, hing ich mit Klaus Huber oder Younghi<br />

Pagh-Paan rum – und schrieb Odeh-<br />

Tamimis Noten ab, weil er noch kein<br />

Geld hatte, um jemanden damit zu<br />

beauftragen. Ich konnte sie zwar nicht<br />

lesen. Aber sie abzuzeichnen, das ist ja<br />

nicht schwer.<br />

Also keine russischen Einflüsse?<br />

Doch. Im Alter zwischen 12 und 15, als<br />

ich schon in Deutschland lebte, hatte<br />

ich die russische Sprache vergessen, sie war komplett verschwunden.<br />

Und durch Lieder habe ich sie wiedergefunden, russische<br />

Romanzen größtenteils.<br />

In fast allen Theaterinszenierungen spielt Musik auf irgendeine<br />

Art eine Rolle. Hatten Sie schon mal eine Auseinandersetzung<br />

mit der Regie über den passenden Song?<br />

Ich habe ja viel gesungen auf der Bühne, zwischenzeitlich fast in<br />

jeder Inszenierung. Ja, es gab auch Auseinandersetzungen. Einige<br />

Arbeiten waren komplett auf Musik gebaut, zum Beispiel die<br />

Inszenierungen von Philipp Preuß, Die bitteren Tränen der Petra<br />

von Kant oder Alice im Wunderland. Preuß ist ein Regisseur, der<br />

nicht so extrem führt. Die Fassung von Alice war damals 120 Seiten<br />

lang, die musste ich mir als Spielerin selbst zurechtschneiden. Und<br />

genau so üppig waren seine Musikvorschläge. Durch die musste ich<br />

mich hacken wie durch einen Dschungel!<br />

Ein besonders glücklicher Moment mit Musik auf der Bühne?<br />

Den hatte ich mit den Liedern von Franz Schubert in Frank<br />

Castorfs Faust-Inszenierung. Drei Sonnen, Der Wanderer, Der<br />

Tod und das Mädchen, alles a cappella, das hat mir sehr gefallen.<br />

Als Russin berührt es mich auf ganz besondere Weise, in einer<br />

Faust-Inszenierung Der Wanderer zu singen. Eine Begegnung von<br />

Seele zu Seele, traue ich mich mal zu sagen. Der Gesang ist in mir<br />

schon eher russisch. Mich mit diesen deutschen Liedern verorten<br />

zu können, war wie ein Ankommen in der Musik. Auf eine andere<br />

Art habe ich das auch in Zement so erlebt.<br />

Der Heiner-Müller-Inszenierung des Regisseurs Dimiter<br />

Gotscheff, mit dem Sie ebenfalls viel gearbeitet haben.<br />

In der Inszenierung habe ich russische Lieder gesungen. Teilweise<br />

aus meinem Dorf, Lieder, die ich von meiner Großmutter kannte.<br />

Gottscheff wollte in den Proben wissen, woran ich mich aus der<br />

Kindheit noch erinnere, und hat das eingebaut.<br />

Haben Sie eine Art Soundtrack, den Sie in der Garderobe<br />

hören, bevor Sie auf die Bühne gehen?<br />

WENN SCHON EIN BISSCHEN<br />

WODKA GEFLOSSEN IST, FANGE<br />

ICH AN ZU SINGEN UND NÖTIGE<br />

AUCH DIE ANDEREN DAZU<br />

Nein, da mag ich die Stille.<br />

Sie haben schon als Jugendliche Gesangs- und Tanzabende für<br />

reiche Ärzte und Anwälte veranstaltet. Wie kam es dazu?<br />

(lacht) Wo haben Sie das denn ausgegraben?<br />

In einem alten Porträt über Sie.<br />

Also, mein Vater ist Mathematiker, und ich war gut in Mathe.<br />

Deswegen boomte die Nachhilfe! Ich machte Mordskohle, weil so<br />

viele Mitschülerinnen gerne von einem Mädchen unterrichtet<br />

werden wollten. Eine dieser Nachhilfeschülerinnen hatte ich mich<br />

singen gehört und ihrer Mama davon erzählt. Und die kam auf<br />

die Idee, dass ich bei ihr im Wohnzimmer vor reichen Gästen<br />

einen Abend veranstalten sollte. Also habe ich Lieder gesungen,<br />

getanzt, Gedichte vorgetragen und<br />

Malerei von mir gezeigt. Drei- oder<br />

viermal habe ich das gemacht.<br />

Später, während des Studiums in<br />

Dresden, wurden Sie dann eine<br />

singende Kellnerin ...<br />

Das war auch totaler Zufall! Ich habe<br />

als Kellnerin in einem russischen<br />

Restaurant gearbeitet, weil es mir am<br />

vertrautesten erschien. Dort trat ein Akkordeonist auf, ich kannte<br />

das Lied, das er spielte, und habe dazu gesungen. Den Gästen gefiel<br />

das. Dann stieß noch eine Flötistin dazu, die vorschlug: Lasst uns<br />

eine Gruppe gründen. Daraus wurden „Die Sinnverwandten“. Ich<br />

habe Essen serviert, bin runter auf die Bühne und habe gesungen,<br />

dann wieder Bier gezapft. Immer abwechselnd. Das hat mir das<br />

Kellnern enorm erleichtert. Und es floss viel Trinkgeld. Das<br />

Publikum des Restaurants bestand größtenteils aus Bauarbeitern<br />

und Bauunternehmern. Es gab Wodka, Schaschlik ...<br />

Warum ging es mit den „Sinnverwandten“ zu Ende?<br />

Weil ich mit <strong>19</strong> nach Berlin gezogen bin, um Puppenspiel zu<br />

studieren. In Dresden hatte ich diese Gruppe, habe Ausstellungen<br />

veranstaltet, es schrieben schon Zeitungen über mich. Ich war<br />

dabei, mir in der Underground-Szene einen Namen zu machen,<br />

aber meine Mutter meinte: Du musst studieren. Lern was<br />

Anständiges!<br />

Hatten Sie nie den Impuls, professionell Musik zu machen?<br />

Die Dichtersprache hat mich angezogen. Einen Schiller, einen<br />

Kleist zu spielen ist für mich etwas anderes, als ein Lied zu singen.<br />

Erinnern Sie sich noch an andere Momente, auch abseits der<br />

Bühne, in denen Musik Ihnen das Leben erleichtert hat?<br />

Unzählige. Ich habe auch die Angewohnheit, Leute zum Singen<br />

zu zwingen, davon gibt es einige Aufnahmen auf meinem Handy!<br />

Wenn ich Gäste habe und schon ein bisschen Wodka geflossen ist,<br />

fange ich an zu singen und nötige dann auch die anderen dazu.<br />

Erstaunlich, was dabei alles wieder hochkommt, an Kindheitsliedern<br />

vor allem.<br />

Ist das Singen für viele schambehaftet?<br />

Sagen wir so: Es ist in Russland normaler zu singen. Ein Klischee,<br />

aber auch wahr. Wenn man zusammensitzt, gehört es dazu, dass<br />

man irgendwann singt. Das ist in Deutschland nicht so. Am<br />

ehesten in Bayern vielleicht. Dabei können viele Menschen<br />

wunderbar singen und kennen tolle Lieder.<br />

■<br />

13


K Ü N S T L E R<br />

FOTO: ANGIE KREMER<br />

14 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


MIT LEIDENSCHAFT FÜR DIE MUSIK DER GEGENWART: GIDON KREMER<br />

RETTET DEN KOMPONISTEN VOR DEM VERGESSEN<br />

GERECHTIGKEIT<br />

FÜR<br />

WEINBERG<br />

Gidon Kremer zählt zu den größten Geigern überhaupt.<br />

Umso mehr wiegt die Wertschätzung, die er<br />

Mieczysław Weinberg zu dessen 100. Geburtstag schenkt:<br />

Mit einer Weltersteinspielung ehrt er den Komponisten,<br />

der viel zu lange im Schatten seines<br />

Freundes Dmitri Schostakowitsch stand.<br />

VON CORINA KOLBE<br />

Für die Musik der Gegenwart hat sich Gidon Kremer schon früh voller<br />

Leidenschaft eingesetzt. In der Sowjetunion traf der gebürtige Lette<br />

Künstler aus Russland und Osteuropa, die sich ihre Freiräume in dem totalitären<br />

Staat täglich neu erobern mussten. „Ich interessierte mich damals vor<br />

allem für Komponisten wie Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, Arvo Pärt<br />

oder Valentin Silvestrov, die alle im Untergrund arbeiteten“, erinnert sich<br />

Kremer. Mit den Werken von Mieczysław Weinberg begann er sich erst viel<br />

später zu beschäftigen. „Als ich in den 60er-Jahren in Moskau studierte, erlebte<br />

ich ihn zwar als Pianist mit meinem Lehrer David Oistrach, dem Cellisten<br />

Mstislaw Rostropowitsch oder der Sopranistin Galina Wischnewskaja. Doch<br />

leider habe ich es versäumt, ihn persönlich kennenzulernen.“ Erst nach der<br />

Gründung seiner Kremerata Baltica <strong>19</strong>97 entdeckte der weltbekannte Geiger<br />

allmählich Weinbergs umfangreiches Oeuvre. 154 seiner Werke sind erhalten,<br />

15


K Ü N S T L E R<br />

darunter 22 Sinfonien, vier<br />

Kammersinfonien, sechs Opern<br />

sowie Ballette, Film- und Zirkusmusik.<br />

„Auf der Suche nach<br />

Stücken für mein Ensemble<br />

machte ich Ausflüge in die Welt<br />

der unbekannten Musik. Weinberg<br />

war zu dem Zeitpunkt<br />

schon tot. Mittlerweile habe ich<br />

an die 15 Werke von ihm<br />

gespielt.“<br />

Zum 100. Geburtstag des<br />

Komponisten im Dezember hat<br />

Kremer zum ersten Mal die 24<br />

Präludien, die Weinberg für Rostropowitsch<br />

schrieb, in seiner<br />

eigenen Bearbeitung für Violine<br />

aufgenommen. „Die Musikwelt<br />

hat ihn lange Zeit stark unterschätzt.<br />

Zu seinem Geburtstag<br />

möchte ich ihm Gerechtigkeit<br />

widerfahren lassen.“ Warum Rostropowitsch das ihm gewidmete<br />

Werk nie aufgeführt hat, weiß Kremer nicht. Er selbst wurde erst<br />

durch andere Cellisten darauf aufmerksam. „Als ich dann hörte,<br />

dass eines der Präludien einen Bezug zu Schumann hatte, klickte<br />

es plötzlich bei mir. Ich beschloss, den Zyklus für Violine zu setzen.<br />

Damit ist ein neues Werk entstanden, das hoffentlich viele Geiger<br />

animieren wird, diese Musik zu spielen.“<br />

Auf einem kleinen abgelegenen Landgut im äußersten Osten<br />

Litauens hat Kremer die Präludien auf CD eingespielt. „Dieser Ort<br />

vermittelt die Intimität und Ruhe, die diese Musik braucht, um auf<br />

uns zu wirken.“ Wenn er den Zyklus im Konzert aufführt, werden<br />

dazu oft eindringliche Schwarz-Weiß-Bilder des litauischen Fotografen<br />

Antanas Sutkus an die Bühnenwand projiziert. „Es ist nicht<br />

einfach, beides miteinander in Einklang zu bringen“, erzählt er. „Die<br />

wunderbaren Fotos kommen und gehen, während ich weiterspiele.<br />

Sie sollen nicht von der Musik ablenken, sondern das Hörerlebnis<br />

intensivieren. Im Grunde geht es um Emotionen, die Töne und Bilder<br />

gleichermaßen auslösen können.“ Die Präludien und die Bilder<br />

sind als Brücke zu einer Welt gedacht, die es heute nicht mehr gibt.<br />

Das Projekt trägt daher den beziehungsreichen Titel „Preludes to a<br />

lost time“, in Anlehnung an Marcel Prousts literarisches Meisterwerk<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Mitschnitt eines<br />

Konzerts im Gogol Center in Moskau ist in Paul Smacznys Filmporträt<br />

Gidon Kremer – Finding Our Own Voice zu sehen, das Accentus<br />

im Mai als DVD herausbringt.<br />

Die Gründe, warum Weinberg lange Zeit ein Schattendasein<br />

führte, sind vielfältig. Die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und<br />

Verfolgung hat sein Leben tief geprägt. Im Dezember <strong>19</strong><strong>19</strong> in Warschau<br />

geboren, schrieb der Sohn eines Musikers seine ersten Stücke<br />

bereits als Jugendlicher und studierte am Konservatorium Klavier.<br />

Wegen seiner jüdischen Herkunft floh er bei Ausbruch des Zweiten<br />

Weltkriegs vor den Nazis in die weißrussische Stadt Minsk, wo er<br />

sich bei Wassili Solotarjow, einem Schüler von Nikolai Rimski-Korsakow,<br />

in Komposition ausbilden ließ. Als die Wehrmacht im Sommer<br />

<strong>19</strong>41 die Sowjetunion überfiel, rettete er sich nach Taschkent<br />

in Usbekistan. Seine Eltern und die jüngere Schwester, die in Polen<br />

geblieben waren, wurden im KZ ermordet.<br />

Als Dmitri Schostakowitsch auf Weinbergs Erste Sinfonie aufmerksam<br />

wurde, lud er den jungen Künstler <strong>19</strong>43 nach Moskau ein,<br />

wo er bis zu seinem Tod <strong>19</strong>96 lebte. Weinberg hatte ein enges Verhältnis<br />

zu seinem Mentor. Die düstere Grundstimmung, die Schostakowitschs<br />

Werke durchzieht, ist auch bei Weinberg zu spüren. Die<br />

Freundschaft zwischen ihnen habe immer wieder Anlass zu Missverständnissen<br />

gegeben, bedauert Kremer. „Oft hieß es, Weinberg<br />

„DIESE MUSIK BRAUCHT INTIMITÄT UND<br />

RUHE, UM AUF UNS ZU WIRKEN“<br />

FOTO: GIEDRE DIRVANAUSKAITE<br />

sei lediglich Schostakowitschs<br />

Schüler und ein zweitrangiger<br />

Komponist gewesen. Dabei<br />

spricht vieles dafür, dass sie sich<br />

gegenseitig beeinflusst haben.<br />

Das erkennt man beispielsweise<br />

bei Weinbergs Zehnter Sinfonie,<br />

die kurz vor Schostakowitschs<br />

14. Sinfonie entstand“, erklärt er.<br />

„Weinbergs Sinfonie wurde zwar<br />

ohne Sänger und Schlagwerk<br />

konzipiert, doch der Einsatz der<br />

Streichinstrumente ist ähnlich<br />

wie bei Schostakowitsch. Ich<br />

denke, dass sie Brüder im Geiste<br />

waren und dass sie das, was sie<br />

an der Realität störte, in ihre<br />

Musik hineinprojizierten.“<br />

Wie Schostakowitsch geriet<br />

auch Weinberg wegen seines<br />

Kompositionsstils ins Visier der<br />

sowjetischen Behörden. Ihm wurden „formalistische Tendenzen“<br />

vorgeworfen, weil seine Werke nicht der offiziellen Kulturdoktrin<br />

entsprachen. Um finanziell zu überleben, schrieb er Film- und Zirkusmusik.<br />

Weinberg wurde in der Sowjetunion nicht nur wegen<br />

seiner polnischen Herkunft diskriminiert. Er bekam auch antisemitische<br />

Kampagnen am eigenen Leib zu spüren. Sein Schwiegervater<br />

Solomon Michoels, Gründer des Moskauer Jüdischen Theaters,<br />

starb <strong>19</strong>48 bei einem Mordanschlag, den die Geheimpolizei als<br />

Autounfall inszeniert hatte. <strong>19</strong>53 wurde der Komponist unter dem<br />

Vorwand inhaftiert, sich für die Ausrufung einer jüdischen Republik<br />

auf der Krim eingesetzt zu haben. Der selbst vom Regime drangsalierte<br />

Schostakowitsch forderte in einem mutigen Brief die Freilassung<br />

des Freundes. Die Gefängnistore öffneten sich für ihn aber<br />

erst nach dem Tod Stalins einige Monate später. Einem größeren<br />

Publikum wurde Weinberg posthum bekannt, als die szenische<br />

Uraufführung seiner Oper Die Passagierin 2010 bei den Bregenzer<br />

Festspielen als Sensation gefeiert wurde.<br />

Gidon Kremer engagiert sich dafür, Weinbergs Musik in die<br />

Welt hinauszutragen. Zu seinem 70. Geburtstag und zum 20-jährigen<br />

Bestehen der Kremerata Baltica spielten Kremer und sein<br />

Ensemble 2017 alle Kammersinfonien Weinbergs sowie das Klavierquintett<br />

op. 18 mit der Pianistin Yulianna Avdeeva ein. Anfang Mai<br />

erscheint ein Doppelalbum, auf dem das City of Birmingham Symphony<br />

Orchestra unter Leitung seiner Chefin Mirga Gražinytė-Tyla<br />

gemeinsam mit der Kremerata zu hören ist. „Neben der Zweiten<br />

Sinfonie, einem Jugendwerk, haben wir die letzte vollendete Sinfonie<br />

mit dem Beinamen Kaddish aufgenommen. Ein unglaubliches<br />

Werk!“, schwärmt Kremer.<br />

Mit seinem Kammerorchester plant er in diesem Jahr noch<br />

eine Weinberg-Hommage, die mit visuellen Elementen verbunden<br />

ist. Im <strong>Juni</strong> wird diese Performance beim Holland Festival in Amsterdam<br />

ihre Weltpremiere erleben. Der Titel „Chronicle of Current<br />

Events“ ist eine Anspielung auf eine Zeitschrift, die in der Sowjetunion<br />

in den 70er-Jahren im Untergrund zirkulierte. „Bei der Aufführung<br />

werden wir Videos zeigen, die russische Künstler in Zusammenarbeit<br />

mit dem in Russland inhaftierten Regisseur Kirill Serebrennikow<br />

gemacht haben“, verrät Kremer. „Weinbergs Musik wird<br />

keine bloße Zuspielung zu den Bildern sein, sondern die Bilder<br />

werden unter dem Eindruck der Musik entstehen.<br />

Auch mit diesem Experiment wollen wir dazu beitragen,<br />

seinen 100. Geburtstag würdig zu feiern.“<br />

<br />

n<br />

Mieczysław Weinberg: „24 Preludes“, Gidon Kremer (Accentus)<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


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K Ü N S T L E R<br />

EINE<br />

UNGEWÖHNLICHE<br />

GESCHICHTE<br />

Wirklich geschmeidig lief seine Karriere nicht an. Weil er als<br />

autodidaktisches Wunderkind, aufgewachsen im toskanischen Hinterland,<br />

nicht ins deutsche Fördersystem passte, musste der Geiger<br />

<strong>August</strong>in Hadelich erst einen Umweg über New York machen.<br />

Nun ist er in Deutschland angekommen.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Auf einem Youtube-Video packen Sie aus Ihrem<br />

Geigenkasten alles aus, was Ihnen wichtig ist. Zunächst eine<br />

Postkarte von Riparbella ...<br />

<strong>August</strong>in Hadelich: ... einem kleinen Ort in der Toskana mit<br />

1.600 Seelen. Da bin ich aufgewachsen. Meine deutschen Eltern<br />

ließen sich in den 80ern in Riparbella nieder, um Oliven und<br />

Wein anzubauen – alles noch vor der großen Italienwelle.<br />

... als es sich Politiker und Alt-68er – die berühmte Toskana-<br />

Fraktion –, ermüdet vom „Marsch durch die Institutionen“, in<br />

Italien gut gehen ließen.<br />

Ja. Denn das Leben auf einem echten Bauernhof ist nicht so<br />

idyllisch, wie sich das viele Menschen aus der Stadt vorstellen.<br />

Im Gegenteil: Es ist ganz schön hart. Es war schön dort, doch<br />

musikalisch ziemlich abgelegen.<br />

Mit fünf fingen Sie an, Geige zu spielen, auf einem Instrument<br />

aus dem Supermarkt!<br />

Richtig. Mein Vater war mein erster Lehrer. Er war kein Profimusiker<br />

und begleitete mich zu anderen Lehrern und zu Kursen.<br />

Ich hatte zwischen den Unterrichtsstunden immer wochenlange<br />

Pausen, in denen ich selbst arbeitete. Es kommt ja nicht zwingend<br />

auf die Anzahl der Stunden an. Viele Musiker machen die<br />

Erfahrung, dass sie erst nach dem Studium endlich alles machen,<br />

18 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Üben ist für <strong>August</strong>in Hadelich wie ein<br />

komplexes Denksportspiel: Um etwas<br />

technisch Schweres zu bewältigen, unterteilt<br />

man es in kleine Aufgaben, bevor man es<br />

wieder zusammensetzt<br />

was der Lehrer ihnen jahrelang gesagt hatte, eben weil sie es<br />

nicht mehr regelmäßig jede Woche zu hören bekommen. Ich<br />

hatte gute, sehr unterschiedliche Lehrer: vom italienischen<br />

Geiger Uto Ughi, der für mich als Kind ein großes Vorbild war,<br />

über Christoph Poppen, Igor Ozim hin zu Norbert Brainin vom<br />

Amadeus Quartett, der ein Haus in der Nähe von Florenz hatte.<br />

Auch Franz Fischer, Konzertmeister des Philharmonischen<br />

Orchesters Würzburg, setzte sich für Sie ein. Im Interview<br />

beklagt er, die deutsche Musikratsszene habe Sie „ausgegrenzt“,<br />

weil Sie als quasi autodidaktisches Wunderkind aus<br />

dem toskanischen Hinterland nicht in das Idealbild des<br />

FOTO: LUCA VALENTA<br />

Förder systems passten.<br />

Ich sehe das weniger so und verstehe die Skepsis, wenn jemand<br />

plötzlich aus Italien nach Deutschland kommt. Viele kamen mit<br />

der Geschichte nicht zurecht, weil sie ungewöhnlich war. Mit 20<br />

zog ich nach New York, um an der Juilliard School zu studieren.<br />

Meine Karriere nahm dann auch in Amerika ihren Anfang, nach<br />

dem Gewinn des Geigenwettbewerbs in Indianapolis 2006,<br />

und machte einige Jahre später den Sprung nach Europa, weil<br />

Dirigenten, die mit mir in den USA gespielt hatten, mich zu<br />

europäischen Orchestern mitnahmen.<br />

Musikstudenten kommen aus aller Welt nach Deutschland und<br />

Österreich, weil hier die Wiege der klassischen Musiktradition<br />

ist und die Hochschulen kaum etwas kosten. Sie aber gingen<br />

nach New York.<br />

Ich wollte unbedingt in die ganz große Stadt, gerade weil ich aus<br />

Riparbella kam. Kurzzeitig war ich in Berlin – ein Kulturschock<br />

für mich. In New York fand ich in puncto Wetter und Essen<br />

mehr Nähe zu Italien und fühlte mich sofort wohl – eine Stadt,<br />

in der meine Geschichte nicht aus dem Rahmen fiel. New York ist<br />

sehr stimulierend, eine Stadt, die niemals schläft! Das Kulturleben<br />

ist unglaublich intensiv, und alle wichtigen Musiker und<br />

Orchester kommen vorbei.<br />

In Ihrem Geigenkoffer findet sich auch ein Rubikwürfel.<br />

Ich reise natürlich nicht mit dem Würfel um die Welt, aber<br />

komplexe Denksport- und Brettspiele liegen mir sehr. Der<br />

Rubikwürfel kann von einem Menschen nicht in einem Anlauf<br />

gelöst werden – erst wenn man diese Aufgabe in kleinere Schritte<br />

zerlegt, ist sie lösbar. Ähnlich ist es auch beim Üben: Um etwas<br />

technisch Schweres zu bewältigen, muss man es oft in kleinere<br />

Aufgaben unterteilen und an den kleinen technischen Details<br />

isoliert arbeiten, ehe man alles wieder zusammensetzt.<br />

Im Koffer haben Sie außerdem eine Ausgabe des<br />

„New Yorker“.<br />

Ich liebe dieses Magazin! Der „New Yorker“ verwendet für<br />

Porträts oder Kritiken meistens Zeichnungen statt Fotos. Ich bat<br />

einen Zeichner, der mich 2009 fürs „New Yorker“-Magazin<br />

zeichnete, das Coverbild für mein nächstes Album mit den<br />

Violinkonzerten von Brahms und Ligeti zu gestalten.<br />

Sehr modern, farbenfroh und abstrakt ...<br />

Ich wollte nicht, dass der Name Ligeti die Menschen verschreckt<br />

und das Album womöglich düster oder abweisend<br />

aussieht. Es sollte vielmehr farbig, aufregend und hell sein,<br />

genau wie die Musik auf dem Album. Ich spiele auf dieser<br />

Aufnahme meine eigene Kadenz zum Brahms-Konzert und eine<br />

tolle neue Kadenz für das Ligeti-Konzert des<br />

britischen Komponisten Thomas Adès. Es war<br />

ein Traum, diese beiden großen Konzerte<br />

zusammen aufzunehmen!<br />

n<br />

Brahms, Ligeti: „Violinkonzerte“, <strong>August</strong>in Hadelich (Warner)<br />

<strong>19</strong>


K Ü N S T L E R<br />

DER HEXENMEISTER<br />

UND SEINE GEISTER<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

Er mag keine Etiketten. Und wehrt sich, immer nur der geniale Virtuose zu sein.<br />

Vielmehr will der Schweizer Flötist Maurice Steger die Seele seines Instruments<br />

offenbaren und vermitteln. Weil er seinem Klang bedingungslos verfallen ist.<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

20 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


A<br />

„DER<br />

ls Maurice Steger acht Jahre alt war, reichte es ihm.<br />

Nach nur wenigen Unterrichtsstunden flog der motorisch<br />

überforderte Junge aus dem Blockflötenunterricht und verbannte<br />

das Instrument im hintersten Winkel unter seinem Bett. Es<br />

hätte das frühe Ende einer musikalischen Karriere sein können.<br />

Wäre da nicht dieser einzigartige Klang der Flöte gewesen, ungeschminkt,<br />

klar und intim, der Steger auch in den folgenden Jahren<br />

nicht losließ. Während seine Flöte unter dem Bett ihr Dasein fristete,<br />

spielten seine Schulkameraden bald die ersten Stücke. Steger<br />

war begeistert und versuchte drei Jahre später abermals sein Glück<br />

– mit Erfolg. Schnell zeigte sich sein Talent, mit 15 wurde er Jungstudent<br />

an der Musikhochschule in Zürich, später studierte er bei<br />

Pedro Memelsdorff und Kees Boeke und startete direkt nach dem<br />

Studium eine einzigartige Karriere.<br />

Heute ist Maurice Steger einer der bekanntesten Interpreten<br />

überhaupt an der Blockflöte und hat dem Instrument zu neuer Blüte<br />

und Popularität verholfen. Die medialen Zuschreibungen sind zahlreich,<br />

und an Superlativen mangelt es nicht. Steger wird als „Superstar“<br />

gehandelt, als „Paganini“ und „Hexenmeister“ – meist steht<br />

sein technisches Virtuosentum im Vordergrund. Steger selbst fühlt<br />

sich damit nicht immer wohl. „Ganz ehrlich – das nervt total“, sagt<br />

Steger und seufzt. „Ganz egal, was ich spiele, überall muss der Virtuose<br />

mit draufstehen. Ich kann es nicht mehr hören.“ Natürlich sei<br />

er vor allem mit solistischem Repertoire bekannt geworden, entsprechend<br />

„an vorderster Front unterwegs“ und medial präsent gewesen.<br />

„Das prägt natürlich ein bestimmtes Image“, so Steger und zuckt<br />

ratlos mit den Schultern. Es sei aber nur eine von vielen Facetten.<br />

Sein musikalisches Leben ist weitaus bunter und vielschichtiger,<br />

als es die Stempel vermuten lassen. Steger spielt und dirigiert,<br />

er lehrt und forscht und konzipiert erstklassige Festivals ebenso wie<br />

hervorragend aufbereitete Kinderkonzerte. Immer wieder wird er<br />

bei seinen Projekten auch zum musikalischen Schatzgräber, der in<br />

verschwiegene Bibliotheken abtaucht und längst vergessene Kostbarkeiten<br />

zutage bringt.<br />

An einem sonnigen Vormittag im April sitzt der 48-Jährige in<br />

einem Probenraum in der Bruckneruniversität in Linz. Zwischen<br />

unterschiedlichen Konzertprojekten gibt er hier für ein paar Tage<br />

einen Meisterkurs, wenig später wird er ein paar Räume weiter mit<br />

den Studenten über die Kunst der Phrasierung philosophieren, die<br />

Bedeutung der Spielanweisung „cantabile“ und die Geheimnisse<br />

des kammermusikalischen Dialogs. Steger ist ein energiegeladener<br />

und charismatischer Mann mit wachem Blick und impulsiver Gestik.<br />

Beseelt von der Musik und den Ausdrucksmöglichkeiten seines<br />

Instruments, scheinen seinem Tatendrang kaum Grenzen gesetzt.<br />

Diese Gestaltungskraft spiegelt sich auch in seinen Interpretationen.<br />

Federnd, lebendig und direkt kommt sein Spiel daher, wendig und<br />

spannungsvoll, füllig und schlank zugleich. Dass die Blockflöte mit<br />

Maurice Steger zu einem Höhenflug ansetzte, liegt neben Stegers<br />

Spiel auch an einer entscheidenden Weiterentwicklung im Flötenbau.<br />

„Ich bin schon früh mit Orchestern in großen Sälen aufgetreten.<br />

Da kommt man mit einer klassischen Blockflöte akustisch sehr<br />

schnell an die Grenzen. Die Frage war nun: Wie kann man den<br />

Klang, der ja ursprünglich für barocke Salons komponiert worden<br />

war, so übersetzen, dass er auch in großen Sälen funktioniert, ohne<br />

dass die barocke Substanz verloren geht?“ Die Lösung war eine<br />

„sanfte Erweiterung“, wie Steger sagt. In Zusammenarbeit mit dem<br />

Schweizer Blockflötenbauer Ernst Meyer entstanden voluminöse<br />

Blockflöten, bei denen der Windkanal geweitet ist und ein deutlich<br />

KLANG DER FLÖTE HAT ETWAS GANZ DIREKTES,<br />

UNGEKÜNSTELTES. MAN HÖRT DEN MENSCHEN“<br />

größerer Ton möglich ist. „Diese Art von Spiel ist viel körperlicher“,<br />

sagt Steger. „Man braucht den ganzen Körper, das ist wie beim<br />

Singen, und es entstehen dadurch ganz andere Obertöne und eine<br />

völlig neue Dynamik. Damit kommt man in abenteuerliche Regionen“,<br />

sagt Steger und lacht. Was für ihn eine spannende Ergänzung<br />

war, sehen manche Blockflötisten mit Blick auf den historischen<br />

Originalklang durchaus kritisch. Und so gibt es mittlerweile verschiedene<br />

„Schulen“, die nur schwer miteinander vereinbar sind.<br />

Steger ist sich der Kritik durchaus bewusst, doch wenn es darum<br />

geht, große Hallen zu füllen, sind die modernisierten Flöten aus<br />

seiner Sicht die Zukunft.<br />

Stereotype und starre Regeln interessieren den Flötenmeister<br />

wenig. Das war schon im Blockflötenunterricht so. Heute gilt es<br />

mehr denn je. Ihm geht es um das möglichst unmittelbare und<br />

intensive Erleben von Musik. Die Flöten sind für Steger dabei ein<br />

„Spiegel der Seele“. Die Menge der Luft, die Temperatur, die<br />

Geschwindigkeit, die Dichte – alles ist von Bedeutung beim Spiel<br />

mit den Klangfarben, und nichts bleibt dabei verborgen. „Man kann<br />

sich dahinter nicht verstecken“, sagt Steger, und wenn Körper und<br />

Seele nicht im Einklang seien, funktioniere es nicht.<br />

Auch auf seinem neuen Album prangt marketingtauglich der<br />

„Virtuosen“-Stempel, doch wieder einmal trügt das simple Image.<br />

Unter dem Titel „Mr Handel’s Dinner“ vereint Steger darauf verschiedenste<br />

„Favorites“ von Händel und Zeitgenossen, die in den<br />

Pausen zwischen den einzelnen Akten der Oper gespielt wurden.<br />

„Das waren Stücke, die man gern hatte und die jeder kannte. Sie<br />

wurden von den Kindern auf dem Nachhauseweg gepfiffen – das<br />

muss man sich mal vorstellen“, sagt Steger. Ein Opernbesuch war<br />

zu jener Zeit nicht selten ein Tagesausflug. „Die Leute haben<br />

damals richtig viel Zeit im Theater verbracht, und die Pausen dauerten<br />

mehrere Stunden. Da musste man die Leute bei der Stange<br />

halten“, sagt der Flötist schmunzelnd. Entsprechend wurde gefeiert,<br />

gegessen und Musik gespielt. Die Oper selbst bot den Rahmen<br />

für dieses unterhaltsame Gesamterlebnis, und Steger ist es zusammen<br />

mit dem La Cetra Barockorchester Basel unter seiner Leitung<br />

gelungen, die genussvolle Sinnlichkeit und die bunte Atmosphäre<br />

von damals eindrucksvoll auf seinem Album nachzuempfinden.<br />

„Das war eine wahnsinnig spannende Zeit. Die Form der Oper<br />

war lange noch nicht so geschlossen wie heute. Händel hat zum<br />

Beispiel fast jede Arie auch für Blockflöten-Solo arrangiert und<br />

eine fantastische Vielfalt an Stücken geschaffen. Die Aufführung<br />

einer Oper war das Gegenteil der starren, steifen Konzertformen<br />

heute. Da wurde gefeiert und die einzelnen Arien waren wahre<br />

Hits, die man immer wieder hören wollte. Diesen Geist vermisse<br />

ich heute sehr“, so Steger.<br />

In seiner eigenen Arbeit versucht Steger, diesen Geist und diese<br />

Offenheit der Musik gegenüber immer wieder neu zum Leben zu<br />

erwecken. Bis heute ist es der Klang der Flöte, der den Schweizer<br />

stets aufs Neue zu Höchstleistungen anspornt. „Ich liebe diesen<br />

Klang!“, sagt Steger mit leuchtenden Augen. „Selbst wenn ein Erstklässler<br />

keine Ahnung von gar nichts hat, wirklich alles falsch macht<br />

und in eine Flöte reintutet, liebe ich diesen Klang. Er hat etwas ganz<br />

Direktes, Ungekünsteltes. Man hört den Menschen.<br />

Und man hört, wie der Mensch an sich<br />

arbeiten muss.“<br />

n<br />

G. F. Händel: „Mr Handel’s Dinner“, Maurice Steger (Harmonia Mundi)<br />

Track 9 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: A Ground von Gottfried Finger<br />

21


K Ü N S T L E R<br />

Z<br />

VERRÜCKT NACH<br />

BARTÓK<br />

… aber offen für alles. Die Violinistin Fabiola Kim macht sich auf, eine der ganz<br />

Großen ihres Fachs zu werden. Weil ihr die Geige nicht nur Flügel verpasst, sondern<br />

weil sie selbst gestalten und neue Werke individuell zum Klingen bringen will.<br />

wei, die nicht von ihrer Seite weichen: ihre Stradivari<br />

und ihr Hund Captain, ein weiß gelockter, struppig-kuscheliger<br />

Bichon Frisé mit klugen Kulleraugen. Fabiola Kim ist ein<br />

neuer Name im Kreis der Herausragenden ihres Fachs: für jede Herausforderung<br />

offen, wendig, von spielerischer Eleganz und beeindruckender<br />

Repertoirevielfalt. Die Violinistin Fabiola Kim ist auf dem<br />

Weg in die Spitzenklasse. Sie bekommt Flügel, wenn sie spielt, weiß<br />

elektrisierend die Spannung zwischen den Tönen hörbar zu machen,<br />

streicht mit schwelgender Dynamik und bestechender Klarheit.<br />

Geboren in New York, beginnt Fabiola Kim mit viereinhalb<br />

Jahren Geige zu spielen. Mit fünf kehrt sie mit ihren koreanischen<br />

Eltern zurück nach Seoul. Ihr Mutter ist Violinistin, ihr Vater Pianist,<br />

Dirigent und in Korea ein<br />

angesehener Professor. Ihre<br />

Eltern fördern sie, raten ihr aber<br />

ab, da raus einen Beruf zu<br />

machen – zu schwierig, zu steil<br />

und mühsam sei der Weg. Kim<br />

lässt sich nicht abhalten, spielt, übt und gewinnt zahlreiche Wettbewerbe.<br />

„Was mich von Anfang an fasziniert hat, ist, dass die Geige<br />

nur vier Saiten hat. Ich fragte mich immer, woher nur all die Töne<br />

kommen, all die Klangfarben – und da wusste ich, ich will nur eins:<br />

Geige spielen. Meine Mutter war überhaupt nicht begeistert und<br />

fragte, warum ich nicht Klavier lernen wolle, dann könnte mein<br />

Vater mich unterrichten.“ Fabiola Kim lacht: „Aber ich antwortete,<br />

dass ich das Klavier eigentlich nicht mag.“ Die Mutter zeigte sich<br />

einverstanden, stellte aber eine Bedingung: Fabiola könne das Geigespielen<br />

lernen, müsse aber auch ein wenig Klavier spielen. Und<br />

wieder lacht sie: „Immer wenn mein Klavierlehrer kam, versteckte<br />

ich all meine Noten und sagte, ich wüsste nicht, wo sie sind, und<br />

spielte einfach irgendwas. Als wir eines Tages umzogen, fanden die<br />

Möbelpacker all meine ‚verlorenen‘ Klaviernoten unter meinem Bett.“<br />

Die Weichen waren gestellt, die Geige wurde ihr Instrument.<br />

Ihre Lieblingskomponisten sind Schubert, Beethoven und Mozart.<br />

Mit sieben konzertiert sie mit dem Seoul Philharmonic Orchestra<br />

und wird beim Seoul Philharmonic Orchestra’s Concerto Competition<br />

die jüngste Preisträgerin, seit es diesen Wettbewerb gibt. Mit<br />

13 zieht sie wieder nach New York, absolviert mit Bravour die Juilliard<br />

School. Ihr Repertoire wächst, Kim spielt Bach ebenso wie<br />

Berio, widmet sich Schönberg, Wieniawski und Ysaÿe: „Zeitgenössische<br />

Musik ist für mich interessant, weil die Gepflogenheiten fehlen,<br />

wie man so etwas zu spielen hat. Es gibt diese Regeln nicht. Wie<br />

oft hört man, Heifetz spielte das so und so und Gerede dieser Art.<br />

Aber es liegt doch an einem selbst, wie man spielt, die eigenen<br />

Kenntnisse sind gefragt. Man kann seine eigenen Erfahrungen nutzen,<br />

seine eigene Vorstellungskraft einbringen und das zum Klingen<br />

VON STEFAN SELL<br />

„SIE IST LAUNISCH! UND ES GIBT TAGE, DA WILL<br />

MEINE STRADIVARI EINFACH NICHT SPIELEN“<br />

bringen, was den individuellen Möglichkeiten entspricht – um etwas<br />

zum Leben zu erwecken, was die meisten eben noch nicht gehört<br />

haben. Mozart war damals auch zeitgenössischer Komponist, und<br />

Komponisten müssen gespielt werden, damit sie Gehör finden.“<br />

Einen besonderen Bezug hat Kim zu Bartók: „Ich bin ein großer<br />

Fan. Als meine Mutter mit mir hochschwanger war, unterrichtete<br />

sie Bartók, die beiden Sonaten und die Solosonate. Ich glaube,<br />

deshalb bin ich so verrückt nach Bartók: Ich verstehe seine Sprache.“<br />

Nun erscheint ihr Debütalbum mit Violinkonzerten von Bartók,<br />

Walton und Hartmann, allen gemeinsam das Entstehungsjahr <strong>19</strong>39,<br />

so auch der Titel der CD, die sie mit den Münchener Symphonikern<br />

unter der Leitung von Chefdirigent Kevin John Edusei eingespielt hat.<br />

Alle Beteiligten waren von der<br />

Zusammenarbeit begeistert:<br />

„Wir hatten zuvor nur ein Konzert<br />

miteinander, hatten also<br />

eine ganze frische Beziehung.<br />

Aber es hat sofort klick gemacht<br />

und wir wussten schnell, was jeder wollte. Das Orchester und Kevin<br />

sind sehr flexibel und aufgeschlossen, und ich denke, ich bin es auch.<br />

Es war ein wirklich gutes Zusammenspiel, wir sind uns nahegekommen<br />

und hatten auch nach den Aufnahmen Zeit miteinander. Zudem<br />

hatte das Orchester auch die Geduld, verschiedene Sachen einfach<br />

auszuprobieren. Alle waren mit ganzem Herzen dabei.“ Man hört den<br />

wohltuend frischen Wind ihrer eigenen Ideen und die spielfreudige<br />

Bereitschaft des Orchesters, sie zu tragen.<br />

Ist es wahr? Sie spielt eine Stradivari? „Ja, eine späte Stradivari<br />

von 1733 von einem privaten Sammler. Es ist fantastisch. Ich spiele<br />

sie seit einigen Jahren und entdecke jeden Tag neue Klänge. Sie hat<br />

einen ganz außergewöhnlich schönen Ton, ist aber auch kompliziert,<br />

launisch – es gibt Tage, da will sie einfach nicht spielen.“<br />

Heute lebt die 28-Jährige in Los Angeles und lehrt neben ihrer<br />

umfangreichen Konzerttätigkeit an der Colburn School. „Ich bin<br />

von New York nach L.A. gezogen, um nach meinem Abschluss an<br />

der Juilliard School hier an die Colburn School zu gehen. Das ist<br />

eine relativ junge Schule, sie existiert seit etwa 15 Jahren, klein, mit<br />

etwa 100 Studenten, aber vielen Fachbereichen. Das Besondere an<br />

ihr: Sie ist frei für die Studenten.“ Nach ihren Träumen und Visionen<br />

gefragt, sagt sie: „Ich will spielen, spielen, spielen – so viel ich kann.<br />

Ich liebe es aufzutreten und möchte, dass alle Menschen Zugang<br />

zur klassischen Musik haben, nicht nur die reichen in den Logenplätzen.<br />

Privat wünsche ich mir eine Farm, eine eigene<br />

Farm für alle Tiere, die kein Zuhause haben.“ Sieht<br />

so aus, als bekäme Captain bald Gesellschaft. n<br />

„<strong>19</strong>39“: Fabiola Kim, Kevin John Edusei (Solo Musica)<br />

FOTO: CHRISTINE SCHNEIDER<br />

22 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


23


K Ü N S T L E R<br />

EIN GESCHENK<br />

DES LEBENS<br />

Die katalanische Sopranistin Nuria Rial hat barocke Klangschönheit im Gefühl<br />

und lotet mit Sanftmut und Gelassenheit immer wieder ihre Grenzen aus.<br />

VON KATHERINA KNEES<br />

Sie möchte mit dem<br />

Herzen singen: Nuria Rial über<br />

ihr Projekt „Mother“<br />

FOTO: MERCE RIAL<br />

RESCENDO: Wie haben Sie das aktuelle Projekt<br />

„Mother“ erlebt, das Sie gemeinsam mit Danya Segal<br />

und Dima Orsho und dem Ensemble Musica Alta Ripa aufgenommen<br />

haben?<br />

Nuria Rial: Das ist wirklich ein ganz besonderes Projekt. Egal,<br />

aus welcher Kultur man kommt, die Rolle der Mutter ist immer<br />

zentral, und die Mutterliebe ist überall Thema. Das wollten wir<br />

musikalisch mit barocken Arien und arabischen Wiegenliedern<br />

zum Ausdruck bringen. Danya Segal hatte die Idee und Dima<br />

Orsho hat extra die Werke Ishtar und Hidwa für uns komponiert.<br />

Deshalb ist es auch ein sehr persönliches Projekt. Es war für mich<br />

auch eine ganz neue Erfahrung, mit einer syrischen Sängerin und<br />

Komponistin zu arbeiten. Das habe ich vorher noch nie gemacht.<br />

Wie drückt sich die Mutterliebe klanglich in der Musik aus?<br />

Das ist ganz unterschiedlich. Es gibt zärtliche Wiegenlieder –<br />

ich habe zum Beispiel Komm, oh Schlaf von Telemann gesungen.<br />

Und das arabische Habibi ist auch ein Wiegenlied. Seit ewigen<br />

Zeiten und in allen Kulturen singen Mütter ihre Kinder mit<br />

Wiegenliedern in den Schlaf. In manchen Stücken kommt<br />

allerdings auch Verzweiflung zum Ausdruck. Muttersein ist ja<br />

nicht immer nur schön. Manchmal geht es auch um Verlust, um<br />

Angst und um Sorgen.<br />

Wie nehmen Sie selbst die Mutterrolle wahr?<br />

Da denke ich viel drüber nach, nicht nur im Rahmen des Projekts.<br />

Wenn man Mutter wird, ändert das das Leben komplett. Auch die<br />

Stimme. Meine Stimme hat nach der Schwangerschaft ein<br />

24 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


„ES IST IMMER GUT, WENN MAN DAS REPERTOIRE ERWEITERT<br />

UND DANN WIEDER ZURÜCKKOMMT. DAS HÄLT DIE STIMME FRISCH“<br />

bisschen an Körper gewonnen, das ist wohl auch eine hormonelle<br />

Sache. Muttersein ändert aber auch die Gedanken und die<br />

Prioritäten. In der Schwangerschaft habe ich mich gefragt, wie<br />

das alles klappen soll mit dem Singen. Aber ich hatte zum Glück<br />

viel Unterstützung von meiner Mutter. Man macht sich ja immer<br />

Sorgen, ob zu Hause alles läuft. (lacht) Es hat immer alles gut<br />

geklappt. Mein Sohn ist jetzt 14, ich habe also die Wiegen lieder-<br />

Zeit schon hinter mir, in der die Kinder noch ganz klein sind.<br />

Aber es ist und bleibt ein starkes Gefühl, es verändert alles. Als<br />

Danya Segal mir von dem Projekt erzählt hat, wusste ich sofort,<br />

dass ich das unbedingt machen möchte.<br />

In dem Projekt stehen viele starke Frauen gemeinsam auf der<br />

Bühne. Hat das eine besondere Energie?<br />

Danya Segal ist eine totale Powerfrau. Seit ich sie kenne, hat sie<br />

immer neue Ideen. Sie ist der Motor des Ensembles Musica Alta<br />

Ripa. Gibt immer Gas und hört nie auf, sich etwas Neues auszudenken.<br />

Und Dima Orsho hat eine unglaubliche Stimme und eine<br />

große Musikalität. Sie singt sowohl die arabische Musik als auch<br />

ein Opernduett von Händel mit mir zusammen, in dem sie zeigt,<br />

dass sie auch eine klassische Ausbildung hat. Sie hat eine große<br />

Stimme, mit der sie einen ganzen Saal füllen<br />

kann, und braucht kein Mikrofon. Das ist in<br />

der Musik, die sie ansonsten singt, eher<br />

außergewöhnlich. Aber auch sie hat sehr viel<br />

Power. Es ist ein echtes Frauenpower- Projekt!<br />

(lacht)<br />

Sind Sie auch eine Powerfrau?<br />

Och, ich bin eher eine Ruhige. Ich bin voller<br />

Freude und liebe die Musik über alles. Aber ich<br />

bin weder eine Diva noch bin ich aufgedreht,<br />

stehe auch nicht den ganzen Tag unter Strom.<br />

Ich bin eher ruhig, betrachte die Sachen mit<br />

einem gewissen Abstand. Mir hat auch immer<br />

geholfen, dass ich mich gerne anpasse. Und ich bin sanft zu mir<br />

selbst. Wenn etwas nicht so gut klappt, dann denke ich: „Beim<br />

nächsten Mal gibt es wieder eine Chance.“<br />

Wie haben Sie Ihre Stimme entdeckt?<br />

Ich singe, seit ich denken kann. In der Schule, zu Hause im<br />

Treppenhaus in dem katalanischen Dorf, in dem ich aufgewachsen<br />

bin. Dort hat es wie in einer Kirche geklungen. Ich habe erst<br />

Klavier gelernt, dann mit 15 Jahren mit Gesang angefangen – und<br />

so ging es immer weiter, ganz bedächtig, Schritt für Schritt.<br />

Niemand in meiner Familie war Musiker. Ich habe mir alles ganz<br />

langsam erarbeitet. Zunächst habe ich auf Hochzeiten gesungen,<br />

dann war ich im Chor in einem kleinen Ensemble, dann in<br />

Barcelona. Das Leben hat mir das alles geschenkt, ich musste<br />

mich nicht sehr anstrengen.<br />

Und schließlich haben Sie die Liebe zur Musik zum Beruf<br />

gemacht.<br />

Ja, das war schon immer mein Wunsch, ich wusste nur nicht, ob<br />

ich es schaffen kann. Als ich mit der Schule fertig war, haben alle<br />

Lehrer gesagt: „Du musst studieren! Nicht immer nur die Musik,<br />

um Gottes Willen!“ Aber zum Glück standen meine Eltern hinter<br />

mir. Und so habe ich immer weitergemacht. Als ich mit 23 nach<br />

Basel gegangen bin, hatte ich endgültig die Gewissheit, dass es<br />

genau das ist, was ich machen möchte. Da hat sich eine ganz neue<br />

„EGAL, AUS WELCHER<br />

KULTUR MAN KOMMT,<br />

DIE ROLLE DER<br />

MUTTER IST IMMER<br />

ZENTRAL“<br />

Welt für mich eröffnet.<br />

In Ihren Projekten steht oft die Alte Musik im Mittelpunkt.<br />

Was reizt Sie daran?<br />

Die Barockmusik hat eine ganz besondere Kraft, finde ich. Das<br />

Publikum reagiert darauf auch sehr stark, ähnlich wie in<br />

Konzerten mit moderner Musik. Sie stehen auf und jubeln. Mit<br />

17 Jahren habe ich die Passionen von Bach gehört, das war mein<br />

Einstieg. Als Kind hatte ich gar keinen Zugang zur Klassik und<br />

habe nie eine Oper gehört. Nur Jazz und Musical und Pop. Als<br />

ich dann die Matthäus-Passion gehört habe, habe ich gestaunt,<br />

wie viel Power da drinsteckt – das hat mich sofort gepackt. Und<br />

es gibt immer noch jeden Tag so viel zu entdecken. Ich lese auch<br />

Literatur dazu und informiere mich, wie das damals aufgeführt<br />

wurde. Aber dann gebe ich immer noch meinen eigenen Senf<br />

dazu. (lacht) Ich versuche, nicht mit dem Kopf zu entscheiden,<br />

ob ein Triller von unten oder oben gesungen wird oder wie viel<br />

Vibrato ich einsetze – viel lieber möchte ich mit dem Herzen<br />

singen, damit es ganz natürlich wirkt. Und offenbar habe ich<br />

diese Sprache in mir. Selbst wenn ich etwas anderes singe,<br />

Mozart oder Haydn, kommen oft Leute zu mir und sagen:<br />

„Aber du singst bestimmt Barock, oder?!“<br />

Meine Art, Musik zu machen, ist sehr barock<br />

– meine Phrasierung, die Stimmführung ...<br />

Ich weiß auch nicht, warum. Aber es war<br />

schon immer so.<br />

Aber in Ihrem Repertoire findet man noch<br />

viele andere Facetten.<br />

Oh ja, wenn ich immer nur Händel und<br />

Vivaldi singen würde, dann wäre das nicht<br />

gesund. Es ist immer gut, wenn man sein<br />

Repertoire erweitert und dann wieder zurückkehrt.<br />

So bleibt die Stimme frisch! Und ich<br />

denke auch nie: „Ach, jetzt schon wieder<br />

Händel“, sondern ich freue mich total darauf, weil ich vorher<br />

etwas ganz anderes gesungen habe und meine Stimme dort ganz<br />

andere Herausforderungen hatte.<br />

Für welche musikalischen Ideen können Sie sich besonders<br />

begeistern?<br />

Vor Kurzem habe ich zusammen mit der Accademia del Piacere<br />

das Projekt „Muera Cupido“ mit spanischer Barockmusik<br />

aufgenommen. Außerdem habe ich Bachianas Brasileiras von<br />

Heitor Villa-Lobos mit acht Celli eingesungen, eine sehr romantische<br />

Musik. Das war etwas ganz anderes als das „Mutter“-Projekt.<br />

Und in meiner Jugend habe ich Jazz von Duke Ellington gesungen.<br />

Mich interessieren eigentlich alle Musikrichtungen. Ich<br />

versuche immer in mir selbst danach zu schauen, wie weit ich<br />

komme und wie weit ich noch gehen kann. Ich möchte auf keinen<br />

Fall in einer Schublade landen, wie das heutzutage automatisch<br />

viel zu schnell passiert. Deshalb finde ich es auch toll, wenn<br />

Projekte mehrere Musikrichtungen mischen. Das ist dann nicht<br />

wirklich Crossover, aber es kommen einfach<br />

verschiedene Stile zusammen. In Zukunft<br />

planen wir auch, Barockmusik und Flamenco<br />

zu kombinieren. Darauf bin ich sehr gespannt!n<br />

„Mother“, Nuria Rial, Dima Orsho (Deutsche Harmonia Mundi)<br />

25


K Ü N S T L E R<br />

„ICH LIEBE DIE<br />

EXTREMEN<br />

KONTRASTE“<br />

Rebecca Saunders erhält als erste Komponistin den Ernst von Siemens Musikpreis.<br />

VON CHRISTOPH SCHLÜREN<br />

FOTO: EVS MUSIKSTIFTUNG<br />

Die <strong>19</strong>67 in London geborene, heute in Berlin lebende<br />

Rebecca Saunders ist die erste Komponistin, die mit<br />

dem hoch dotierten Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet<br />

wird. Auch unter den drei Siemens-Förderpreisen<br />

für junge Komponisten, die gleichfalls am<br />

7. <strong>Juni</strong> im Münchner Prinzregententheater verliehen werden, sind<br />

zwei Frauen: neben dem Türken Mithatcan Öcal die Irin Ann Cleare<br />

und die Kanadierin Annesley Black. Doch sollen weder Quote noch<br />

Statistik zur Debatte stehen – vielmehr geht es hier um künstlerische<br />

beziehungsweise ästhetische Fragen.<br />

Rebecca Saunders hat jeweils einige Jahre bei Nigel Osborne<br />

und Wolfgang Rihm studiert, die einander ästhetisch keineswegs<br />

nahestehen. Mit beiden hat sie, das betont sie ausdrücklich, kein<br />

kompositionstechnisches Studium betrieben, sondern der Unterricht<br />

bestand in Gesprächen, Anregungen, Infragestellungen, bei<br />

denen sie als Studierende freie Hand über ihre kreativen Entstehungs-<br />

und Entscheidungsprozesse hatte. Osbornes altruistischer<br />

Einsatz für Menschlichkeit und menschliche Grundrechte weltweit,<br />

bei dem er musikalische Zusammenarbeit vor Ort und Traumaforschung<br />

verbindet, passt zu seiner gänzlich unorthodoxen Weiterentwicklung<br />

der Tradition jenseits aller Dogmen. Rihm hingegen<br />

hat zwar stets die Werke früherer Generationen aufmerksam studiert,<br />

doch in seinem Schaffen immer versucht, in jeder Hinsicht<br />

neue, unerforschte Wege zu gehen. Insofern steht ihm rein künstlerisch<br />

Rebecca Saunders näher, in deren Musik keine hörbaren<br />

Verbindungen zu früheren Traditionen bestehen.<br />

Wir kommen auch gleich darauf zu sprechen, was „Form“ für<br />

sie bedeutet (Rihm hat gelegentlich betont, dass alles eine Form<br />

26 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


hat, auch jedes Bruchstück). Sie verweist<br />

darauf, dass für sie die Form eines Stücks<br />

nicht von vornherein feststeht und sich stets<br />

im Verlauf des Komponierens ergibt. „Das<br />

Komponieren verfolgt einen Denkprozess<br />

– es ist ein forschendes Mittel zum Schaffen<br />

von neuen virtuellen Räumen und akustischen<br />

Strukturen. Dabei erlebe ich, wie sich eine ganze Welt auftut,<br />

in der neue Möglichkeiten sicht- und hörbar werden. Ich liebe<br />

vor allem extreme Kontraste: zwischen sehr statisch und extrem<br />

explosiv, zwischen zart und gewalttätig, zwischen sehr hoch und<br />

sehr tief, dunkel und hell, langsam und schnell. Das bringt mich<br />

und die Zuhörer in eine äußerste Konzentration, die uns ganz da<br />

sein lässt.“<br />

Die Möglichkeit, dass sie in ihrer Musik Abgründiges oder<br />

Bedrohliches ausdrücken möchte, weist sie entschieden von sich:<br />

„Ich möchte nichts Bestimmtes ausdrücken mit meiner Musik! Ich<br />

begebe mich tief in den Klang hinein, untersuche die Klänge, lote<br />

sie aus, erforsche ihr Innenleben. Dabei ist die körperliche Qualität<br />

der Klänge entscheidend, die haptische Qualität, der klangliche<br />

Kern, das Skulpturieren des Klanges.“ Das erinnert an die Ästhetik<br />

von Morton Feldman, und sie stimmt zu, dass dessen Musik in ihr<br />

besonders starke Eindrücke hinterlassen hat, wie auch diejenige<br />

Galina Ustvolskayas „in ihrer schroffen, unbarmherzigen Radikalität:<br />

eine ganz große Stimme des 20. Jahrhunderts“.<br />

Igor Strawinskys Parole, dass Musik nichts ausdrücken könne,<br />

stimmt sie freilich auch nicht zu: „Es gibt so unendlich viele Arten<br />

von Musik. Zum Glück leben wir heute in einer Zeit, in der wir<br />

durch keine Dogmen mehr eingeschränkt werden und uns eine<br />

Vielfalt von stilistischen, klanglichen und technischen Möglichkeiten<br />

stets zur Verfügung steht.“<br />

BEIM KOMPONIEREN<br />

ERLEBE ICH, WIE<br />

SICH EINE GANZE<br />

WELT AUFTUT<br />

Zugleich unterstreicht sie: „Es gibt<br />

keine neuen Klänge zu entdecken. Aber die<br />

perspektivische Untersuchung, die Durchleuchtung,<br />

die Zerlegung und Verschmelzung<br />

von Klängen, ihre gegenseitige Positionierung<br />

und Balancierung sind ein weites<br />

Feld kreativer Erschließung. Es geht dabei<br />

für den Komponisten weniger um Emotionen als um Physikalität.“<br />

Dann könnte man ihre Tätigkeit ja am passendsten als „Klangforschung“<br />

bezeichnen? „Teilweise, aber das ist nicht erschöpfend. Es<br />

ist zugleich auch keine eiskalte Angelegenheit.“<br />

Während es für Komponisten der Tradition eher um Tonsatz,<br />

um die größeren Zusammenhänge ging und geht, ist Rebecca Saunders’<br />

Augenmerk, also ihre ästhetische Vorliebe, primär auf die<br />

mikroskopische Erforschung des Klangs und seiner Bestandteile<br />

gerichtet. Der Blick hat sich vom Makrokosmos zum Mikrokosmos<br />

gewendet, was von vielen Kunstexperten heute als musikhistorischer<br />

Paradigmenwechsel empfunden wird.<br />

Auch wenn sie als Komponistin nichts Bestimmtes ausdrücken<br />

möchte, kommt sie bei der Frage, ob sie als Künstlerin denn<br />

Traumata verarbeite, ins Grübeln: „Gerade habe ich mein jüngstes<br />

Werk abgeschlossen, das, gewissermaßen subkutan, an ‚Skin‘ (Haut)<br />

von 2016 für Sopran und 13 Instrumente anschließt: Es heißt ‚Scar‘,<br />

die Narbe, bezeichnet also eine Wunde, die zwar aktuell geschlossen,<br />

jedoch spürbar noch vorhanden ist.“ Der Begriff der „eingefrorenen<br />

Emotion“ spricht sie an, und so erinnert ihre Art, das<br />

Seelenleben zu erforschen, durchaus an moderne medizinische<br />

Ansätze. Sie bestreitet dabei, dass es um die Überwindung von Leid<br />

geht oder gar um eine Verwandlung, sondern lediglich um die<br />

Annahme der menschlichen Fehlbarkeit als Grundvoraussetzung<br />

unserer Existenz.<br />

n<br />

CURRENTZIS<br />

SCHOSTAKOWITSCH<br />

SCHOSTAKOWITSCH SINFONIE NR. 7 (LENINGRADER)<br />

DIRIGENT: TEODOR CURRENTZIS<br />

DO 20. JUNI KÖLN, PHILHARMONIE · FR 21. JUNI HAMBURG, ELBPHILHARMONIE<br />

SO 23. JUNI MANNHEIM, ROSENGARTEN · DI 25. JUNI WIEN, KONZERTHAUS<br />

DO 27. UND FR 28. JUNI STUTTGART, LIEDERHALLE · SO 30. JUNI FREIBURG, KONZERTHAUS<br />

TICKETS FÜR STUTTGART · FREIBURG · MANNHEIM<br />

SWR CLASSIC SERVICE 07221 300 100


K Ü N S T L E R<br />

28 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


DIE UKRAINISCHE PIANISTIN ÜBER DIE<br />

ARCHITEKTUR VON MUSIK UND DIE VERGESSENE<br />

TRADITION RUSSISCHER ROMANZEN<br />

„TÖTE MICH,<br />

ABER BITTE<br />

LIEBE MICH!“<br />

Valentina Lisitsa<br />

ist der erste Klassikstar,<br />

der über YouTube berühmt wurde.<br />

Jetzt hat sie eine Gesamteinspielung<br />

von Tschaikowsky vorgelegt –<br />

und dabei einen<br />

emotionalen Strategen entdeckt.<br />

VON CHRISTOPH SCHLÜREN<br />

FOTO: GILBERT FRANCOIS<br />

Der Dünkel, die schlimmste Krankheit des berühmten,<br />

erfolgreichen Künstlers, gefördert vom Enthusiasmus<br />

der Verehrer und der Erbarmungslosigkeit des Wettbewerbs:<br />

Valentina Lisitsa gehört zu den Stars, die ihn überhaupt<br />

nicht haben. Man spürt in jedem Moment der Begegnung, dass<br />

sie sich primär für das unmittelbar Menschliche interessiert, dass<br />

ihr ganzes Wesen von Anteilnahme und Einfühlung inspiriert ist<br />

– was natürlich auch von größter Bedeutung ist, wenn es darum<br />

geht, mit der Musik zu verschmelzen, ihre Botschaft möglichst<br />

unverstellt zum Klingen zu bringen. Wie erfrischend, wenn ein<br />

Mensch sich nicht vom Erfolg verformen lässt, sondern ihn vielmehr<br />

zu nutzen versteht, um das, was ihm am Herzen liegt, möglichst<br />

ungehindert zu verwirklichen. Valentina Lisitsa ist kein<br />

29


K Ü N S T L E R<br />

Produkt eines Klassikmarktes,<br />

der Heilsbringer inthronisiert<br />

und Laufstegkarrieren produziert.<br />

Valentina Lisitsa hat es<br />

selbst geschafft, indem sie mit<br />

entspannt unprätentiösen Videos<br />

den Nerv des globalen jungen<br />

Publikums traf und zum ersten<br />

YouTube-Klassikstar aufstieg,<br />

der dann für die Flaggschiffe der<br />

Major Companies interessant<br />

wurde. In diese attraktive Position<br />

hat sie sich selbst gebracht.<br />

Und so ist auch ihre selbstbewusste<br />

Unabhängigkeit zu verstehen:<br />

Sie hat sich zu keinem<br />

Zeitpunkt verbogen und ist weniger<br />

denn je bereit dazu – was<br />

durchaus auch Irritation erzeugen<br />

kann. Doch lässt sich handwerklich<br />

nicht bestreiten, dass sie<br />

zu den führenden Pianisten<br />

unserer Zeit gehört, dass sie auch<br />

dahingehend kein Produkt<br />

irgendeines Hypes ist.<br />

Valentina Lisitsa erscheint<br />

zum Interview, nachdem sie<br />

gerade die Kompletteinspielung<br />

aller unbestritten authentischen<br />

Soloklavierwerke von Tschaikowsky hingelegt hat. Eine Komplettaufnahme,<br />

die kompletter als ihre Vorgänger ist, wie etwa die von<br />

Viktoria Postnikova, indem sie auch all das enthält, was man bisher<br />

erstaunlicherweise nicht für der Mühe wert hielt. Denn Tschaikowsky<br />

ist – all seiner Beliebtheit zum Trotz – ein verblüffend<br />

schlecht erschlossenes Kapitel der Musikgeschichte. Die Klavierkonzerte<br />

werden nach wie vor in Bearbeitungen gespielt, nur wenige<br />

Werke sind wirklich populär, diese dafür umso mehr: die letzten<br />

drei Sinfonien, die drei großen Ballette und ihre Suiten, die Solokonzerte,<br />

Romeo und Julia, Capriccio Italien, die Ouvertüre 1812,<br />

die Streicher-Serenade, Souvenir de Florence, das Klaviertrio und<br />

ein paar Einzelsätze – aber wer kennt den Rest? Für das Interview<br />

kam Valentina Lisitsa am Nachmittag mit dem Zug aus Baden-Baden<br />

nach München und fuhr am Abend zurück nach Saarbrücken,<br />

um dort am nächsten Tag einen Meisterkurs zu geben. Und mitnichten<br />

strahlte sie professionelle Routine aus. Auch den Blick auf<br />

die Uhr überließ sie anderen.<br />

Was ist der Ausgangspunkt bei so einem Projekt wie dieser<br />

Tschaikowsky-Gesamtschau? „Bei Tschaikowsky wie auch bei Rachmaninow<br />

ist es, um die Musiksprache zu verstehen, notwendig, die<br />

Romanzen, also die Lieder kennenzulernen, ihre Vokalmusik, also<br />

wie der Komponist die Bedeutung der Worte mit der Musik zusammenbringt.<br />

Wie man bei Mozart die Opern, bei Schubert oder<br />

Brahms die Lieder kennen sollte. Nicht umsonst spricht man von<br />

der ‚Stimme des Komponisten‘, von der Art, wie er singt.“<br />

Bei der Sprachbarriere, die im Russischen auch noch zusätzlich<br />

eine Buchstabenbarriere ist, verwundert es nicht, dass das Wissen<br />

darüber nicht sehr verbreitet ist, und so übersetzt sie aus einem<br />

der Lieder, deren Text vom Komponisten selbst stammt:<br />

„Quäle mich, so viel du willst, aber bitte mit Liebe! […]<br />

Gibt es denn kein Mitleid in deinem grausamen Herzen? […]<br />

Töte mich, aber bitte liebe mich!“<br />

TSCHAIKOWSKY IST EIN VERBLÜFFEND<br />

SCHLECHT ERSCHLOSSENES<br />

KAPITEL DER MUSIKGESCHICHTE<br />

FOTO: GILBERT FRANCOIS<br />

Das erinnert an den Hit<br />

Cold as Ice von Foreigner, aber<br />

Tschaikowsky war der bessere<br />

Komponist. Er spricht so unmittelbar<br />

aus seinem Herzen zum<br />

Hörer, dass viele glauben, seine<br />

Musik sei einfach Äußerung von<br />

Emotion und Leidenschaft, und<br />

es genüge, sich mit entsprechender<br />

Leidenschaft in ihre emotionalen<br />

Aufwallungen hineinzustürzen.<br />

Sie lacht: „Das verstehen<br />

viele nicht. Er ging strategischer<br />

vor als alle anderen russischen<br />

Komponisten seiner Zeit, gerade<br />

auch als die Petersburger Nationalrussen.<br />

Alles ist ganz klar<br />

konzipiert und strukturiert, und<br />

es ist eben ein echtes Wunder,<br />

dass diese mächtigen Architekturen<br />

so mit Leben erfüllt sind,<br />

dass man von diesem Grundriss<br />

so leicht nichts wahrnimmt.<br />

Wodurch die klaren Proportionen<br />

und harmonischen Verbindungen<br />

unterbewusst wirken<br />

können.“<br />

Ob sie wohl ein Beispiel<br />

geben kann, wie sie sich den<br />

weniger bekannten Stücken angenähert hat? „Jaja, die Valse- Caprice<br />

op. 4 – ein recht umfangreiches Stück, es gibt keine Standards: Was<br />

mache ich damit? An einem Tag unterwegs hatte ich nur ein altes,<br />

verstimmtes Klavier zur Verfügung, das fast klang wie eine Gitarre.<br />

Und plötzlich offenbarte sich mir der Sinn des Stücks! Ich entdeckte<br />

die heute vergessene Tradition volkstümlicher russischer Romanzen<br />

mit Gitarrenbegleitung, zum Beispiel der großen Sängerin Antonia<br />

Neshdanova. Ein Klavier muss ein Orchester sein können, ein<br />

A-cappella- Chor oder eben auch eine Gitarre.“<br />

Und welche Musik auf ihrem neuen Album legt sie den Hörern<br />

nun am meisten ans Herz? „Unbedingt das Nussknacker-Ballett!<br />

Sergei Taneyev, Tschaikowskys großer Schüler und enger Freund,<br />

erhielt den Auftrag, einen Klavierauszug zu erstellen. Er versuchte,<br />

alles hineinzupacken, und schnell kamen die Klagen der Kunden<br />

wegen ‚Unspielbarkeit‘. Also erstellte Tschaikowsky daraus, was er<br />

eine ‚vereinfachte Fassung‘ nannte – es ist immer noch wirklich<br />

virtuose Musik, und zugleich zeigt es ganz klar, was dem Komponisten<br />

wichtig war. In dieser ‚Black and White‘-Version gibt es<br />

Abschnitte, die bereits wie Schostakowitsch klingen. Auch die<br />

Abschluss-CD mit den Arrangements von Märschen und Ouvertüren<br />

enthält echte Überraschungen. Aber das Herzstück des Ganzen<br />

sind die 18 Morceaux op. 72, die zwischen dem Nussknacker und<br />

der Pathétique entstanden sind und deren Rezeption seit jeher darunter<br />

leidet, dass Tschaikowsky selbst sie abwertend als ‚Brotarbeit‘<br />

bezeichnete, also eines Aristokraten unwürdig. Diese durchweg<br />

wunderbare Musik wird bis heute vollkommen ignoriert, außer<br />

Pletnev hat fast niemand sie als Ganzes im Konzert<br />

gespielt. Ich wünsche mir, dass mein Album<br />

viele Pianisten in aller Welt inspiriert, sich dieser<br />

Musik zu widmen.“<br />

n<br />

Tschaikowsky: „Complete Works for Solo Piano“, Valentina Lisitsa (Decca)<br />

30 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


HÖREN & SEHEN<br />

Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz<br />

150 Jahre Wiener Staatsoper – eine DVD-Box zum Jubiläum (Seite 34)<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören?<br />

Kein Problem: Auf www.crescendo.de finden Sie unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören!<br />

Rowan Pierce<br />

Die Sprache<br />

der Liebe<br />

„If music be the food of love, play on …“, so heißt es bei<br />

Shakespeare, und wohl kaum einer konnte dies betörender<br />

vertonen als Henry Purcell, der sich in seinen Werken<br />

farben- und nuancenreich mit der Liebe auseinandergesetzt<br />

hat. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass sich<br />

das Debütalbum der jungen Sopranistin Rowan Pierce verschiedenen<br />

Liebesliedern des barocken Großmeisters widmet<br />

und dabei einen weiten Bogen spannt, angefangen<br />

vom Frühwerk She loves and she confesses too bis hin zu<br />

Sweeter than roses. Im Zentrum steht dabei stets der poetische<br />

Text. Diesen kunstvoll sprechenden Gesang gestaltet<br />

Pierce eindringlich aus und beeindruckt in ihrer Interpretation<br />

der bilderreichen Dichtungen mit unmittelbarer<br />

Präsenz und Klarheit. Einfühlsam begleitet von Richard<br />

Egarr und William Carter, erkundet die Sängerin so Purcells<br />

klangvolle Sprache der Liebe. DW<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Henry Purcell: „The Cares of Lovers“ u. a.,<br />

Rowan Pierce, Richard Egarr, William Carter (Linn)<br />

Track 8 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

From silent shades ,Bess of Bedlam‘<br />

31<br />

FOTO: ROBERT WORKMAN


H Ö R E N & S E H E N<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

Matthias Kirschnereit<br />

Strahlende Juwelen<br />

Jeder kennt Robert Schumanns berühmtes<br />

a-moll-Klavierkonzert op. 54. Aber op. 92 oder 134?<br />

Matthias Kirschnereit und das schwärmerisch<br />

luzide aufspielende Konzerthausorchester Berlin<br />

unter Jan Willem de Vriend präsentieren die beiden<br />

nicht minder qualitätvollen einsätzigen, viertelstündigen<br />

Werke für Klavier und Orchester als<br />

facettenreich strahlende Juwelen. Ob Introduktion<br />

und Allegro appassionato oder Konzert-Allegro mit Introduktion<br />

– alles passt bei dieser Interpretation<br />

der oft wie freie Fantasien rhapsodisch sich entfaltenden<br />

Stücke: der große, flexible sinfonische Ton,<br />

in den sich der elegant aufschäumende oder zart<br />

schimmernd poetische Klavierklang mit großer<br />

Bandbreite in Dynamik und Ausdruck perfekt einfügt.<br />

Op. 86 nach dem Konzertstück für vier Hörner<br />

und Orchester eröffnet die CD, das Klavierkonzert<br />

ist am Ende eine traumschöne Zugabe und Ergänzung.<br />

KLK<br />

Robert Schumann: „Concertant“, Matthias Kirschnereit,<br />

Konzerthausorchester Berlin, Jan Willem de Vriend<br />

(Berlin Classics)<br />

FOTO: NEDA NAVAEE<br />

John Eliot Gardiner<br />

Farbenreichtum<br />

Wer Hector Berlioz jenseits der Oper auf<br />

Originalklanginstrumenten genießen oder<br />

auch erst kennenlernen will, dem sei diese<br />

Box mit acht CDs und einer DVD und Aufnahmen<br />

vor allem aus den <strong>19</strong>90er-Jahren ans<br />

Herz gelegt: Ob Rares wie die Ersteinspielung<br />

der Messe solennelle, die frühen Klavier-Lieder<br />

Irlande op. 2 und Tristia, das wunderbare verkappte<br />

Bratschenkonzert Harold en Italie (mit<br />

Gérard Caussé) oder Bekanntes wie Symphonie<br />

fantastique, Roméo et Juliette und La damnation<br />

de Faust – fehlen nur Les nuits d’été zur<br />

runden Anthologie. Noch immer besitzt großteils<br />

Referenzcharakter, was John Eliot Gardiner<br />

mit dem Orchestre Révolutionnaire et<br />

Romantique nicht zuletzt in der Symphonie<br />

dramatique (nach Shakespeare) oder der<br />

Légende dramatique (nach Goethe) mit viel<br />

Gespür für den Farbenreichtum Berlioz’ aus<br />

dem Orchester kitzelt und wie souverän die<br />

Sänger Anne Sofie von Otter, Robert Tear<br />

Gilles Cachemaille und<br />

Jean-Philippe Lafont<br />

agieren. KLK<br />

„Berlioz Rediscovered“,<br />

Orchestre Révolutionnaire et<br />

Romantique, John Eliot<br />

Gardiner (Decca)<br />

Dina Ugorskaja<br />

Klangvolles Erbe<br />

Es ist ein klangvolles Erbe, das Johannes<br />

Brahms der musikalischen Nachwelt hinterlassen<br />

hat, und gerade sein Erstes Klavierkonzert<br />

kommt als gewichtiges Meisterwerk<br />

daher, das fern verspielter Leichtfüßigkeit mit<br />

dramatischem Gestus und komplexer Dramaturgie<br />

in den Bann zieht. Auf ihrem neuen<br />

Album lässt die Pianistin Dina Ugorskaja den<br />

Geist dieses Werkes eindrucksvoll wiederauferstehen<br />

und deutet seinen musikalischen<br />

Inhalt mit feiner Anschlagskultur und warmen<br />

Klangfarben aus. Dabei gelingt ihr mit den<br />

Brandenburger Symphonikern unter der Leitung<br />

von Peter Gülke eine spannungsvolle,<br />

zutiefst menschliche und emotionale Interpretation,<br />

die nie Gefahr läuft, in übertriebenes<br />

Pathos abzugleiten. Als verinnerlichte<br />

Ergänzung zum Klavierkonzert sind die drei<br />

tiefgründigen Intermezzi op. 117 zu hören, die<br />

von Ugorskaja mal volksliedhaft schlicht, mal<br />

mit deutlichem Bezug zu Schumann interpretiert<br />

werden. DW<br />

Johannes Brahms: „Piano<br />

Concerto No. 1 op. 15,<br />

Intermezzi op. 117“, Dina<br />

Ugorskaja, Brandenburger<br />

Symphoniker, Peter Gülke<br />

(mdg)<br />

Anastasia Kobekina<br />

Russische Preziosen<br />

Auf ihrem neuen Album begibt sich die<br />

junge, bereits mehrfach ausgezeichnete und<br />

international gastierende Cellistin Anastasia<br />

Kobekina auf musikalische Spurensuche in<br />

ihr Heimatland Russland. Im Zentrum steht<br />

Dmitri Schostakowitschs Erstes Cellokonzert<br />

in Es-Dur, op. 107, das keinem Geringeren als<br />

dem großen Cellovirtuosen Mstislaw Rostropowitsch<br />

gewidmet ist. Während der<br />

Kopfsatz mit seinen Variationen über das<br />

autobiografische Motiv „DSCH“ mit seinen<br />

ganzen Härten und Kanten plastisch gestaltet<br />

wird, entlockt Kobekina vor allem in<br />

Mieczysław Weinbergs Fantasie für Cello und<br />

Orchester op. 52 ihrem Guadagnini-Cello<br />

einen warmen, kantablen Ton. Begleitet wird<br />

die Solistin vom Berner Symphonieorchester<br />

unter der Leitung von Kevin John Edusei. Die<br />

Weltneueinspielung von Vater Vladimir<br />

Kobekins tänzerischen Bacchants für Cello<br />

und Orchester (2018) rundet das gelungene<br />

Album ab. FA<br />

Dmitri Schostakowitsch,<br />

Mieczysław Weinberg,<br />

Vladimir Kobekin, Anastasia<br />

Kobekina, Berner<br />

Symphonieorchester, Kevin<br />

John Edusei (Claves)<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


SOLO<br />

Evgeni Koroliov, Anna Vinnitskaya,<br />

Ljupka Hadzi Georgieva<br />

Frisch und klar<br />

Aufnahmen der Bach’schen Soloklavierkonzerte auf modernen Instrumenten<br />

gibt es zuhauf – und gute: Angela Hewitt, Vladimir Feltsman,<br />

Murray Perahia u. a. Von den Zwei-drei-vier-Tasteninstrument-Konzerten<br />

allerdings gab es auf modernen Instrumenten bis vor Kurzem noch<br />

keine Gesamteinspielung. Evgeni Koroliov, Anna Vinnitskaya und Ljupka<br />

Hadzi Georgieva mitsamt der Kammerakademie Potsdam kredenzen<br />

uns zehn der 13 vollständigen Konzerte – alle auf höchstem Niveau.<br />

Das ist nicht gefühlsduselig, sondern frisch, klar, musikalisch. Und sollte<br />

jemand die Legitimität einer Aufführung der Bach’schen Cembalokonzerte<br />

auf modernen Flügeln bezweifeln, darf man darauf hinweisen, dass<br />

Bach seine eigenen Oboen- und Violinkonzerte beziehungsweise Vivaldis<br />

L’estro armonico zu diesen Tasteninstrumentkonzerten<br />

verarbeitet hat. JFL<br />

Johann Sebastian Bach: „Concertos for Pianos“,<br />

Evgeni Koroliov, Anna Vinnitskaya, Ljupka Hadzi Georgieva,<br />

Kammerakademie Potsdam (Alpha)<br />

Track 2 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Konzert für drei Klaviere d-Moll, BWV 1063. III. Allegro<br />

András Schiff<br />

Bezwingend nervös<br />

Weder geschönt noch einschmeichelnd, dafür bezwingend nervös, wach<br />

und deshalb packend sind diese Aufnahmen von zwei der letzten Klaviersonaten<br />

Franz Schuberts (D 958 und 959). András Schiff spielt auch die<br />

Vier Impromptus (D 899) und Drei Klavierstücke (D 946), wie im frühen<br />

<strong>19</strong>. Jahrhundert üblich, auf einem Hammerflügel mit vier Pedalen.<br />

Dadurch ergibt sich ein weniger ausladendes, doch weitaus breiteres<br />

Farbspektrum mit herben und sogar ausgehöhlten Tönen. Vor allem die<br />

berühmten Impromptus gewinnen an Intensität, sind endlich wieder<br />

abgründige Miniaturen. Diese Einspielungen spiegeln also auch, warum<br />

Musikverleger zu Schuberts Lebzeiten dessen modulatorisch und rhythmisch<br />

kühne Klavierkompositionen ablehnten<br />

und für die Erstausgabe sogar rigide vereinfachen<br />

ließen. András Schiff fasziniert durch hochrangige<br />

Widerborstigkeit und belohnt dann wieder<br />

mit umso schöneren Phrasierungen. DIP<br />

ALTE-<br />

MUSIK<br />

Dorothee Oberlinger<br />

Nachtfantasien<br />

In der Dunkelheit stößt die Vorstellungskraft in unbekanntes<br />

Terrain vor. Glühende Sehnsüchte werden geweckt,<br />

düstere Alpträume türmen sich auf. Die Blockflötistin<br />

Dorothee Oberlinger und das Alte-Musik-Ensemble Sonatori<br />

de la Gioiosa Marca beschäftigen sich mit den vielfältigen<br />

Facetten der Nacht. Melancholisch stimmt die Soloflöte<br />

ein sephardisches Wiegenlied an, bevor die Musiker<br />

auf Entdeckungsreise durch Venetien gehen. In L’altra nocte<br />

m’insomniava stellt sich der Ordensbruder Fra Gerardo<br />

einen Liebenden vor, der von seiner Angebeteten träumt<br />

und beim Aufwachen erkennen muss, dass er allein im Bett<br />

liegt. Von Antonio Vivaldi sind die Konzerte La Notte und<br />

Il Riposo zu hören, außerdem die Serenade La Senna festeggiante<br />

zu Ehren des französischen Königs Ludwig XV. In<br />

Jean-Baptiste Lullys lyrischer Tragödie Atys tritt die allegorische<br />

Figur Le Sommeil auf. Der blinde Flötist Jacob van<br />

Eyck aus Utrecht schrieb Variationen über ein Nachtigallen-Lied,<br />

Heinrich Ignaz Franz Biber eine<br />

Chaconne über einen Nachtwächter. Ein<br />

Album, das nicht nur Schlaflosen gefallen<br />

wird! CK<br />

„Night Music“, Dorothee Oberlinger, Sonatori de la<br />

Gioiosa Marca (dhm)<br />

Franz Schubert: „Sonatas & Impromptus“, András Schiff (ECM)<br />

Amy Dickson<br />

Einfachheit und Menschlichkeit<br />

Nicht ohne Grund trägt die neue CD von Amy Dickson den Titel „In<br />

Circles“ (In Kreisen). Sie ist eine Hommage an die Volksmusik, die nach<br />

Ansicht der Saxofonistin seit Jahrhunderten weltweit permanent Einfluss<br />

auf die Entwicklung aller Musikgenres hat. Außerdem bietet sie<br />

mit ihrer Einfachheit und Menschlichkeit in digitalen Zeiten einen verbindenden<br />

Zufluchtsort. Als Belege hat Dickson 20 Stücke aus unterschiedlichen<br />

Kulturen von Andalusien über Ungarn bis Australien eingespielt.<br />

Prägnant und klar wie eine Stimme gibt dabei ihr Instrument den<br />

Ton an; Begleiter der schnörkellosen Interpretationen sind der Pianist<br />

Daniel de Borah, William Barton am Didgeridoo und das Adelaide Symphony<br />

Orchestra unter Nicholas Carter. Zeitgenössische<br />

Besonderheit ist ein Saxofon-Konzert,<br />

das James MacMillan eigens für Amy Dickson<br />

komponiert hat. ASK<br />

WELT-<br />

MUSIK<br />

Amy Dickson: „In Circles“, William Barton, Daniel de Borah,<br />

Adelaide Symphony Orchestra, Nicholas Carter (Sony)<br />

FOTO: HENNING ROSS<br />

33


H Ö R E N & S E H E N<br />

UNVERGESSENE OPERNABENDE<br />

Die Wiener Staatsoper feiert 150 Jahre Haus am Ring, und eine Box<br />

mit elf DVDs erinnert an acht triumphale Bühnenereignisse aus ihrer Geschichte.<br />

Oben links: Plácido<br />

Domingo als Troubadour<br />

Manrico in Verdis<br />

Il trovatore,<br />

oben rechts: Angelika<br />

Kirchschlager als<br />

Zerlina in Mozarts Don<br />

Giovanni,<br />

unten links: Jochen<br />

Schmecken becher als<br />

Musiklehrer, Peter<br />

Matic als Haus hofmeister<br />

und Nor bert<br />

Ernst als Tanz meister<br />

im Wiener Vorspiel zu<br />

Strauss’ Ariadne auf<br />

Naxos,<br />

unten rechts: Jelena<br />

Obraszowa in der<br />

Titelrolle von Bizets<br />

Carmen<br />

Den Durchbruch erfuhr Bizets Carmen nicht bei der<br />

Uraufführung 1872 in Paris, sondern erst drei Jahre<br />

später an der Wiener Hofoper. Stürmisch umjubelt,<br />

trat sie von da ihren Siegeszug um die Welt an. Einen<br />

künstlerischen Meilenstein in ihrer Wiener Rezeptionsgeschichte<br />

bildet die opulente, bilderreiche Inszenierung von<br />

Franco Zeffirelli aus dem Jahr <strong>19</strong>78 mit dem genialen Carlos Kleiber<br />

am Pult, Jelena Obraszowa als Carmen und Plácido Domingo als<br />

Don José. Nicht fehlen darf sie daher auf der DVD-Box,<br />

die zum 150-jährigen Jubiläum des Wiener Hauses<br />

erscheint.<br />

1869 bekam die Wiener Hofoper ein prächtiges<br />

neues Gebäude an der damals entstehenden Ringstraße.<br />

Die feierliche Eröffnung erfolgte mit Mozarts Don Giovanni,<br />

auf der Box vertreten in einer Inszenierung aus<br />

dem Jahr <strong>19</strong>99 von Roberto De Simone und mit Riccardo<br />

Muti am Pult. Acht legendäre und für die Geschichte<br />

des Hauses bedeutsame Regiearbeiten wurden für die<br />

Box zusammengetragen. <strong>19</strong>57, zwei Jahre nach dem Wiederaufbau<br />

des im Krieg zerstörten Hauses, übernahm Herbert von Karajan<br />

die künstlerische Leitung. Selbst ein Star mit enormer energetischer<br />

Ausstrahlung am Pult, holte er die Gesangsstars ans Haus. <strong>19</strong>73<br />

inszenierte und dirigierte er Verdis Il trovatore. Mit Plácido<br />

Domingo als Manrico ist die Produktion in einer Aufnahme aus<br />

dem Jahr <strong>19</strong>78 in der Box enthalten.<br />

Zum ersten Mal auf DVD zu sehen ist Sven-Eric Bechtolfs<br />

Inszenierung von Richard Strauss’ Ariadne auf Naxos<br />

aus dem Jahr 2012 in einer Aufführung von 2014 unter<br />

Christian Thielemann. Die Inszenierung hat einen<br />

besonderen Reiz, weil sie die Wiener Fassung mit dem<br />

<strong>19</strong>16 von Hofmannsthal und Strauss nachgereichten<br />

Vorspiel zeigt: Der „reichste Mann von Wien“ möchte<br />

seinen Gästen gleichzeitig eine ernste Oper und ein<br />

heiteres Vorspiel zeigen. RRR<br />

„150 Years Wiener Staatsoper – Great Opera Evenings“ (Arthaus)<br />

FOTO: MICHAEL POEHN / WIENER STAATSOPER<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


ALTE<br />

MUSIK<br />

Renaud Capuçon und David Fray<br />

Romantischer Bach<br />

„Die Violinstimme erfordert einen Meister. Bach kannte die<br />

Möglichkeiten dieses Instruments und schonte es ebenso<br />

wenig, als er sein Clavier schonte“, schrieb der Musikforscher<br />

Johann Nikolaus Forkel über die Sechs Sonaten für Violine und<br />

Cembalo und wusste, dass sie „äußert sangbar und charaktervoll“<br />

sind. Die Franzosen Renaud Capuçon und David Fray,<br />

beide Meister ihres Fachs, lassen die Kantilenen schweben, und<br />

was den Charakter betrifft, mag man träumend an die hochklassigen<br />

Eigenschaften eines Pétrus denken und dessen vollmundig,<br />

üppig runde Fülle. Die vier Duosonaten aus Bachs essenziellstem<br />

Kammermusikzyklus, in dem das Klavier erstmalig<br />

befreit vom bloßen Basso continuo gleichwertig mit der Violine<br />

parliert, bestechen durch die brillante Anschlagsdynamik<br />

Frays in Harmonie mit der gezielten Akzentuierung der Violinstimme,<br />

die Capuçon in die Schwalbenflughöhe eines<br />

himmlisch blauen Sommerabends führt. Ein romantisch interpretierter<br />

Bach, anmutig und atemberaubend! SELL<br />

Johann Sebastian Bach:<br />

„Sonatas“, Renaud<br />

Capuçon, David Fray<br />

(Erato)<br />

David Fray<br />

FOTO: JEAN-BAPTISTE MILLOT<br />

John Neumeier<br />

Sinnliche Expressivität<br />

Eine umfassende, opulente Werkschau präsentiert John Neumeiers<br />

vielseitiges Wirken als Choreograf, Kostümbildner, Bühnenbildner<br />

und Lichtdesigner. Anlässlich des 80. Geburtstages des<br />

berühmten Ballett-Stars erscheint diese Kollektion, die vier Ballette<br />

auf acht DVDs umfasst: Nijinsky nach Musik von Schumann,<br />

Chopin, Rimski-Korsakow und Schostakowitsch, das Weihnachtsoratorium<br />

Johann Sebastian Bachs, Tatiana and the little Mermaid mit<br />

Musik von Lera Auerbach. Jede einzelne dieser so unterschiedlichen<br />

Produktionen hat ihren besonderen Reiz. Verbunden werden<br />

sie durch die tiefe künstlerische Durchdringung des<br />

jeweiligen Stoffes. Das umfangreiche Booklet sowie<br />

die beigefügten Interviews auf den DVDs bieten<br />

eine Fülle an interessanten Informationen rund um<br />

den Künstler und seine Werke. Menschlich-anrührend<br />

und von außergewöhnlicher sinnlicher Expressivität.<br />

AF<br />

„John Neumeier Collection“, John Neumeier, Hamburg Ballett,<br />

San Francisco Ballet u. a. (Cmajor)<br />

Calmus Ensemble<br />

Prächtige Fülle<br />

SAKRALE<br />

MUSIK<br />

TANZ<br />

Als Leipziger Disputation ging jenes akademische Streitgespräch in die<br />

Geschichte ein, das 15<strong>19</strong> die Reformatoren Karlstadt und Martin Luther mit<br />

dem papsttreuen Johannes Eck führten. Großen Eindruck machte damals beim<br />

Eröffnungsgottesdienst in der Thomaskirche eine zwölfstimmige Messe. War es<br />

die Missa Et ecce terrae motus des Frankoflamen Antoine Brumel? Ja, sagen das<br />

Leipziger Calmus Ensembles und amarcord – und vereinigen dafür erstmals ihre<br />

vokalen Kräfte mit den beiden Sopranistinnen Anna Kellnhofer und Isabel Schicketanz<br />

zum runden Dutzend. Die stets differenzierte, prächtige Fülle der Messe<br />

reicht von ekstatischem Geschnatter und grandiosen Dissonanzen bis zu schwebender<br />

Ruhe und göttlicher Majestät: Alles kosten sie sauber, lustvoll und mit<br />

rhythmischem Drive aus. Passende Gregorianik, katholische Kirchenmusik und<br />

trotzige Reformationswerke runden diesen klingenden Einblick<br />

in eine theologisch-politisch umkämpfte Zeit ab. WW<br />

Antoine Brumel, Thomas Stoltzer, Johann Walter und Josquin des Préz:<br />

„Leipziger Disputation“, Calmus Ensemble, amarcord, Anna Kellnhofer und<br />

Isabel Schicketanz (Carus)<br />

Track 11 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Herr, wie lang willst du mein so gar<br />

vergessen? von Thomas Stoltzer<br />

Ben Wright<br />

Eine Fülle<br />

fantastischer Einfälle<br />

Theater, Oper, Tanz: Ben Wright hat schon in allen drei Bereichen gearbeitet.<br />

Seine Produktion „The feeling of going“ ist deshalb ein Hybrid aus<br />

ihnen. Zu Musik und Texten von Jónsi, dem Sänger der isländischen Band<br />

Sigur Rós, hat Wright mit dem Skånes Dansteater sowie dem Orchester<br />

und Chor der Malmö Opera eine Reise in eine Traumwelt inszeniert. Mit<br />

surrealen Bildern, die an die Ästhetik von René Magritte, Max Ernst und<br />

Robert Wilson erinnern, erzählt er aus der Perspektive eines jungen<br />

Mannes ein dunkles Märchen voll bizarrer Begegnungen mit Unterbewusstem.<br />

Virtuose Soli, Pas de deux und Gruppenszenen gehen fließend<br />

ineinander über; Videos und 3-D-Effekte verstärken magisch ihre Wirkung<br />

im Raum. Eingefangen mit Kameras, die sich<br />

zwischen den Akteuren und über ihnen bewegen,<br />

fasziniert eine Fülle fantastischer Einfälle. ASK<br />

Jónsi: „The feeling of going“, Moto Boy, Ben Wright, Skånes<br />

Dansteater, Malmö Opera Orchestra & Chorus (Arthaus)<br />

NEUE<br />

WELTEN<br />

Tianwa Yang<br />

Eine Bandbreite von Affekten<br />

Sind das drei Violinkonzerte, die nicht so genannt werden, oder<br />

haben wir es mit einem Zyklus zu tun, mit drei Einzelwerken, die<br />

kompositorisch und emotional ein Ganzes ergeben? Solche<br />

Querverbindungen kennt man von Wolfgang Rihm durchaus und<br />

auch die Folge dieser Stücke für Violine und Orchester, entstanden<br />

zwischen <strong>19</strong>92 und 2009, entwickelt eine nachvollziehbare<br />

dramaturgische Logik; von der zarten, fast esoterischen Verinnerlichung<br />

in Gesungene Zeit über das scherzohaft vergnügte Lichtes<br />

Spiel bis hin zum theatralisch bewegten COLL’ARCO zeigt Rihm<br />

mit identischer Besetzung eine große Bandbreite von Affekten.<br />

Die Interpretation von Tianwa Yang und dem Dirigenten Darrell<br />

Ang bewegt sich technisch auf hohem Niveau, der Klang ist transparent,<br />

ausdifferenziert und clean, leider<br />

eine Spur zu neutral und kühl für den Ausdrucksmusiker<br />

Rihm. FS<br />

Wolfgang Rihm: „Gesungene Zeit, Lichtes Spiel u. a.“,<br />

Tianwa Yang, Deutsche Staatsphilharmonie<br />

Rheinland-Pfalz, Darrell Ang (Naxos)<br />

35


H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

AUS DEM VOLLEN SCHÖPFENDE<br />

ANTI-ASKESE<br />

Historische und aktuelle Aufnahmen vergessener Meister,<br />

legendärer Vorbilder und unübertroffener Giganten.<br />

Am 5. April war der 150. Geburtstag von Albert Roussel.<br />

Kein Rummel wie um Debussy oder Ravel an vergleichbaren<br />

Tagen – stand er doch, zusammen mit<br />

Paul Dukas und Florent Schmitt, im Schatten dieser<br />

beiden Gallionsfiguren der französischen Musik im<br />

Umbruch zur Moderne. Doch Roussel war nicht weniger originell,<br />

seine Stimme ist unverkennbar, und sie hat ihre Wild- und Rauheiten,<br />

eine querständige Radikalität. Roussel verwandelte sich vom<br />

Impressionisten zum Meister dunkel gewandeter, kompromisslos<br />

organisch verwobener Sinfonik. Warner Classics würdigt das Jubiläum<br />

mit einer umfassenden Werkschau auf efl CDs, unter Mitwirkung<br />

großer Dirigenten wie Cluytens, Munch und Martinon.<br />

Der 100. Geburtstag von Henryk Szeryng, des großen polnischen<br />

Geigers und Kulturbotschafters seiner Wahlheimat Mexiko,<br />

war bereits im vergangenen September, und bei Universal sind sämtliche<br />

Philips-, DG- und Decca-Aufnahmen dieses Giganten in einer<br />

schmucken 44-CD-Box erschienen. Szeryng verkörperte zu Glanzzeiten<br />

unübertroffene geigerische Makellosigkeit und wurde mit<br />

seinem runden, vollen, intensiven Ton zum Vorbild einer Generation.<br />

Es lohnt unbedingt, seinen Brahms, Tschaikowsky, Khatschaturian<br />

oder Szymanowski zu hören, aber auch das Schumann-Konzert<br />

oder die Paganini-Konzerte. Größte Violinkunst, die später<br />

leider vom Alkoholismus eingetrübt wurde.<br />

Eine wunderbare Geigerin mit bestechend sachlich-expressiver<br />

Haltung war die Deutsche Edith Peinemann,<br />

der SWR Classic eine Retrospektive auf<br />

fünf CDs widmet, worunter besonders die fesselnden<br />

Aufnahmen der Konzerte von Pfitzner<br />

und Bartók (Nummer zwei) unter der Leitung<br />

von Hans Rosbaud he raus ragen. Wer Pfitzner<br />

unter optimalen Verhältnissen lauschen möchte,<br />

sollte hier unbedingt zugreifen. Auch die Kammermusik,<br />

mit Partnern wie Helmut Barth oder Maria<br />

Bergmann, ist exzellent ausgeführt, so etwa die<br />

c-Moll-Sonate Beethovens.<br />

Auf der jüngsten Zehn-CD-Anthologie<br />

Vol. IV von Jewgeni Mrawinski bei Profil (Hänssler)<br />

leitet der legendäre russische Maestro neben<br />

vielen Großartigkeiten (darunter Beethovens Sinfonien<br />

Nummer zwei bis sieben) auch drei Violinkonzerte, unter<br />

denen das erste von Schostakowitsch mit David Oistrach ein<br />

unübertroffener Klassiker, das Konzert von Boris Kluyzner mit<br />

Michail Vaiman eine wertvolle Repertoire-Ergänzung, das äußerst<br />

selten zu hörende a-Moll-Konzert des Armeniers Arno Babadschanjan<br />

von <strong>19</strong>48 mit Leonid Kogan jedoch eine Offenbarung ist, die<br />

jeder Geiger zur Kenntnis nehmen sollte.<br />

Auch im Bereich der Neuaufnahmen tut sich gelegentlich Epochales.<br />

Was Martyn Brabbins mit den vier hochkomplex strukturierten<br />

Sinfonien Michael Tippetts, die im Konzert bei allen Schönheiten<br />

unüberwindlich sperrig erscheinen können, anstellt, hat Anflüge<br />

einer Quadratur des Kreises, und in ihrer Souveränität und blitzschnellen<br />

Erfassung der wilden Kontraste lassen diese Aufnahmen<br />

Vorgänger wie Solti oder Colin Davis durchweg verblassen (Hyperion<br />

Records). Als Highlight gibt es dazu die Ersteinspielung der frühen<br />

Sinfonie in B von <strong>19</strong>34, der Nullten, die in ihrer geheimnisvoll schillernden<br />

Pracht wie ein Wegweiser von Vaughan Williams zu den<br />

Rituellen Tänzen des Sommernachtstraums anmutet.<br />

Eine andere, deftige Natur war der Amerikaner George Antheil<br />

(<strong>19</strong>00–<strong>19</strong>59), durch seine Autobiografie bekannt als „Bad Boy of Music“.<br />

Nach bilderstürmerischem Beginnen fand Antheil ab Mitte der<br />

<strong>19</strong>30er-Jahre, angeregt von der sowjetischen Sinfonik,<br />

zu einem anti-asketischen, hemmungslos aus dem Vollen<br />

schöpfenden Orchesterstil. Seine Sinfonien Nummer<br />

drei bis sechs, entstanden <strong>19</strong>36 bis <strong>19</strong>48, offenbaren<br />

ein weites Spek trum herrlich effektgeladener, aber auch<br />

logisch entwickelter Klangarchitektur, saftig orchestriert,<br />

oft wie ein amerikanischer Prokofjew, und<br />

sind das ideale Feld zur Kraftentfaltung für John<br />

Storgårds, den finnischen „wilden Mann“ am Pult<br />

des BBC Philharmonic (Chandos Records). n<br />

„Albert Roussel Edition“ (Warner) | „Henryk Szeryng. Complete<br />

Philips, Mercury and Deutsche Grammophon Recordings“ (Decca) |<br />

„Edith Peinemann. The SWR Studio Recordings <strong>19</strong>52–<strong>19</strong>65“ (SWR<br />

Classic) | „Yevgeny Mravinsky Edition“ Vol. IV (Hänssler) |<br />

Michael Tippett: „Symphonies 3 & 4, B flat“, Rachel Nicholls,<br />

BBC Scottish Symphony Orchestra, Martyn Brabbins (Hyperion) |<br />

George Antheil: „Archipelago, Symphony No 3. u.a.”,<br />

BBC Philharmonic, John Storgårds (Chandos)<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Concerto Copenhagen<br />

Beglückend lyrisch<br />

Elverskud (Erlkönigs Tochter) gehört zur Gruppe jener romantischen Konzertstücke,<br />

die mit sehnsüchtigen Tönen die unglückliche Begegnung von Menschen<br />

mit Elementargeistern oder ruhelosen Toten malen. Niels W. Gades von ihm<br />

mehrfach verbessertes Opus steht auf gleicher künstlerischer Höhe wie die<br />

Schöne Melusine Mendelssohns, dessen Nachfolger als Gewandhauskapellmeister<br />

er war, oder Dvořáks Geisterbraut. Elverskud wurde 2006 in den nationalen<br />

Kanon des dänischen Kulturministeriums aufgenommen. Die hier betörend<br />

schön gesungene Kantate von Herrn Oluf, der nach der Begegnung mit der<br />

dunkelhaarigen Tochter des Erlkönigs stirbt, ist ein beglückend lyrisches Tonpoem,<br />

zumal wenn sie so stilkundig ausgeführt wird wie von Concerto Copenhagen.<br />

Gades Fünf A-cappella-Gesänge sind eine stimmungsvolle Ergänzung und<br />

zeigen, dass es weitaus mehr Berührungspunkte zwischen Leipzig und Edvard<br />

Grieg gibt, als gemeinhin bekannt. DIP<br />

Niels W. Gade: „Erlkönigs Tochter“, Sophie Junker, Ivonne Fuchs,<br />

Johannes Weisser, Danish National Vocal Ensemble, Concerto<br />

Copenhagen, Lars Ulrik Mortensen (DaCapo)<br />

Track 10 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: So oft mein Auge die<br />

Fluren schaut<br />

Mariss Jansons<br />

Warmtönige Klangpracht<br />

Für eine Extraportion Romantik ist man doch nie zu alt. Das gilt auch für<br />

Mariss Jansons, der mit seinem BR-Symphonieorchester auf dem hauseigenen<br />

Label diesen sinfonischen Doppelpack geschnürt und damit eine Lücke seiner<br />

Diskografie gefüllt hat. Beide Werke liegen auf der CD als technisch hochklassige<br />

Konzertmitschnitte vor und zeigen das Orchester in seiner ganzen warmtönigen<br />

Klangpracht und musikalischen Beredsamkeit. Jansons lässt die Musik<br />

wunderbar fließen und verbindet akribische Detailarbeit mit dem Gespür<br />

fürs Ganze, den großen Spannungsbogen. Vor allem der Schubert begeistert<br />

durch die Synthese von romantischer Fülle und klassizistischer, fast tänzerischer<br />

Eleganz. In Schumanns B-Dur-Sinfonie entfalten die Mittelsätze eine poetisch-schwärmerische<br />

Intensität, die an Tschaikowsky erinnert, lediglich in den<br />

Ecksätzen könnte man sich etwas mehr Drive und Spontanität vorstellen. FS<br />

Robert Schumann: „Symphonie Nr. 1“, Franz Schubert: „Symphonie<br />

Nr. 3“, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, Mariss<br />

Jansons (BR Klassik)<br />

Track 1 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Sinfonie Nr. 1 B-Dur, op. 38<br />

„Frühlingssinfonie“. I. Andante un poco maestoso – Allegro molto<br />

vivace – Animaro. Poco a poco stringendo von Robert Schumann<br />

Howard Shelley<br />

Vergessene Wunderkinder<br />

„Musik aus Chopins Zeit“, so heißt eine Reihe an Veröffentlichungen des Fryderyk<br />

Chopin Institute, die sich vorgenommen hat „verlorene Schönheit“ wiederzuentdecken.<br />

Jetzt erscheint in dieser Reihe eine besonders hörenswerte Aufnahme:<br />

Pianist und Dirigent Howard Shelley widmet sich Werken von Jósef<br />

Władysław Krogulski (1815-1842) und Franciszek Lessel (ca.1780 - 1838). Beide<br />

Chopin-Zeitgenossen wurden als große Begabungen gefeiert, gerieten aber in<br />

Vergessenheit. Krogulski, als „polnischer Mozart“ bekannt, studierte bei Józef<br />

Elsner, der auch Chopin ausbildete. Als er sein erstes Klavierkonzert selbst aufführte,<br />

war er gerade einmal 15 Jahre alt. Die Parallelen zu Chopins Stil sind<br />

nicht zu überhören. Auch Lessel wurde von Elsner als „Komponist von Genialität“<br />

geschätzt. Sein Adagio et rondeau à la polonaise wird sogar als Vorbild für<br />

Chopins Andante spianato et grande polonaise brillante gehandelt. Charmant und<br />

mit perlendem Klavierklang präsentiert Shelley diese<br />

großen Werke und überzeugt den Hörer durch sein<br />

präzises, feinfühliges Spiel von der noch zu wenig<br />

bekannten Musik. SK<br />

Jósef Władysław Krogulski und Franciszek Lessel, Howard Shelley,<br />

Sinfonia Varsovia, Howard Shelley (Naroddowy Institute Fryderyka<br />

Chopina)<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

Kirill Gerstein<br />

Piano monumental<br />

Als „Wolkenkratzer-Konzert“ hat Ferruccio Busoni sein <strong>19</strong>04 komponiertes<br />

und selbst uraufgeführtes Klavierkonzert bezeichnet, in ironischer<br />

Anspielung auf dessen Monumentalität: Mit den fünf Sätzen<br />

und einer Spieldauer von über 70 Minuten stellt Busoni nicht nur das<br />

klassische Formkonzept eines Solistenkonzerts auf den Kopf, sondern<br />

sucht durch das Chorfinale auf einen Text aus Adam Gottlob<br />

Oehlenschlägers Erlösungsdrama Aladdin auch Anschluss an sinfonische<br />

Traditionen. Der Pianist Kirill Gerstein hat mit dem Boston<br />

Symphony Orchestra und den Männern des Tanglewood Festival<br />

Chorus unter der Leitung von Sakari Oramo eine überzeugende und<br />

auf Transparenz setzende Aufnahme vorgelegt, ein Livemitschnitt<br />

eines Konzerts von 2017 in der Symphony Hall von Boston. Begleitet<br />

wird die Aufnahme von einem luxuriösen wie informativen Booklet<br />

mit Essays von den renommierten Busoni-Forschern Albrecht Riethmüller<br />

und Larry Sitsky. FA<br />

Finnish Radio Symphony Orchestra<br />

Orchestrale Wucht<br />

Ferrucio Busoni: „Piano<br />

Concerto op. 39“, Kirill<br />

Gerstein, Boston Symphony<br />

Orchestra, Sakari Oramo<br />

(myrios classics)<br />

Die Werke von Bernd Alois Zimmermann haben auch Jahrzehnte<br />

nach dessen Tod nichts von ihrer Brisanz verloren. Ihre musikalische<br />

Relevanz ist aktuell wie zur Zeit ihrer Uraufführung, ihre Faszination<br />

und Authentizität haben nichts von ihrer ursprünglichen Qualität eingebüßt.<br />

Mehr noch als manche Werke aktueller Zeitgenossen lassen<br />

Werke wie die hier eingespielten Photoptosis und die Vokalsinfonie<br />

Die Soldaten in Abgründe blicken. Sie berühren, ja erschüttern. Das<br />

Finnish Radio Symphony Orchestra unter Hannu Lintu reizt diese<br />

beiden Werke Zimmermanns vollends aus. Mit unbändiger orchestraler<br />

Wucht, aber auch feinem Klangsinn zeichnen die Musiker ebenso<br />

monströse Klangeruptionen wie feinste Verästelungen der hochkomplexen<br />

Partituren nach. Das frühe Violinkonzert, das durchaus noch<br />

Einflüsse von Klassikern der Moderne wie<br />

Strawinsky oder Schostakowitsch ahnen lässt,<br />

wird von Leila Josefowicz mit großartigem<br />

Aplomb gespielt. GK<br />

Bernd Alois Zimmermann: „Violin Concerto“, „Photoptosis“<br />

u. a., Leila Josefowicz, Finnish Radio Symphony Orchestra,<br />

Hannu Lintu (Ondine)<br />

37<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE


H Ö R E N & S E H E N<br />

SOLO<br />

Philippe Mouratoglou<br />

Vollendete Schönheit<br />

Unglaublich, dieser Philippe Mouratoglou ist überall zu Hause. Keine Genres,<br />

keine Stile, die der Franzose beiseiteschiebt, ein jegliches hat seine Zeit. Ob<br />

Klassik, Blues, Jazz oder Flamenco, ob Solo, Duo oder Trio, der Gitarrist findet<br />

auf seinen Saiten für alles Platz. Doch fern von Beliebigkeit, weiß Mouratoglou<br />

genau, was er spielt. Das zeigt sein neues Album mit der Musik von<br />

Fernando Sor, dem katalanischen „Schubert“, „Beethoven“ oder „Mozart der<br />

Gitarre“, wie er genannt wurde. Sor ist für die klassische Gitarre ein Muss,<br />

weil aber die Beethovens und Mozarts nichts für Gitarre geschrieben haben,<br />

kennen ihn viele nicht. Neben seinem Werk für Gitarre schuf er ebenso<br />

begabt Opern wie Ballettmusiken. Umso entdeckenswerter<br />

ist diese einzigartige Einspielung eines oft<br />

gespielten Repertoires. Mouratoglou verschmilzt mit<br />

dem Werk Sors so versiert, dass die vollendete<br />

Schönheit klassischer Gitarre zum Erlebnis wird. SELL<br />

Linda Leine und Daria Marshinina<br />

Melodischer Reichtum<br />

Wie hat man sich die ungewöhnliche Besetzung eines Klavierduos<br />

vorzustellen? Linda Leine und Daria Marshinina zeigen es. Die stilistische<br />

Palette reicht von Schubert über Strawinsky bis Pēteris<br />

Vasks: eine hervorragende Auswahl, um das klangliche und musikalische<br />

Potenzial, das in der Verbindung zweier Klaviere steckt, von<br />

allen Seiten zu präsentieren! Vor allem Strawinskys Concerto per<br />

due pianoforti soli ist als Sternstunde zu bezeichnen: Es ist eine<br />

wahre Freude, das eher unbekannte Werk in der Interpretation<br />

dieser zwei temperamentvollen Musikerinnen kennenzulernen. Sie<br />

präsentieren den berauschenden melodischen und rhythmischen<br />

Reichtum dieser Musik mit einer Leidenschaft, die einen bis zur<br />

letzten Note nicht mehr loslässt. Aber auch Vasks Music for two<br />

pianos, die hier zum ersten Mal auf CD eingespielt wurde, bietet<br />

einen ungewöhnlich erfrischenden wie<br />

kurzweiligen Hörgenuss. AF<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

Fernando Sor, Philippe Mouratoglou (vision fugitive)<br />

Franz Schubert, Igor Strawinsky, Pēteris Vasks: „Piano<br />

Duo“, Linda Leine und Daria Marshinina (EsDur)<br />

Track 5 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Rondo D-Dur,<br />

D 608 (Allegretto) von Franz Schubert<br />

Franziska Hölscher<br />

Glutvoll und eruptiv<br />

Heinrich Ignaz Franz Bibers kunstvolle Passacaglia aus einer der<br />

Rosenkranzsonaten und Schumanns opulente Zweite Violinsonate<br />

umrahmen zwei Capricci von Salvatore Sciarrino und Luciano<br />

Berios Sequenza VIII. Ein unkonventionelles, kontrastreiches<br />

Programm. Zusammengehalten wird es durch den Oberbegriff<br />

der Sequenz, einer verschiedenartigen Wiederholung des<br />

Immergleichen, welche sich in unterschiedlicher Form in allen<br />

Werken wiederfindet. Die Geigerin Franziska Hölscher hat das<br />

Programm klug zusammengestellt und geigt virtuos: Bibers Passacaglia<br />

mit polyfoner Transparenz und Schumanns gewichtige<br />

Sonate mal pastos, mal übermütig, immer aber mit ansteckendem<br />

musikalischen Feuer – ebenso wie ihr Klavierpartner<br />

Severin von Eckardstein. Sciarrinos und Berios Werke<br />

beeindrucken nicht minder: Hölscher<br />

entflammt das Interesse des<br />

Hörers auch hier ebenso glutvoll wie<br />

eruptiv. GK<br />

VINYL<br />

Leonard Elschenbroich und Alexei Grynyuk<br />

Mitreißende Impulsivität<br />

Seit ihrer Komposition zählen Beethovens Sonaten für Klavier<br />

und Violoncello zu den Standardwerken, die sowohl eine<br />

ausgereifte musikalische Gestaltungskunst, als auch brillierende<br />

Virtuosität erfordern. Leonard Elschenbroich und<br />

Alexei Grynyuk vereinen beide Ansprüche mit Leichtigkeit:<br />

Durchgängig herrscht eine kammermusikalische Spielfreude,<br />

der man mühelos und aufmerksam hörend folgt. Auffallend<br />

ist die ungezwungene und schlichte Art, mit der Elschenbroich<br />

lange Phrasierungsbögen, komplexe rhythmische<br />

Strukturen und melodische Kantilenen gestaltet. Die große<br />

klangliche Variabilität des Violoncellos, die von sonor bis<br />

grazil ein breites Spektrum abdeckt, mischt sich sehr gut<br />

mit dem nicht minder anspruchsvollen Klavierpart, den Alexei<br />

Grynyuk mit großem Einfühlungsvermögen<br />

und einer<br />

mitreißenden Impulsivität<br />

umsetzt. AF<br />

Ludwig van Beethoven: „The<br />

Sonatas for Cello and Piano“,<br />

Leonard Elschenbroich, Alexei<br />

Grynyuk (Onyx)<br />

SOLO<br />

Luciano Berio, Robert Schumann, Salvatore Sciarrino u. a.:<br />

„Sequenza“, Franziska Hölscher, Severin von Eckardstein (Avi)<br />

38 FOTO: IRENE ZANDEL<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


ORCHES-<br />

TER<br />

Jukka-Pekka Saraste<br />

Dynamische Kontraste<br />

Beethoven, historisch informiert auf modernen Instrumenten: Ist dazu<br />

nicht schon alles gesagt, bloß noch nicht von jedem? Keineswegs. Denn<br />

Jukka-Pekka Saraste betrachtet die Metronomzahlen nicht als die allein<br />

seligmachende Galopproute zu Beethoven, sondern nimmt sich gelegentlich<br />

mehr Zeit, als das heute in Mode ist. Durch diese Flexibilität kann er<br />

prägnante Rhythmik, dynamische Kontraste und schön sich entfaltende<br />

Melodik stellenweise deutlicher herausarbeiten. Die Streicher mögen<br />

etwas neutral klingen, aber mit den zweiten Violinen rechts und charakteristischen<br />

Bläsern fächert sich das Stimmengeflecht fast von selbst klar<br />

und resolut auf. Dass Saraste dazu noch Lesarten anbietet, die so nicht in<br />

der Urtextausgabe stehen, wie etwa eine schöne Arco- statt Pizzicato-<br />

Stelle im Eroica-Finale, bereichert die Diskografie.<br />

Eine gut durchgearbeitete Gesamtaufnahme, deren<br />

Kompromisse nicht schal wirken. WW<br />

Ludwig van Beethoven: „Complete Symphonies“,<br />

WDR Sinfonieorchester, Jukka-Pekka Saraste (Hänssler)<br />

Track 7 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Sinfonie Nr. 1 C-Dur, op. 21.<br />

II. Andante cantabile con moto<br />

Valery Gergiev<br />

Letzte Dinge<br />

Während Anton Bruckner an der Neunten Sinfonie arbeitete, hatte er<br />

seinen Tod vor Augen. Er widmete dieses Werk „dem lieben Gott“, in<br />

der Hoffnung, dass ihm noch genug Zeit zum Komponieren bliebe. Als<br />

er im Oktober 1876 starb, waren erst drei Sätze vollendet. Der als<br />

Torso überlieferte Schlusssatz hat viele Forscher zu Rekonstruktionsversuchen<br />

angeregt. Der gängigen Praxis entsprechend, verzichten<br />

Valery Gergiev und die Münchner Philharmoniker allerdings auf eine<br />

Aufführung von Finalsatzfragmenten und lassen die Sinfonie mit dem<br />

Adagio enden. Im Eigenlabel ist ein hörenswerter Mitschnitt aus der<br />

Stiftsbasilika St. Florian erschienen, an der Bruckner als Domorganist<br />

wirkte. Mit seinem Orchester arbeitet Gergiev Steigerungen und Klangblöcke<br />

im gewaltigen Kopfsatz plastisch hervor, während das kantable<br />

Seitenthema lyrische Strahlkraft entfaltet. Das aufwühlende<br />

Scherzo mit seinen Dissonanzen offenbart<br />

sich als dämonisch, bevor das elegische Adagio,<br />

Bruckners „Abschied vom Leben“, auf eine<br />

Auflösung im Unhörbaren zustrebt. CK<br />

Anton Bruckner: „Symphony No. 9“, Münchner Philharmoniker,<br />

Valery Gergiev (Münchner Philharmoniker)<br />

Lorenzo Ghirlanda<br />

Feine Eleganz<br />

ALTE<br />

MUSIK<br />

Zwei der feinsten prä-Händelschen englischen Barockkomponisten<br />

sind auf dieser Einspielung mit ihren Greatest Orchestral Hits vertreten:<br />

Henry Purcell (1659–1695) und Matthew Locke (1621–1677). Ihnen<br />

eigen ist eine unglaublich feine, sehr eingängige, nie trockene, nie aufdringliche,<br />

nie selbstverliebte Art des Frühbarocks. Das Booklet bemerkt,<br />

dass sich die Engländer – lange vor Bach – der europäischen, das heißt<br />

der italienischen und französischen Stile bedient haben, um sie zu verschmelzen.<br />

Oper und Tanz kombiniert, aber jeglichen Übermaßes entledigt,<br />

was einen eigenen „very british“ Stil schafft. Die Zusammenstellung<br />

von orchestralen Stücken und instrumentalen Fassungen von einigen<br />

Arien aus Purcells King Arthur, Dioclesian, The Fairy Queen und Lockes The<br />

Tempest ergibt eine erquickende Sammlung freier<br />

Tanz-Suiten. Die Instrumentalisten und besonders<br />

die Continuo-Gruppe des von Dirigent Lorenzo<br />

Ghirlanda 2015 gegründeten jungen Vox Orchesters<br />

spielen mit mitreißender Verve. JFL<br />

Henry Purcell, Matthew Locke: „Orchestral Works“, Vox Orchester,<br />

Lorenzo Ghirlanda (dhm)<br />

IMPRESSUM<br />

VERLAG<br />

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München<br />

Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11, info@crescendo.de, www.crescendo.de<br />

Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger<br />

und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring<br />

HERAUSGEBER<br />

Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de<br />

VERLAGSLEITUNG<br />

Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

ART DIRECTOR<br />

Stefan Steitz | steitz@crescendo.de<br />

LEITENDE REDAKTEURIN<br />

Barbara Schulz | schulz@crescendo.de<br />

RESSORT „SCHWERPUNKT“<br />

Dr. Maria Goeth | goeth@crescendo.de<br />

RESSORT „HÖREN & SEHEN“ UND „ERLEBEN“<br />

Ruth Renée Reif | reif@crescendo.de<br />

RESSORT „STANDARDS”<br />

Klaus Härtel | haertel@crescendo.de<br />

RESSORT „KÜNSTLER“ UND „LEBENSART“<br />

Barbara Schulz | schulz@crescendo.de<br />

SCHLUSSREDAKTION<br />

Maike Zürcher<br />

KOLUMNISTEN<br />

Axel Brüggemann, Paula Bosch, Ioan Holender,<br />

Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />

Florian Amort (FA), Roland H. Dippel (DIP), Alexander Fischerauer (AF),<br />

Klaus Kalchschmid (KLK), Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK), Corina Kolbe (CK),<br />

Guido Krawinkel (GK), Jens F. Laurson (JFL), Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Angelika<br />

Rahm, Ragna Schirmer, Antoinette Schmelter-Kaiser (ASK), Fabian Stallknecht (FS),<br />

Dorothea Walchshäusl (DW), Walter Weidringer (WW), Patrick Wildermann<br />

VERLAGSREPRÄSENTANTEN<br />

Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

Kulturbetriebe: Dr. Cornelia Engelhard | engelhard@crescendo.de<br />

Touristik & Marke: Heinz Mannsdorff | mannsdorff@crescendo.de<br />

Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de<br />

AUFTRAGSMANAGEMENT<br />

Michaela Bendomir | bendomir@portmedia.de<br />

GÜLTIGE ANZEIGENPREISLISTE<br />

Nr. 22 vom 09.09.2018<br />

DRUCK<br />

Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig<br />

VERTRIEB<br />

PressUp GmbH, Wandsbeker Allee 1, 22041 Hamburg, www.pressup.de<br />

ERSCHEINUNGSWEISE<br />

<strong>CRESCENDO</strong> ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzert häusern, im<br />

Kartenvorkauf und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei träge<br />

bei Port Media GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des<br />

Verfassers, nicht unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung,<br />

auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags. Für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte und Fotos wird keine Gewähr übernommen.<br />

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Festspiel-Guide“ und zusätzlich sechs exklusive heftbegleitende Premium-CDs und kostet<br />

EUR 55,- pro Jahr inkl. MwSt. und Versand (Stand: 01.01.2017). Versand ins europ. Ausland:<br />

zzgl. EUR 3,- je Ausgabe Bank-/Portospesen. Zahlung per Rechnung: zzgl. EUR 4,90<br />

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Verbreitete Auflage:<br />

69.680 (lt. IVW-Meldung 1V/2018)<br />

ISSN: 1436-5529<br />

(TEIL-)BEILAGEN / BEIHEFTER:<br />

CLASS, Gewandhaus zu Leipzig<br />

DAS NÄCHSTE <strong>CRESCENDO</strong><br />

ERSCHEINT AM 6. SEPTEMBER 20<strong>19</strong>.<br />

<strong>CRESCENDO</strong><br />

unterstützt<br />

39


H Ö R E N & S E H E N<br />

FOTO: MARCO BORGGREVE<br />

GESANG<br />

Julian Prégardien<br />

Berührende Schönheit<br />

„You’re still young, that’s your fault / There’s so much you have to know“, sang<br />

Cat Stevens in Father and Son. Nicht bei Julian Prégardien, dem Sohn des großen<br />

lyrischen Tenors. Bei gemeinsamen Aufnahmen wissen sie oft nicht, wer da<br />

gerade singt, weil ihre Stimmtimbres einander so ähneln. Auch Julian ist ein<br />

Meister der Modulation, verfügt über unendliche Nuancen, um jeden Charakter,<br />

jede Stimmungsveränderung Vers für Vers auszuloten – Heinrich Heines feine<br />

Ironie zwischen den Zeilen von Schumanns opp. 24 und 48 mit Momenten<br />

berührender Schönheit wie beim Vater. Julians Interpretation allerdings geht von<br />

den Erkenntnissen historisch informierter Praxis (Neuausgabe von Hansjörg<br />

Ewert) aus und seiner Intuition. „Wahrscheinlich würde Schumann<br />

manche meiner Änderungen zurückweisen. Andere würden ihn jedoch<br />

zum Grübeln bringen, hoffe ich“, schreibt er im Booklet. „Er hat eine<br />

sehr starke und glückliche Persönlichkeit“, sagt der Vater. TPR<br />

Robert Schumann: „Dichterliebe“, Julian Prégardien, Sandrine Piau, Éric Le Sage (Alpha)<br />

Track 4 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: Am leuchtenden Sommermorgen<br />

NEUE<br />

WELTEN<br />

Der Komponist Jóhann Jóhannsson entzog sich Zeit seines<br />

Lebens der simplen Einordnung und kultivierte in<br />

seinen Kompositionen den stilistischen Grenzgang. Wie<br />

vielfältig und klangsinnlich das gelang, zeigt diese hochwertig<br />

aufbereitete Edition mit frühen Werken des 2017<br />

verstorbenen Komponisten. Klassische Formen, elektronische<br />

Klänge, sinfonische Passagen und Elemente der<br />

Minimal Music fließen kunstvoll ineinander und lassen<br />

Jóhann Jóhannsson<br />

Faszinierende Grenzgänge<br />

Klangbilder von suggestiver Dichte und Melancholie entstehen.<br />

Die Edition umfasst sechs Werke des Komponisten,<br />

darunter viele Filmmusiken, außerdem einen ausführlichen<br />

Begleitband. Ein faszinierend dichtes Erlebnis<br />

für all jene, die Jóhannssons vielschichtiges Werk posthum<br />

noch intensiver entdecken möchten. DW<br />

Jóhann Jóhannsson: „Retrospective I“ (DG)<br />

Helmut Deutsch<br />

Wahrhaftig ergänzen<br />

Im Schatten des Sängers – das scheint das Schicksal<br />

des Liedbegleiters zu sein. „Bin ich zu laut?“,<br />

schmunzelte Gerald Moore, der langjährige<br />

Begleiter von Dietrich Fischer-Dieskau in seiner<br />

Biografie, sekundiert von Roger Vignoles’ Lied<br />

The Battle Hymn of the Accompanist (auf YouTube<br />

zu sehen). Auch der legendäre Hermann Prey,<br />

mit dem Helmut Deutschs Karriere in den<br />

<strong>19</strong>80er-Jahren begann, verstand sich als „Chef“,<br />

um ihm dann zu sagen: „Das klingt so dämlich;<br />

mach doch was draus!“ Und Deutsch „machte“,<br />

erfasste, wie ein Radar, jede Nuance des Sängers,<br />

jede Empfindung und Bewegung, um ihn mit „seiner“<br />

Stimme wahrhaftig zu ergänzen, im Wissen,<br />

dass die Gleichberechtigung zwischen Sänger und<br />

Begleiter keine politisch gesellschaftliche, sondern<br />

eine rein musikalische Frage ist. Amüsant<br />

lesen sich Deutschs „politisch<br />

unkorrekte“ Bemerkung, er<br />

kenne keinen, der zeitgenössische<br />

Musik gerne singe, und kaum<br />

jemanden, der sie mag, und<br />

andere Wahrheiten. TPR<br />

Helmut Deutsch: „Gesang auf Händen<br />

tragen. Mein Leben als Liedbegleiter“<br />

(Henschel)<br />

BUCH<br />

Christian Thielemann<br />

Daumenkino<br />

Wäre dieser Bildband nicht so prächtig und,<br />

ja, auch mächtig, wäre man wohl wirklich<br />

versucht, die Seiten schnell durch die Finger<br />

gleiten zu lassen, um Christian Thielemann<br />

unmittelbar beim Dirigieren zu „erleben“.<br />

Man tut aber gut daran, sich Zeit zu<br />

nehmen für dieses Porträt in Bildern. Ungewöhnlich<br />

nahe kommt man dem Künstler,<br />

obwohl kein einziges privates Foto enthalten<br />

ist, sondern lediglich ein Motiv in<br />

unzähligen Varianten: Beseelt, ergriffen,<br />

fröhlich, wütend, verbissen – keine Gefühlsregung<br />

fehlt in diesem Kaleidoskop der Leidenschaften,<br />

das der Fotograf Lois Lammerhuber<br />

klug zusammengestellt hat. Er<br />

war der Erste, der Thielemann während<br />

einer laufenden Aufführung aus dem Bayreuther<br />

Graben mit der Kamera begleiten<br />

durfte. Thielemann selbst erzählt dazu ausgesprochen<br />

unterhaltsam von sich und seiner<br />

großen Passion:<br />

dem Dirigieren. BS<br />

Christian Thielemann:<br />

„Dirigieren/Conducting“,<br />

Clemens Trautmann,<br />

Lois Lammerhuber<br />

(Edition Lammerhuber)<br />

Cornelia Funke<br />

Eine<br />

mystische Reise<br />

„Da, hört ihr das? […] Engel. Sie kommen, um<br />

die Alpträume zu jagen, die die Dunkelheit<br />

gebiert und um das Licht der Sterne zu ernten.“<br />

So beginnt die neue Geschichte der<br />

berühmten Kinderbuchautorin Cornelia Funke.<br />

Ein Engel in der Nacht handelt von zauberhaften<br />

Wesen, die ein Mädchen mit gebrochenem<br />

Herzen heilen wollen. In mehreren Dimensionen<br />

wird der Zuhörer auf eine mystische Reise<br />

geschickt: Funkes angenehme Stimme, stets<br />

begleitet vom Cellisten Matt Haimovitz und<br />

seinem Uccello Ensemble, wechselt ab mit<br />

Musik von Luna Pearl Woolf und Wiegenliedern<br />

aus der ganzen Welt. Zusätzlich finden<br />

sich in der CD-Box zehn liebevoll illustrierte<br />

Kärtchen, die dem Zuhörer eine visuelle Vorstellung<br />

von Rahmiel, dem Engel der Nacht,<br />

und Luna, dem Mädchen mit dem gebrochenen<br />

Herzen geben. Ein geheimnisvolles, wunderbar<br />

detailreiches Projekt. Bei diesem Hörerlebnis<br />

ist das Einschlafen erlaubt –<br />

oder vielleicht auch ein schöner<br />

Tagtraum? SK<br />

Cornelia Funke, Luna Pearl Woolf:<br />

„Ein Engel in der Nacht“,<br />

Matt Haimovitz, Uccello Ensemble<br />

(Pentatone)<br />

HÖR-<br />

BUCH<br />

40 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Jetzt zwei Ausgaben EMOTION kostenlos testen unter<br />

www.emotion.de/crescendo


M E I N U N G<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

SCARPIA GIBT’S NICHT NUR<br />

AUF DER BÜHNE<br />

Immer mehr #MeToo-Skandale in der Klassik werden öffentlich. Viele wollen davon nichts wissen.<br />

Warum es existenziell ist, dennoch hinzuschauen und das System an sich infrage zu stellen.<br />

Nein, dieses Thema macht keinen Spaß. Und ja – wir würden<br />

gerne wegschauen. Neulich erreichte mich ein Leserbrief zu meinem<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Newsletter. Warum ich dauernd in die Suppe<br />

spucken würde. Warum es bei mir so oft um Politik ginge, um<br />

unangenehme Themen, um gesellschaftliche Debatten und aktuelle<br />

Themen. Musik sei doch in erster Linie dazu da, sich zu entspannen,<br />

abzutauchen in eine andere Welt, sich auszuruhen von<br />

unserem komplizierten Alltag.<br />

Natürlich kann man Musik auf diese Art konsumieren. Und<br />

es ist auch nichts dagegen zu sagen, Musik als Flucht zu nutzen –<br />

als Flucht vor allem, was uns im Alltag viel zu groß und viel zu<br />

schwer vorkommt. Teil der Wahrheit ist aber auch, dass es wohl<br />

kaum einen Komponisten gibt, der mit seiner Musik nicht auch<br />

ein klingendes Abbild seiner Zeit schaffen wollte, der mit seiner<br />

Musik nicht nur einen Rückzugsort, sondern auch einen Ort der<br />

Kommunikation über unsere Welt in den Raum stellen wollte. Das<br />

gilt übrigens auch für die meisten Interpreten: Egal, ob sie versuchen,<br />

die humanistischen Botschaften Beethovens ins Heute zu<br />

übersetzen oder, wie der Pianist Igor Levit oder der Schlagzeuger<br />

Martin Grubinger, aktiv ins aktuelle politische Geschehen eingreifen<br />

– Musik ist immer auch Dialog und Debatte. Nirgends wird das<br />

so deutlich wie in der Oper: Sexueller Missbrauch, Gewalt gegen<br />

Frauen und ihre Hilflosigkeit stehen in unendlich vielen Werken<br />

im Zentrum. Der Polizeichef Scarpia, der seine Macht ausnutzt,<br />

um die Schauspielerin Floria Tosca für sich zu gewinnen, Otello,<br />

der seine Frau Desdemona demütigt, Carmen, die mit ihren sexuellen<br />

Reizen Don José in einen Mörder verwandelt, der US-Seemann<br />

Benjamin Pinkerton, der das japanische Mädchen Madame<br />

Butterfly erst schwängert und dann sitzenlässt, Salomé, die es<br />

gewohnt ist, als Kind für ihren Vater zu tanzen – und, und, und …<br />

Bei all diesen Opern schauen wir gebannt zu. Und danach<br />

tun wir so, als würde all das nur auf der Bühne stattfinden. Eine<br />

Tragödie wie ein Verkehrsunfall, an dem wir vorbeirauschen. Der<br />

uns einige Kilometer lang das Blut in den Gliedern gefrieren lässt,<br />

um dann wieder aufs Gaspedal zu treten.<br />

So ähnlich kommt es mir auch mit der aktuellen #MeToo-<br />

Debatte in der Klassik vor. Nachdem der „Spiegel“ bereits vor einiger<br />

Zeit die Missstände an der Münchner Musikhochschule aufgedeckt<br />

hat (es ging darum, dass Schüler mit ihren Lehrern zur<br />

Auflockerung Pornos schauen mussten, dass Schülerinnen angegrabscht,<br />

unter Druck gesetzt und sogar vergewaltigt wurden),<br />

legte das Blatt nun nach: Zwei Musikerinnen berichteten von ähnlichen<br />

Zuständen an den Musikhochschulen in Hamburg und<br />

Düsseldorf. Nachdem der Artikel gedruckt war, passierte: so gut<br />

wie nichts. Veröffentlichungen über sexuelle Übergriffe, über das<br />

Ausnutzen einer Machtposition an den Hochschulen oder auf den<br />

Bühnen durch Dirigenten sorgen eine Zeit lang für Erschütterung<br />

– und dann geht es irgendwie weiter.<br />

Klar, in Fällen sexuellen Machtmissbrauchs ist es schwierig,<br />

zu juristischen Urteilen zu kommen. In der Regel gibt es nur zwei<br />

Beteiligte und keine Zeugen. Oft finden die Opfer erst nach langer<br />

Zeit den Mut, über das zu reden, was sie erlitten haben. Aber irgendwann<br />

stehen die Vorwürfe im Raum: Das war so bei James Levine,<br />

der seine Position als Dirigent ausgenutzt haben soll, um jüngere<br />

Künstler sexuell zu bestimmen; das war so bei Daniele Gatti, dem<br />

von zwei Frauen sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden, bei Gustav<br />

Kuhn, der in Erl nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein<br />

erotisches Imperium aufgebaut haben soll, und bei Charles Dutoit,<br />

der einer Sängerin kurz vor einem Auftritt an den Busen gegriffen<br />

haben und andere gegen ihren Willen geküsst haben soll. Die<br />

Aufregung war groß, die Berichterstattung laut. Inzwischen sind<br />

wir dabei zu vergessen, zu verdrängen oder zu relativieren. Während<br />

James Levine noch in juristischen Auseinandersetzungen<br />

mit der Metropolitan Opera in New York steckt, geht das Leben<br />

für die anderen Dirigenten inzwischen fast normal weiter: Dutoit<br />

dirigiert das Orchester in St. Petersburg, Gatti wurde in Rom zum<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

42 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Chef ernannt und wird kommende Saison mit der Staatskapelle<br />

Dresden, dem Gewandhausorchester und dem Orchester des BR<br />

auftreten. Das Concertgebouw, das ihn einst wegen der sexuellen<br />

Übergriffe entlassen hat, gab kürzlich eine Pressemeldung heraus,<br />

dass man dem ehemaligen Chef danke, ihm viel Glück wünsche<br />

und dass man von nun an in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit<br />

blicken wolle.<br />

Und auch nach der neuen Veröffentlichung im „Spiegel“ bleibt<br />

es weitgehend still. Keine der Hochschulen hat ernsthaft darüber<br />

nachgedacht, konkret zu handeln (einer der Professoren, dem<br />

sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, ist noch immer im Amt).<br />

Dabei gibt es immer mehr Stimmen von Opfern. Ich habe mich<br />

mit einem der Autoren des „Spiegel“-Texts unterhalten. Er hat mir<br />

Mails von weiteren Frauen weitergeleitet, die ähnliche Geschichten<br />

berichten. Es ist längst klar, dass sexuelle Übergriffe an unseren<br />

Hochschulen keine Einzelfälle sind. Dennoch gibt es keinerlei<br />

Codex an den Institutionen, durch den zumindest das Machtgefüge<br />

aufgehoben würde. Es wäre ein Leichtes, seine Lehrkräfte<br />

dazu aufzufordern, dass ihre Schüler, wenn sie in einem sexuellen<br />

Verhältnis zum Lehrer stehen, den Lehrer<br />

wechseln – um nicht in die Gefahr zu kommen,<br />

sexuell abhängig zu werden. Aber nichts davon.<br />

Stattdessen: Schweigen im Klassik-Wald. Aussitzen.<br />

Wegschauen. Weghören.<br />

Warum aber ist es so, dass wir besonders<br />

in der Welt der klassischen Musik mit sexuellen<br />

Übergriffen zu tun haben? Es scheint ein System<br />

zu sein, das Methode schafft. Das System der<br />

Klassik unterscheidet sich in vielen Dingen von<br />

anderen gesellschaftlichen Bereichen wie etwa<br />

dem Sport oder der Politik. Zum einen haben<br />

wir es noch immer mit dem uralten Mythos des<br />

Genies zu tun. Mit dem alten, bürgerlichen Glauben,<br />

große Kunst müsse unkonventionell sein, ein Genie könne nur<br />

dann kreativ sein, wenn es die Grenzen der Konventionen überschreitet<br />

– und dazu gehört für viele eben auch die erotische Freiheit.<br />

Eigentlich müssten wir im 21. Jahrhundert längst gelernt<br />

haben, dass der Geniekult des <strong>19</strong>. Jahrhunderts nur ein Mythos<br />

war. Jeden Tag beweisen große Künstler, dass man große Kunst<br />

auch mit demokratischen Mitteln erreichen kann, mit fairem Verhalten<br />

gegenüber seinen Mitkünstlern und, ja, vollkommen skandalfrei.<br />

Es ist höchste Zeit, dass auch wir als Publikum aufhören zu<br />

glauben, dass große Kunst nur von großen Arschlöchern gemacht<br />

werden kann.<br />

Eine weitere systemische Eigenheit der Klassik ist, dass ihr<br />

die Instanz einer wirklich kritischen und freien Presse weitgehend<br />

abgeht. Im Feuilleton spielt die klassische Musik kaum noch<br />

eine Rolle, und wenn, gibt es kaum noch einen Journalisten, der<br />

nicht in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zu jenen Künstlern<br />

steht, über die er berichtet: Da ist die Einladung zu einer Konzertreise<br />

nach Abu Dhabi oder der Auftrag, ein Booklet oder ein<br />

Programmheft für einen Künstler oder ein Orchester zu schreiben.<br />

Keine Redaktion in Deutschland, nicht einmal die großer<br />

Zeitungen, ist noch in der Lage, einen Kritiker aus eigener Kasse<br />

nach, sagen wir, New York fliegen zu lassen. Meist werden diese<br />

Reisen von den Orchestern oder den Veranstaltern gezahlt. Freie<br />

und kritische Berichterstattung ist damit so gut wie ausgeschlossen.<br />

Hinzu kommt, dass die meisten Klassik-Journalisten nicht aus<br />

dem Journalismus kommen, sondern aus der Musik. Anders als im<br />

Sport oder in der Politik liegt damit der Fokus in der Regel nicht<br />

auf der sozialen Komponente der Kunst, sondern auf ihrer qualitativen<br />

musikalischen Umsetzung.<br />

SCHWEIGEN IM<br />

KLASSIK-WALD.<br />

AUSSITZEN.<br />

WEGSCHAUEN.<br />

WEGHÖREN<br />

Das, aber auch die Nischenkultur der Klassik, sorgt dafür,<br />

dass sowohl Hochschulen als auch Orchester und Theater Mikrokosmen<br />

sind, die kaum unter öffentlicher Beobachtung stehen, die<br />

es kaum noch gewohnt sind, sich für ihre staatlichen Subventionen<br />

öffentlich zu legitimieren, die weitgehend unter dem Radar<br />

der öffentlichen Kontrolle hindurchsegeln und die in der Regel<br />

mit eigenen, veralteten Hierarchien geführt werden. Kein Wunder,<br />

dass sich in dieser kleinen Welt, die ihre eigenen Helden hat,<br />

Strukturen etablieren, die kein Korrektiv mehr kennen. Es ist<br />

doch bezeichnend, dass sexuelle Übergriffe sogar an Musikhochschulen<br />

wie jener in Hamburg stattfinden, die nach außen eine<br />

besonders starke Gender-Fraktion haben und von liberalen Kräften<br />

geleitet werden. Aber wenn es um Forschungsgelder oder neue<br />

Aufträge geht, scheinen die eigenen Prinzipien über Bord geworfen<br />

zu werden.<br />

Und damit sind wir bei einem weiteren Merkmal der Klassik-<br />

Kultur: Während hochsubventionierte Klassik-Stars und Dirigenten<br />

(keiner von ihnen finanziert seine Abendgagen allein durch die<br />

Eintrittskarten) andauernd hofiert werden, als seien sie weltweite<br />

Superstars, glauben sie allmählich wirklich, dass<br />

sie unantastbar sind. Gleichzeitig zeigen die<br />

Erfahrungen der letzten Jahre, dass die Kulturpolitik<br />

weniger Interesse an den inneren Strukturen<br />

von Hochschulen, Theatern oder Orchestern<br />

haben als an der glamourösen Außenwirkung<br />

der Ensembles und ihrer Leiter. Oft ist es<br />

der Kulturpolitik wichtiger, eine schillernde<br />

Dirigenten-Persönlichkeit zu verpflichten, als<br />

sich die Mühe zu machen, die inneren Strukturen<br />

der Ensembles unter die Lupe zu nehmen.<br />

Doch genau an dieser Stelle scheint<br />

sich nun etwas zu tun. Während viele Theater,<br />

Orchester und Musikhochschulen noch in<br />

ihrem eigenen Saft schmoren, wird der Druck auf die Kulturpolitik<br />

durch die aktuelle Berichterstattung immer größer. Und so<br />

war es dann eben auch nicht die Leitung der Hochschulen, die die<br />

Beschwerden der Opfer ernst genommen hat, sondern die Politik.<br />

Und es ist das, was uns am Ende an der #MeToo-Debatte in der<br />

Klassik optimistisch stimmen könnte. Allmählich entsteht ein<br />

Bewusstsein, dass etwas nicht stimmt in der Welt, die uns eigentlich<br />

den Geist des Humanismus und der Menschenliebe eröffnen<br />

soll. Dafür aber ist es wichtig, dass auch wir als Publikum<br />

nicht wegschauen, dass wir als Journalisten dranbleiben, auch<br />

wenn Themen wie sexuelle Übergriffe der Schönheit der Kunst im<br />

Wege stehen. Dass wir aus der Welt der Klassik, und gerade aus<br />

der Welt der Oper, lernen, dass Madame Butterfly, Carmen, Tosca<br />

oder Salome eben keine Kunstfiguren sind, deren Schicksal sich<br />

erledigt hat, sobald der Vorhang gefallen ist, sondern dass sie auch<br />

dann unter uns sind, wenn wir das Theater verlassen.<br />

Wenn wir die Welt der klassischen Musik wieder in Ordnung<br />

bringen wollen, dürfen wir nicht wegschauen, uns nicht gelangweilt<br />

abwenden, keine Angst haben hinzuschauen und aufzuschreien<br />

– wir dürfen uns nicht einreden, dass die Musik als Wert<br />

an sich groß genug ist und wir uns nicht um die Bedingungen ihrer<br />

Produktion kümmern müssen. Das wäre so, als würden wir ein<br />

Schnitzel nach dem anderen in uns hineinstopfen, ohne zu fragen,<br />

woher es kommt. Gerade das Klassik-Publikum sollte sensibilisiert<br />

für jede Form der Ungerechtigkeit sein und in zahlreichen Konzerten<br />

und Opern gelernt haben, wie wichtig es ist, aufzustehen<br />

und Missstände anzuklagen – immer und immer wieder, bis sich<br />

die Strukturen geändert haben.<br />

■<br />

43


R Ä T S E L<br />

& R E A K T I O N E N<br />

GEWINNSPIEL<br />

Wer verbirgt sich hinter diesem Text?<br />

LESERBRIEFE<br />

Betrifft: Gendergerechte Sprache<br />

„Kein anderer zeitgenössischer Komponist hat mich so<br />

unwiderstehlich angezogen“ (Yehudi Menuhin, <strong>19</strong>65)<br />

Als „Rousseau der Musik“ gehörte ich zu den bedeutendsten Komponisten<br />

des letzten Jahrhunderts. Meine Begabung fiel zusammen<br />

mit meinem absoluten Gehör schon früh auf. Mit drei konnte<br />

ich auf meiner Trommel den Takt angeben, mit vier Klavier spielen,<br />

mit sieben begann ich zu komponieren und mit zehn trat ich<br />

als Pianist auf. Ich begann Komposition zu studieren und vertonte<br />

besonders in jungen Jahren meine enge Volksverbundenheit, die<br />

sich voller Schlichtheit und Direktheit entfalten konnte. Mein systematisches<br />

Sammeln von Volksliedern führte mich auf weite Feldforschungen,<br />

die akribisch mündlich Überliefertes transkribierten,<br />

um es vor dem Vergessen zu bewahren. Meine Genauigkeit zeichnete<br />

sich aber nicht nur in meiner Arbeit als Musikethnologe aus.<br />

Die beharrliche Tempokontrolle durch ein Metronom und die<br />

Angaben zur Aufführungsdauer betonten meine Exaktheit. Mein<br />

musikalisches Werk wendet sich von der romantischen Klangwelt<br />

ab und ist von Pentatonik, Diatonik und Bitonalität beherrscht.<br />

Leider verbot ein Kölner Oberbürgermeister, der später der<br />

erste Bundeskanzler werden sollte, eine meiner Bühnenkompositionen,<br />

die mit angeblich unmoralischer Handlung einen Theaterskandal<br />

auslöste. Das gewählte Sujet mit Zuhältern und Prostituierten<br />

galt als zu anstößig. Die Situation in meinem Heimatland<br />

zwang mich in den <strong>19</strong>40er-Jahren zur Emigration. In Amerika<br />

fühlte ich mich aber lange nicht angekommen. Hier war ich, von<br />

Geldnot gezwungen, Klavierunterricht zu geben. Auftragsarbeiten<br />

zogen sich durch meine letzten Lebensjahre, bevor ich an Leukämie<br />

starb und mein letztes Klavierkonzert unvollendet hinterließ.<br />

Einer meiner Schüler fügte die 17 fehlenden Takte hinzu. AM<br />

RÄTSEL LÖSEN UND EINE<br />

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Wer ist hier gesucht? Wenn Sie die Antwort<br />

kennen, dann nehmen Sie an der Verlosung<br />

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Diese CD-Box können Sie gewinnen:<br />

„Carlo Maria Giulini. Complete Recordings<br />

on Deutsche Grammophon“. Einsendeschluss<br />

ist der 15. <strong>August</strong>. Gewinner unseres letzten Gewinnspiels ist<br />

Günter van Ool aus Jülich. Die Lösung war Aaron Copland.<br />

FOTO: BY ALLAN WARREN / OWN WORK, CC BY-SA 3.0<br />

Manche Leute sprechen von Gleichberechtigung,<br />

manche von Genderwahnsinn.<br />

Musikerinnen und Musiker, MusikerInnen,<br />

Musiker(innen), Musiker*innen – Möglichkeiten<br />

gibt es viele. Wie sinnvoll diese sind, darüber<br />

wird auch unter den <strong>CRESCENDO</strong> Lesern leidenschaftlich<br />

diskutiert. Allerdings hat nicht<br />

zuletzt die MeToo-Debatte, in der es um Sexismus<br />

und sexualisierte Gewalt geht, einmal mehr vor Augen geführt,<br />

dass es bis zur Gleichberechtigung ein weiter Weg ist.<br />

(Die folgenden Kommentare wurden im Original und ohne Rechtschreibkorrektur<br />

übernommen)<br />

Grauenvoll<br />

Sehr geehrter Herr Hanuschik,<br />

ich finde es grauenvoll, wie die deutsche Sprache verunstaltet wird!<br />

Nicht nur hemmen diese Wortkreationen den Lese- (bzw. Rede-)<br />

Fluss, ich meine darüber hinaus, dass die Frauen von heute darüberstehen<br />

und nicht gleich beleidigt sein sollten. Ich ( Jahrgang <strong>19</strong>47) bin<br />

aufgewachsen mit der Regel, dass sobald etwas im Plural benutzt<br />

wird, man zur männlichen Form greift – und ich habe mich nie diskriminiert<br />

gefühlt. Ich habe für die deutschen Frauen in dieser Hinsicht<br />

weder Geduld noch Verständnis. Hoffentlich bleiben diese<br />

Verstümmelungen eine Modeerscheinung und verschwinden bald<br />

wieder. Es wäre schade um die deutsche Sprache (die schwer, aber<br />

schön ist) und es ist nun wirklich völlig unnötig! Rosemary R., Berlin<br />

Weder schwülstig, noch unübersichtlich<br />

Sehr geehrter Herr Winfried Hanuschik,<br />

zum Thema Genderwahn zwei Sätze: „Die Bürger*innen, aber auch<br />

die Besucher*innen unserer Stadt können in der Buchhandlung B.B.<br />

das „crescendo-Magazin“ aus einem Aufsteller kostenlos entnehmen.<br />

Ausübende Künstler*innen, wie Instrumentalist*innen aller<br />

Genres, Musiker*innen, Sänger*innen, Dirigent*innen,<br />

Pianist*innen, aber auch Komponist*innen, Regisseur*innen und<br />

Intendant*innen kommen in diesem Magazin zu Wort.“ Wie angenehm<br />

hingegen klingt, denn Sprache hat etwas mit Sprechen zu tun,<br />

dieser Satz : „Ausübende Künstler, wie Instrumentalisten aller Genres,<br />

Musiker, Sänger, Dirigenten, Pianisten, aber auch Komponisten,<br />

Regisseure und Intendanten kommen in diesem Magazin zu Wort.“<br />

Das klingt weder schwülstig, noch konfus, noch unübersichtlich,<br />

noch gespreizt, noch unverständlich. Gotthard Lukas, Finsterwalde<br />

Titelbild<br />

Gendergerechte Sprache endet schon direkt beim Titelbild: „Camilla<br />

Tilling – die Sopranistin gastiert am 6. April in der Hamburger Elbphilharmonie<br />

unter Sir Simon Rattle“. „Unter“? Ja, das sagte man<br />

mal so, früher, als Dirigenten noch Götter und Sängerinnen devote<br />

Dienerinnen waren. Aber, mal im Ernst: Ist das Ihr Ernst?<br />

Christoph Klamp (der das Bild von Frau Tilling unter Sir Simon jetzt<br />

nicht mehr los wird)<br />

Unästhetisch und schwer lesbar<br />

Sehr geehrter Herr Hanuschik,<br />

ich empfinde diese politisch verursachte Sprachveränderung als unästhetisch<br />

und darüberhinaus als schwer lesbar. Im Übrigen glaube<br />

ich auch nicht, dass eine von einer kleinen Lobbygruppe propagierte<br />

Änderung der Sprache tatsächlich die Verhältnisse gerechter gestalten<br />

kann.<br />

Matthias Schwab<br />

GRAFIK: PSCHEMP -CC BY-SA 3.0<br />

44 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


ERLEBEN<br />

Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen von <strong>Juni</strong> bis <strong>August</strong> im Überblick (ab Seite 46)<br />

Spannende Symbiose: Die Musiklandschaft Sachsen vereint Historie, Kultur und Natur aufs Schönste (Seite 52)<br />

Soli Deo Gloria: Haydns Schöpfung steht im Mittelpunkt des Braunschweig Festivals (Seite 54)<br />

16. Juli bis 27. <strong>August</strong><br />

43. INNSBRUCKER FESTWOCHEN<br />

Der 350. Todestag des Innsbrucker Hofmusikers Pietro Antonio Cesti gibt Anlass, an sein Werk zu erinnern. Geboren in Italien, trug er<br />

den venezianischen Opernstil hinaus in die Erblande der musikliebenden Habsburger. 1652 ließ er sich als Kapellmeister von Erzherzog<br />

Ferdinand in Innsbruck nieder. 150 Opern schrieb er mit einer großen Leichtigkeit und dem Geschmack seiner Zeit entsprechend.<br />

Seine berühmteste Oper La Dori overo lo schiavo reggio (Doris oder die glückhafte leibeigene Dienerin), eine Verkleidungskomödie zur<br />

Verherrlichung der Gattenliebe, steht auf dem Festwochen-Programm. Ottavio Dantone leitet sein Originalklang-Ensemble, die Accademia<br />

Bizantina (Foto). Ein Jubiläum feiert auch der nach Cesti benannte Gesangswettbewerb. Vor zehn Jahren von Alessandro<br />

De Marchi, dem Intendanten der Festspiele, ins Leben gerufen, versteht er sich als Forum für Sänger mit besonderer Begabung für das<br />

Barockopernfach. So sind Teilnehmer des Wettbewerbs immer wieder in den Programmen der Festwochen zu finden.<br />

Innsbruck, verschiedene Spielorte, www.altemusik.at<br />

FOTO: ACCADEMIA BIZANTINA<br />

45


E R L E B E N<br />

<strong>Juni</strong> / Juli / <strong>August</strong> 20<strong>19</strong><br />

DIE WICHTIGSTEN<br />

VERANSTALTUNGEN AUF<br />

EINEN BLICK<br />

Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals<br />

PREMIEREN<br />

1.6. ESSEN AALTO-THEATER<br />

Così fan tutte / W. A. Mozart<br />

1.6. LEIPZIG OPER<br />

Madame Pompadour / Leo Fall<br />

2.6. AACHEN THEATER<br />

Così fan tutte / W. A. Mozart<br />

2.6. BERLIN STAATSOPER<br />

Rigoletto / Giuseppe Verdi<br />

4.6. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />

Il delirio amoroso / G. F. Händel,<br />

Zad Moultaka und Hyam Yared<br />

6.6. GIESSEN STADTTHEATER<br />

Carmen / Ivan Strelkin, Rodion Shchedrin<br />

nach Georges Bizet<br />

6.6. MAINZ STAATSTHEATER<br />

Freiheit / Guy Weizman und Roni Haver<br />

7.6. BASEL (CH) THEATER<br />

Didone abbandonata / Niccolò Jommelli<br />

7.6. HANNOVER STAATSOPER<br />

Die Krönung der Poppea / Claudio Monteverdi<br />

7.6. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZ-<br />

THEATER<br />

Atlantis / Karl Alfred Schreiner<br />

8.6. KARLSRUHE BADISCHES<br />

STAATSTHEATER<br />

Hoffmanns Erzählungen / J. Offenbach<br />

8.6. ROSTOCK VOLKSTHEATER<br />

Eine Nacht in Venedig / Johann Strauß<br />

9.6. KIEL THEATER<br />

Die Krönung der Poppea / C. Monteverdi<br />

9.6. KÖLN OPER<br />

La Grande-Duchesse de Gérolstein /<br />

Jacques Offenbach<br />

14.6. HOF THEATER<br />

Lulu / Barbara Buser, Tiger Lillies nach<br />

Frank Wedekind<br />

14.6. LÜBECK THEATER<br />

La Traviata / Giuseppe Verdi<br />

15.6. FRANKFURT AM MAIN OPER<br />

The Medium / Giancarlo Menotti und<br />

Satyricon / Bruno Maderna<br />

15.6. FREIBURG THEATER<br />

Schau mich an / Céline Steiner, Ruslan<br />

Khazipov und G. F. Händel<br />

15.6. GELSENKRICHEN MUSIK-<br />

THEATER IM REVIER<br />

Schwanda, der Dudelsackpfeifer /<br />

Jaromir Weinberger<br />

15.6. KASSEL STAATSTHEATER<br />

Brundibár / Hans Krása<br />

Bis 15. September, München<br />

DIESER SCHMERZVOLLE<br />

KÖRPER<br />

Maria Lassnig, die 2014 verstarb und deren Geburtstag in diesem<br />

Jahr zum 100. Mal wiederkehrt, zählt zu den wenigen Künstlern, die<br />

ein herausragendes Alterswerk vorzuweisen haben. In den letzten<br />

Jahren ihres Schaffens steigerte sie die <strong>19</strong>49 begonnenen Selbstporträts<br />

zu radikalen Erkundungen des Körpergefühls, indem sie ihr<br />

Innerstes nach außen kehrte und auf die Leinwand brachte. „Die Bilder<br />

sollen lieber penetrant als elegant sein“, befand sie. Das Gemälde<br />

Der Verstand hat Angst / Der Arzt sagt: Die Welt loslassen (Foto) aus<br />

den Jahren 2000 bis 2005 zeigt den gealterten Körper mit schmervollem<br />

Gesichtsausdruck. Die von Veit Loers kuratierte Ausstellung<br />

BODY CHECK. Martin Kippenberger – Maria Lassnig stellt Lassnigs Bilder<br />

denen Martin Kippenbergers gegenüber. Die künstlerische Auseinandersetzung<br />

des <strong>19</strong>97 verstorbenen Malers, Bildhauers, Installations-<br />

und Performancekünstlers galt ebenfalls dem eigenen Körper.<br />

Lassnig und Kippenberger hätten in ihrer Malerei eine Richtung eingeschlagen,<br />

in welcher „Jacques Lacans corps morcelé, der zergliederte<br />

Körper des frühkindlichen Spiegelstadiums“, einen wichtigen<br />

Bezugspunkt bilde, erläutert Loers im Katalog. Mehr als 60 Werke<br />

hat er für den Ausstellungsparcours aus internationalen Sammlungen<br />

zusammengeholt.<br />

München, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München,<br />

www.lenbachhaus.de<br />

FOTO: LASSNIG STIFTUNG<br />

15.6. MÖNCHENGLADBACH<br />

THEATER<br />

Orpheus in der Unterwelt / J. Offenbach<br />

15.6. LEIPZIG OPER<br />

Die verkaufte Braut / Bedřich Smetana<br />

16.6. DORTMUND THEATER<br />

Wo die wilden Kerle wohnen /<br />

Oliver Knussen<br />

16.6. STUTTGART OPER<br />

Mefistofele / Arrigo Boito<br />

20.6. WIEN (AT) STAATSOPER<br />

Otello / Giuseppe Verdi<br />

22.6. DRESDEN STAATSOPERETTE<br />

Ein Hauch von Venus / Kurt Weill<br />

23.6. AACHEN THEATER<br />

Elegie für junge Liebende /<br />

Hans Werner Henze<br />

23.6. KÖLN OPER<br />

Pin Kaiser und Fip Husar / Frank Engel<br />

23.6. NÜRNBERG STAATSTHEATER<br />

Jakob Lenz / Wolfgang Rihm<br />

23.6. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS<br />

Nabucco / Giuseppe Verdi<br />

24.6. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />

Hamlet / Ambroise Thomas<br />

28.6. GERA LANDESTHEATER<br />

ALTENBURG<br />

Untergang der Titanic / W. D. Siebert<br />

28.6. LUDWIGSHAFEN THEATER<br />

IM PFALZBAU<br />

Rienzi / Richard Wagner<br />

28.6. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS<br />

Last Call / Michael Pelzel<br />

29.6. AUGSBURG FREILICHTBÜHNE<br />

AM ROTEN TOR<br />

Jesus Christ Superstar / A. L. Webber<br />

29.6. DRESDEN SEMPEROPER<br />

Les Huguenots / Giacomo Meyerbeer<br />

29.6. KARLSRUHE BADISCHES<br />

STAATSTHEATER<br />

Pelléas und Mélisande / Claude Debussy<br />

30.6. REGENSBURG THEATER<br />

Lucia di Lammermoor / G. Donizetti<br />

5.7. KOBLENZ THEATER<br />

Der Troubadour / Giuseppe Verdi<br />

10.7. DORTMUND THEATER<br />

Joseph and the Amazing Technicolor<br />

Dreamcoat / Andrew Lloyd Webber<br />

13.7. MANNHEIM NATIONAL-<br />

THEATER<br />

Il trovatore / Giuseppe Verdi<br />

17.8. ERFURT MARIENDOM<br />

Pettersson und Findus und der Hahn im<br />

Korb / Niclas Ramdohr<br />

46 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


FOTO: RÜDIGER SCHESTAG; ANNE C ERIKSEN; SIMON-PAULY; TINA RUISINGER; CHRISTIANE HEINRICH; HAMBURGER STAATSOPER; COOPER AND GORFER; PETER ADAMIK; UWE LEWANDOWSKI; FRANZISKA DANNHEIM; EWA KRASUCKA; THOMAS KRAUT;<br />

MARCO BORGGREVE; HELMUT SCHWARZ<br />

27. Juli bis 4. <strong>August</strong><br />

SOMMERLICHE MUSIKTAGE HITZACKER<br />

Aribert Reimann komponierte 2017 für das<br />

Kuss Quartett (Foto) den Zyklus Die schönen<br />

Augen der Frühlingsnacht. Er wählte sechs Lieder<br />

des romantischen Komponisten Theodor<br />

Fürchtegott Kirchner nach Gedichten von Heinrich<br />

Heine aus und bearbeitete sie für Sopran<br />

und Streichquartett. „Theodor Kirchner begann<br />

früh zu komponieren und wurde zunächst von Felix Mendelssohn Bartholdy<br />

und Robert Schumann, später von Clara Schumann und Johannes<br />

Brahms sehr gefördert“, erläutert er im Vorwort zur Partitur. „Schon<br />

seine Lieder op.1 lassen eine klare Formstruktur, Konzentration des<br />

Formmaterials auf engem Raum und rhythmische Variabilität erkennen.“<br />

Aus verschiedenen Abschnitten seines Lebens stellte er Kirchners Lieder<br />

zusammen und band sie in Sieben Bagatellen ein. Das Kuss Quartett und<br />

Sarah Maria Sun eröffnen mit dem Liebesliederreigen die Musiktage.<br />

Sommerliche Musiktage Hitzacker, verschiedene Spielorte,<br />

www.musiktage-hitzacker.de<br />

9. <strong>August</strong><br />

ERFURT DOMSTUFEN-FESTSPIELE<br />

Der Wunsch, eine Geschichte durch Musik zu<br />

erzählen“, ist es, der den vielseitigen norwegischen<br />

Komponisten Gisle Kverndokk (Foto)<br />

inspiriert. Für sein neues Musical-Projekt mit<br />

seinem Librettisten Øystein Wiik nimmt er sich<br />

Umberto Ecos Mittelalterroman Der Name<br />

der Rose als Vorlage. Der Roman mit der brennenden<br />

Bibliothek am Ende wurde als literarisches Meisterwerk der<br />

Semiotik gefeiert. Für Eco war es die Vorstellung der Ermordung eines<br />

Mönchs in einer Bibliothek, die ihn zu dem Roman angeregt hatte. Die<br />

Uraufführung auf der imposanten Freitreppe zum Mariendom setzt Axel<br />

Köhler mit dem Theater Erfurt in Szene. Als Choreograf wirkt Mirko<br />

Mahr mit, und die musikalische Leitung übernehmen Jürgen Grimm und<br />

alternativ Chanmin Chung.<br />

Erfurt , Mariendom, www.theater-erfurt.de<br />

1. <strong>Juni</strong> bis 22. September<br />

OTTOBEUREN BASILIKAKONZERTE<br />

„Musikant Gottes“ wurde Anton Bruckner einst<br />

von seinem Biografen Ernst Décsey genannt.<br />

So kann es wohl keinen passenderen Ort für die<br />

Aufführung seines Werkes geben als einen Sakralbau.<br />

Lahav Shani dirigiert das Rundfunk -<br />

Sinfonieorchester Berlin (Foto) bei der Aufführung<br />

von Bruckners Siebter Sinfonie in der Basilika<br />

der barocken Klosteranlage von Ottobeuren. Ihr 70-jähriges Bestehen<br />

feiern die Basilikakonzerte mit Händels Messias, aufgeführt vom Münchener<br />

Bach-Orchester und dem Münchener Bach-Chor unter Hansjörg<br />

Albrecht. Das MDR Sinfonieorchester und der MDR Rundfunkchor Leipzig<br />

unter Domingo Hindoyan spielen Puccini und Verdi, und auch die beiden<br />

Orgeln von Karl Joseph Riepp erfüllen das Kirchenschiff mit ihrem Klang.<br />

Ottobeuren, Basilika, www.ottobeuren.de<br />

8. <strong>Juni</strong><br />

LUDWIGSHAFEN DER EINDRINGLING<br />

Helena Waldmann (Foto) gehört zu den bedeutendsten<br />

Tanzregisseurinnen des europäischen<br />

Gegenwartstheaters. Ihre Choreografien werden<br />

weltweit gezeigt. Mit ihrem neuen Performance-Projekt<br />

Der Eindringling – eine Autopsie<br />

bricht sie das Konstrukt des geschlossenen Körpers<br />

eines Landes herunter auf die Ebene des<br />

menschlichen Körpers. Nur durch Öffnungen ist er zum Leben und Überleben<br />

fähig. Tanz ist der physische Beweis, dass Offenheit, Freiheit und<br />

Freizügigkeit der Geschlossenheit überlegen sind. Inspirieren lässt Waldmann<br />

sich von den chinesischen Kampfkünsten, in denen Angriff und Abwehr<br />

eins sind und die Kraft des Angreifers der Verteidigung dient. Die<br />

Musik entwickelt der Berliner Komponist Jayrope, und die Tänzer sind<br />

Ichiro Sugae, Tillmann Becker und Telmo Branco.<br />

Ludwigshafen, Theater im Pfalzbau, www.theater-im-pfalzbau.de<br />

2. <strong>Juni</strong><br />

FRANKFURT AM MAIN KRÓL ROGER<br />

„Der erste Akt ist die Erstarrung der byzantinischen<br />

Formen … und vor diesem Hintergrund<br />

die lichte Gestalt des Hirten, der zu einer anderen<br />

Freude aufruft … Der zweite Akt – das ist<br />

der Osten – grell, die Augen blendend … Der<br />

dritte Akt – das ist die Erfüllung der größten<br />

Sehnsüchte“, beschreibt der Dramatiker und Librettist<br />

Jarosław Iwaszkiewicz den Aufbau von Król Roger. Begeistert vom<br />

kulturellen Schmelztiegel Sizilien, den er auf seinen Reisen in den Süden<br />

kennengelernt hatte, schuf Karol Szymanowski mit ihm das „sizilianische<br />

Musikdrama“ um den Normannenkönig Roger II. Musikmaterial aus drei<br />

Kulturkreisen, dem Byzantinismus, dem arabisch-indischen Orient und<br />

der griechisch-römischen Antike verarbeitete er zu einer Partitur voller<br />

Klang- und Farbenpracht. Johannes Erath setzt das Werk, in dem das<br />

Dionysische und Apollinische zur Verschmelzung kommen, in Szene. Die<br />

musikalische Leitung liegt in den Händen von Sylvain Cambreling. Und die<br />

Titelpartie verkörpert Lukasz Golinski (Foto).<br />

Frankfurt am Main, Oper, 2. (Premiere), 6., 9., 15., <strong>19</strong>., 22., 27. und 29.6.,<br />

www.oper-frankfurt.de<br />

21. <strong>Juni</strong><br />

HAMBURG MOSKAU TSCHERJOMUSCHKI<br />

Dmitri Schostakowitsch konnte überall komponieren.<br />

Er schrieb schnell und arbeitete meist an<br />

mehreren Werken gleichzeitig. <strong>19</strong>58 sorgte er<br />

mit einer Operette für Erstaunen. Er finde, dass<br />

ein ernsthafter Komponist seine Kräfte in jedem<br />

Fach erproben solle, rechtfertigte er sich. „An<br />

populären Kompositionen ist nichts Schlechtes<br />

und erst recht nichts Gefährliches.“ Zwar ist in einem Brief an seinen<br />

Freund Isaak Glikman auch von „Scham“ zu lesen. Aber Moskau, Tscherjomuschki<br />

über die Alltagsszenen in einer Moskauer Trabantensiedlung errang<br />

mit seinen heiteren, einprägsamen Melodien große Beliebtheit. Das<br />

Internationale Opernstudio (Foto) der Hamburger Staatsoper hat sich<br />

das Werk vorgenommen. Vera Nemirova setzt es mit Sonja Nemirova in<br />

der Reihe opera stabile in Szene, und Rupert Burleigh dirigiert.<br />

Hamburg, opera stabile, 21. (Premiere), 22., 23., 25., 26., 28. und 29.6. sowie 6.,<br />

8. und 11.9., www.staatsoper-hamburg.de<br />

27. <strong>Juni</strong> bis 14. Juli<br />

NÜRNBERG U. A.<br />

INTERNATIONALE GLUCKFESTSPIELE<br />

„Neue Klänge für Europa“ haben die Festspiele<br />

zu Ehren von Christoph Willibald Gluck als<br />

Motto gewählt und ein Programm entworfen,<br />

das sich dem Meister aus der Oberpfalz von vielen<br />

Seiten her nähert und sich zu unterschiedlichen<br />

Kunstformen inspirieren lässt. Der Geiger<br />

Daniel Hope (Foto) zeigt in einem von ihm<br />

selbst moderierten Konzert mit dem Zürcher Kammerorchester, welche<br />

Wirkungen von Gluck ausgingen. Dominique Horwitz liest aus E. T. A.<br />

Hoffmanns Erzählung Ritter Gluck. Zur festlichen Eröffnung singt Karina<br />

Gauvin in einer Gluck-Operngala von „großen Gefühlen, Glück und Verhängnis“.<br />

Und im Markgräflichen Opernhaus Bayreuth kommt Glucks<br />

Oper Antigono konzertant zur Aufführung. Gluck schrieb die Geschichte<br />

von Berenice und Demetrio, die in den Wirren der Heirats- und Kriegspolitik<br />

zueinanderfinden, 1756 für das Teatro Argentina in Rom.<br />

Nürnberg, Bayreuth, Berching u .a., www.gluck-festspiele.de<br />

47


E R L E B E N<br />

27. <strong>Juni</strong> bis 14. Juli, Stuttgart<br />

FEST VERSCHNÜRTE MENSCHLICHE KNOTEN<br />

Spirituell durchdrungene Bewegungen<br />

zeigt das Tanztheater von Xie Xin<br />

FOTO: HUANG KAIDI<br />

Zwei Leben gehen eine Verbindung ein – diesen besonderen Moment<br />

des Zusammentreffens stellt Xie Xin in ihrer Choreografie From IN<br />

(Foto) dar. Weite fließende Bewegungen kennzeichnen den Stil des<br />

2014 von ihr gegründeten Tanztheaters. Es ist Gast des Colours International<br />

Dance Festivals von Eric Gauthier. 20 Produktionen aus aller<br />

Welt sind zu sehen, darunter neun Deutschland-Premieren und zwei<br />

abendfüllende Uraufführungen. Aus Helsinki kommt Tero Saarinen mit<br />

seiner Kompanie und dem Akkordeonisten Kimmo Pohjonen. Stephen<br />

Shropshire aus den Niederlanden spürt in We Are Nowhere Else But<br />

Here den intimen Begegnungen nach, die „verborgen sind im fest verschnürten<br />

menschlichen Knoten“. Inspiriert von dem Comicband<br />

Watchmen, untersucht Bryan Arias mit seiner Kompanie in Watch die<br />

moralischen Kämpfe heutiger Helden. Mourad Merzouki und seine<br />

Compagnie Käfig bringen mit dem Barockensemble Le Concert de<br />

L’Hostel Dieu den Hip-Hop in Verbindung mit Barocktanz und steigern<br />

die spontane Kraft der Straßenkunst und die sublime Kunstfertigkeit<br />

des Barocks zu einer poetischen Bilderflut. Der australische Avantgarde-Zirkus<br />

Circa zeigt in En Masse die Vision einer sterbenden und<br />

wiedererblühenden Welt. Die Akram Khan Company aus London feiert<br />

mit Outwitting the Devil ihr 20-jähriges Bestehen und erzählt von<br />

der Suche nach einer Gemeinschaft. Und die Compagnie Marie Chouinard<br />

aus Kanada wendet in Radical Vitality, einer Anthologie aus ihren<br />

Werken, den Blick zurück auf die eigene künstlerische Geschichte.<br />

Stuttgart, Theaterhaus, www.theaterhaus.com<br />

<strong>19</strong>. Juli bis 6. <strong>August</strong><br />

BERLIN YOUNG EURO CLASSIC<br />

„Das Orchester als utopisches Miteinander, als<br />

Gesellschafts- und Gemeinschaftsmodell der<br />

Teilhabe: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“,<br />

steht als Gründungsidee hinter Young Euro<br />

Classic. Das Festival versteht sich als Plattform<br />

des Orchesternachwuchses für die europäische<br />

klassische Musiktradition. Zum 20. Jubiläum<br />

kommen Jugendorchester aus Rumänien, Schweden, Portugal, der Slowakei,<br />

Chile, Israel, der Türkei, China, Großbritannien, den USA und anderen<br />

Ländern nach Berlin. Das Bundesjugendorchester hat auch eine<br />

Uraufführung auf dem Programm: Three African Songs von dem südafrikanischen<br />

Komponisten Hendrik Hofmeyr. Zu Beginn jedes Konzerts erklingt<br />

die Festivalhymne. Komponiert hat sie in diesem Jahr Iván Fischer,<br />

und er bittet die jungen Musiker, sie „nicht zu perfekt zu spielen“. Sie sei<br />

„ein musikalischer Spaß“, man müsse Freude daran haben.<br />

Berlin, Konzerthaus, www.young-euro-classic.de<br />

15. <strong>Juni</strong><br />

OSNABRÜCK GUERCŒUR<br />

Bekanntheit erlangte der französische Komponist<br />

Albéric Magnard tragischerweise durch seinen<br />

Tod. Im September <strong>19</strong>14 starb er bei einem<br />

Schusswechsel, nachdem er versucht hatte, sein<br />

Landhaus bei Paris gegen deutsche Soldaten zu<br />

verteidigen. Unglücklicherweise geriet dabei<br />

sein Haus in Brand und ein Teil seines Werkes,<br />

darunter zwei Akte der Oper Guercœur, wurde Opfer der Flammen. Magnards<br />

Freund Guy Ropartz, der mehrere von Magnards Werken zur Aufführung<br />

gebracht hatte, rekonstruierte die verlorenen Akte und setzte<br />

die Oper <strong>19</strong>31 in Paris wieder auf den Spielplan. Sie erzählt von dem mittelalterlichen<br />

Herrscher Guercœur, der bei der Verteidigung seiner Stadt<br />

gefallen ist und ihm Himmel erwirkt, wieder auf die Erde zu dürfen, um<br />

seine Untertanen zu beschützen. Als er jedoch feststellt, wie sich alles<br />

zum Schlechten gewendet hat und er bei dem Versuch, die Zustände zu<br />

ändern, von seinen eigenen Leuten getötet wird, kehrt er desillusioniert<br />

ins Jenseits zurück. In Osnabrück setzt Dirk Schmeding die Oper mit<br />

Rhys Jenkins als Guercœur in Szene. Am Pult steht Andreas Hotz (Foto).<br />

Osnabrück, Theater, 15. (Premiere), <strong>19</strong>., 23. und 26.6. sowie 2. und 5.7.,<br />

www.theater-osnabrueck.de<br />

23. <strong>August</strong> bis 1. September<br />

ALLEGRO! DAS MUSIKFEST IM TAUNUS<br />

Tango Fuego ist das älteste Tango-Ensemble<br />

Deutschlands. Die Musiker beherrschen sämtliche<br />

Tango-Stile. In einer Konzertlesung mit<br />

Franziska Dannheim (Foto) spielen sie Stücke<br />

von Astor Piazzolla, Añíbal Troila, einem der<br />

wichtigsten Komponisten der goldenen Ära des<br />

Tangos, Carlos Gardel, den sein früher Tod bei<br />

einem Flugzeugabsturz <strong>19</strong>35 zu einem Mythos werden ließ, und anderen.<br />

Dannheim liest aus dem Roman Drei Minuten mit der Wirklichkeit. Wolfram<br />

Fleischhauer hat in diesem Liebes- und Künstlerroman eine Odyssee<br />

durch die Tango-Welt von Buenos Aires entworfen. Die drei Minuten,<br />

das sind für ihn „der kurze, bittersüße Triumpf einer Künstlerin über die<br />

– oft verfluchte – Wirklichkeit“. Eröffnet wird das Musikfest vom<br />

ensemble reflektor mit Haydn und Mozart, und im Abschlusskonzert<br />

spielen die Klarinettistin Sabine Meyer und das Quintett Alliage ein<br />

buntes Programm mit Bach, Strawinsky, Gershwin und Borodin.<br />

Taunus, verschiedene Spielorte, www.allegro-musikfest.de<br />

48 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


FOTO: RÜDIGER SCHESTAG; ANNE C ERIKSEN; SIMON-PAULY; TINA RUISINGER; CHRISTIANE HEINRICH; HAMBURGER STAATSOPER; COOPER AND GORFER; PETER ADAMIK; UWE LEWANDOWSKI; FRANZISKA DANNHEIM; EWA KRASUCKA; THOMAS KRAUT;<br />

MARCO BORGGREVE; HELMUT SCHWARZ<br />

KÜNSTLER<br />

KIT ARMSTRONG<br />

11.6. Berlin, Konzerthaus<br />

12.6. Braunschweig, Stadthalle<br />

16.6. Hannover, NDR<br />

12.7. Bonn, Beethoven-Haus<br />

17.7. Stuttgart, Liederhalle<br />

FRANZISKA HÖLSCHER<br />

13.6. Regensburg, Minoritenkirche<br />

24.6. Elmau, Schloss<br />

2.8. Ansbach, Kunsthaus<br />

9.8. Mettlach, Alte Abtei<br />

DANIEL HOPE<br />

17.6. Essen, Philharmonie<br />

21.6. Ulrichshusen, Festspielscheune<br />

23.6. Schwerin, Freilichtbühne<br />

25.6. Dresden, Frauenkirche<br />

EVGENY KISSIN<br />

3.7. Essen, Philharmonie<br />

8.7. Kiel, Schloss<br />

DOROTHEE OBERLINGER<br />

10. bis 20.6. Potsdam, Sanssouci<br />

26. und 27.6. Bayreuth,<br />

Markgräfliches Opernhaus<br />

10.7. Nieblum, St. Johannis-Kirche<br />

3. und 4.8. Ansbach, Residenz<br />

1. Juli, München<br />

JULIAN PRÉGARDIEN<br />

5., 15. und 16.6. Würzburg, Residenz<br />

5.7. Rottweil, Rottenmünster<br />

7.7 Feldafing, Peter und Paul Kirche<br />

25., 28. und 31.8. Salzburg (A),<br />

Felsenreitschule<br />

BENJAMIN SCHMID<br />

14.6. Mattsee (A), Stiftskirche<br />

16.6. Winterthur (CH), Stadthaussaal<br />

18.6. Salzburg (A), Mozarteum<br />

20.6. Zürich (CH), St. Peter<br />

RAGNA SCHIRMER<br />

6.6. Ettersburg, Schloss<br />

9.6. Zwickau, Robert-Schumann-Haus<br />

17. bis <strong>19</strong>.6. Bremerhaven, Theater<br />

20.6. Hamburg, Museum für Kunst<br />

und Gewerbe<br />

21.7. Chorin, Schloss<br />

16.8. Eisenach, Wartburg<br />

23.8. Bendestorf, Makens Huus<br />

MAURICE STEGER<br />

18.7. Lübeck, Palais Rantzau<br />

21.7. Hasselburg, Herrenhaus<br />

24.7. Rendsburg, Christkirche<br />

25.7. Plön, Nikolaikirche<br />

13.8. Mainz, Seminarkirche<br />

TABEA ZIMMERMANN<br />

22.7. Hamburg, Bucerius Kunst Forum<br />

23.7. Bordesholm, Klosterkirche<br />

AUFTRAGSMORD<br />

Der Komponist Minas Borboudakis<br />

„Es ist der Stoff“, erläutert Minas Borboudakis seine Motivation, ein<br />

Musiktheaterstück zu schreiben. Es gebe Themen im Leben, die immer<br />

wieder auftauchten und jedes Mal eine andere Antwort verlangten.<br />

Sein neues Stück Z mit einem Libretto von Vangelis Hatziyannidis<br />

greift einen Fall auf, der durch den Roman Vassilis Vassilikos’<br />

sowie die Verfilmung von Costa-Gavras bekannt wurde und in Griechenland<br />

heute noch gegenwärtig ist. Am 22. Mai <strong>19</strong>63 wurde in<br />

Thessaloniki der Arzt und Abgeordnete Grigoris Lambrakis auf offener<br />

Straße ermordet. Der brutale Ausftragsmord konnte nur dank<br />

der unerschrockenen Recherche des Untersuchungsrichters Christos<br />

Sartzetakis, des späteren Staatspräsidenten Griechenlands, aufgeklärt<br />

werden. Die Festspiel-Werkstatt der Münchner Opernfestspiele<br />

zeigt Borboudaki’s Stück, das 2018 in Athen uraufgeführt wurde,<br />

in deutscher Übersetzung und unter der Regie von Kevin Barz.<br />

Der Titel bedeutet „Er lebt“. So lauteten die Parolen der Demonstranten<br />

nach dem Attentat. Die Musik Borboudakis’ schafft, dem<br />

Libretto folgend, zwei Erzählebenen. Sie ist rhythmisch an jenen<br />

Stellen, an denen die Handlung vorwärtstreibt, und sphärisch, fragil<br />

und poetisch, wenn Z sich in inneren Gesprächen mit seiner Frau<br />

und seinen Weggefährten austauscht. Die musikalische Leitung der<br />

Aufführung übernimmt der Komponist selbst.<br />

München, Reithalle, 1. (Premiere), 3., 5. und 6.7.,<br />

www.staatsoper.de/werkstatt.html<br />

FOTO: ASTRID ACKERMANN<br />

21. <strong>Juni</strong> 20<strong>19</strong><br />

Meisterpianist<br />

Franz Liszt:<br />

„Années de pèlerinage“<br />

(Auszüge)<br />

Louis Lortie (Klavier)<br />

11. <strong>August</strong> 20<strong>19</strong><br />

Göttliche Musik<br />

Gioachino Rossini:<br />

Petite Messe solennelle<br />

Christiane Karg (Sopran)<br />

Angela Brower (Mezzosopran)<br />

Siyabonga Maqungo (Tenor)<br />

Luca Tittoto (Bass)<br />

Ulrike Payer (Klavier)<br />

Maroš Klátik (Klavier)<br />

Michael Meyer (Harmonium)<br />

Internationale Chorakademie Lübeck<br />

Rolf Beck (Leitung)<br />

www.kunstklang-feuchtwangen.de<br />

Kartentelefon 09852 904-44<br />

Festspiele für die Sinne.<br />

365 Tage im Jahr.<br />

Der Klosterhof in Bayerisch Gmain -<br />

Das Festspielhotel im Grünen.<br />

+49 8651-9825-0 www.klosterhof.de info@klosterhof.de<br />

21. OPEN-AIR-FESTIVAL<br />

Konzerte im Fronhof<br />

MOZARTSTADT AUGSBURG<br />

<strong>19</strong>/20/21 JULI ’<strong>19</strong><br />

Programm unter<br />

www.konzerte-im-fronhof.de<br />

Foto: Gisela Schenker<br />

49


E R L E B E N<br />

Bis 28. Juli, Opernfestspiele Heidenheim<br />

ENTDECKERFREUDE<br />

WECKEN<br />

Dirigent und künstlerischer Leiter Marcus Bosch<br />

Marcus Bosch, der künstlerische Leiter der Festspiele, gibt Einblicke<br />

in das Programm.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Herr Professor Bosch, die Veranstalter der<br />

Opernfestspiele Heidenheim feiern Sie anlässlich Ihrer 10. Saison<br />

als Glück. Was bedeuten Ihnen die Festspiele?<br />

Marcus Bosch: Das kann ich auch nur mit dem einen Wort sagen:<br />

Glück. Die Festspiele haben eine großartige Entwicklung genommen.<br />

Mir wurden glückhafte Arbeitsbedingungen geboten: Ich kann<br />

in Gesamtverantwortlichkeit Planungen vornehmen, das Repertoire<br />

auswählen und als Krönung selbst musizieren. Hinzu kommt das<br />

Glück, mit der Cappella Aquileia ein festivaleigenes Orchester zu<br />

haben und mit den Stuttgarter Philharmonikern und dem Tschechischen<br />

Philharmonischen Chor Brünn zwei hervorragende Klangkörper<br />

einbinden zu können.<br />

Glück ist auch das Motto Ihrer Jubiläumssaison, die von russischem<br />

Repertoire geprägt wird. Welche Überlegungen bewogen<br />

Sie zu dieser Wahl?<br />

Tschaikowskys Pique Dame ist schon lange ein Wunschstück von mir.<br />

Diese „russische Carmen“ als Festivaloper in Originalsprache auf die<br />

Bühne des Rittersaals zu bringen, erfüllt das Vorhaben, mit dem ich<br />

angetreten bin: lebendiges Musiktheater zu zeigen, in dem Musik und<br />

Szene gleichberechtigt nebeneinander stehen. Tschaikowsky ist für<br />

mich einer der wichtigsten Komponisten der Musikgeschichte.<br />

Russische Komponisten dominieren auch das Konzert-<br />

Programm …<br />

Diesen Bogen wollte ich schlagen. Łukasz Borowicz, ein junger polnischer<br />

Dirigent, bringt mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz<br />

zwei Märchen-Musiken von Rimski-Korsakow und Tschaikowskys<br />

Erstes Klavierkonzert zur Aufführung. Ich selbst dirigiere die Stuttgarter<br />

Philharmoniker bei einem Programm mit zwei Scheherazade-<br />

Kompositionen, der von Rimski-Korsakow und der davon inspirierten<br />

Ravel’schen. Mein Wunsch ist es, Repertoire in die Festspiele<br />

zu bringen, das Entdeckerfreude weckt.<br />

Zum Entdecken lädt auch die Zeitgenossen-Biennale. Sie findet<br />

zum fünften Mal statt. Wie wird sie angenommen?<br />

Diese Reihe hat eine lange Tradition und geht zurück auf den Kirchenmusiker<br />

Helmut Bornefeld. Als ich die künstlerische Leitung<br />

der Festspiele übernahm, wollte ich seiner ambitionierten Gesellschaft<br />

ein Podium bieten. Als Festival im Festival gewinnt die Reihe<br />

zunehmend Aufmerksamkeit, während umgekehrt das Festival<br />

durch die Verschiedenheit der Formate und der Spielorte eine Bereicherung<br />

erfährt.<br />

Opernfestspiele Heidenheim, verschiedene Spielorte, www.opernfestspiele.de<br />

FOTO: THOMAS NIEDERMÜLLER<br />

26. Juli bis 4. <strong>August</strong><br />

BACHWOCHE ANSBACH<br />

Während seines Aufenthalts in Köthen am calvinistischen<br />

Hof von Fürst Leopold erhielt Johann<br />

Sebastian Bach eine Aufforderung des Markgrafen<br />

Christian Ludwig von Brandenburg, ihm<br />

einige Werke für das gute Ensemble zu senden,<br />

das er an seinem Hof unterhalte. Bach schickte<br />

sechs verschiedenartige Konzerte mit der Widmung<br />

„Six concerts avec plusieurs instruments, dediées à son Altesse<br />

Royale Monseigneur Chrétien Louis, Markgraf de Brandenbourg …“ Die<br />

Brandenburgischen Konzerte, wie sie später genannt wurden, bilden das<br />

Rückgrat der Bachwoche. Dem Leitmotiv „avec plusieurs instruments“<br />

folgend, erklingen sie, gespielt vom Festspielorchester il Gusto Barocco<br />

unter Jörg Halubek, in den Konzerten der Orangerie im Hofgarten.<br />

Ansbach, verschiedene Spielorte, www.bachwoche.de<br />

26. <strong>Juni</strong> bis 31. <strong>August</strong><br />

EUTINER FESTSPIELE<br />

Brush up your Shakespeare – Wunderbar – Too<br />

Darn Hot – herrliche, temperamentvolle Musik<br />

schrieb Cole Porter für sein Musical Kiss Me,<br />

Kate. Es war jener erste große Erfolg, in dem er<br />

Shakespeares Komödie Der Widerspenstigen<br />

Zähmung in einer turbulenten Rahmenhandlung<br />

auf die Bühne brachte, den er <strong>19</strong>48 über den<br />

Ozean nach Europa schickte. Bei den Festspielen gibt es den Klassiker<br />

auf der Freilichtbühne am Ufer des Großen Eutiner Sees zu sehen. Die<br />

Rolle des auf dem Theater und im Leben streitenden Paares übernehmen<br />

Patricia Hodell und Peter Bording. Regie führt Hardy Rudolz, und die<br />

musikalische Leitung hat Romely Pfund (Foto).<br />

Eutin, verschiedene Spielorte, www.eutiner-festspiele.de<br />

25. Juli bis 11. <strong>August</strong><br />

OBERSTDORFER MUSIKSOMMER<br />

Métamorphoses nocturnes – mit diesem programmatischen<br />

Titel versah György Ligeti <strong>19</strong>54<br />

sein Erstes Streichquartett. Das Dudok Kwartet<br />

Amsterdam (Foto) gastiert damit beim Musiksommer<br />

vor der imposanten Kulisse der Allgäuer<br />

Alpengipfel. Im Eröffnungskonzert erfreut<br />

die Württembergische Philharmonie Reutlingen<br />

mit Tschaikowskys Rokoko-Variationen. Das Capricornus Ensemble<br />

Stutt gart bringt Leopold Mozart anlässlich der 300. Wiederkehr seines<br />

Geburtstages ein Ständchen. Und das Trio Marvin erinnert an<br />

Mieczysław Weinberg, der vor 100 Jahren zur Welt kam, in die Tragödien<br />

des 20. Jahrhunderts hineingerissen wurde und dennoch die moralische<br />

Kraft besaß, das Moment der Hoffnung in seinem Werk aufrechtzuhalten.<br />

Hinauf in die Berge geht es mit German Brass.<br />

Oberstdorf, verschiedene Spielorte, www.oberstdorfer-musiksommer.de<br />

2. bis 11. <strong>August</strong><br />

<strong>19</strong>. DARMSTÄDTER RESIDENZFESTSPIELE<br />

Darmstadt besitzt als einstige Residenzstadt<br />

herausragende architektonische Ensembles. Sie<br />

bilden in den Sommerwochen den kunstvollen<br />

Rahmen für Festspiele. Auf der Mathildenhöhe<br />

lädt inmitten prachtvoller Jugendstilbauten der<br />

Darmstädter Künstlerkolonie die Darmstädter<br />

Hofkapelle unter Wolfgang Seeliger zu einer<br />

Italienischen Nacht. Das Ensemble knüpft an sein historisches Vorbild an<br />

und bringt barocke und klassische Werke detailgetreu zur Aufführung.<br />

Zu den Mitwirkenden gehört der Konzertchor Darmstadt (Foto), der<br />

die Festspiele 2001 ins Leben rief. Mit klassischen europäischen und lateinamerikanischen<br />

Werken gastieren die Bolívar Soloists.<br />

Darmstadt, verschiedene Spielorte, www.residenzfestspiele.de<br />

50 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


FOTO: RÜDIGER SCHESTAG; ANNE C ERIKSEN; SIMON-PAULY; TINA RUISINGER; CHRISTIANE HEINRICH; HAMBURGER STAATSOPER; COOPER AND GORFER; PETER ADAMIK; UWE LEWANDOWSKI; FRANZISKA DANNHEIM; EWA KRASUCKA; THOMAS KRAUT;<br />

MARCO BORGGREVE; HELMUT SCHWARZ<br />

18. Juli bis 6. September, 63. Gstaad Menuhin Festival<br />

MAGISCHES PARIS<br />

Patricia Kopatchinskaja und Sol Gabetta in Gstaad 2018<br />

FOTO: RAPHAEL FAUX<br />

<strong>19</strong>. bis 23. <strong>Juni</strong>, Ries<br />

Vor 20 Jahren verstarb Yehudi Menuhin. Das Festival im Herzen der<br />

Schweizer Alpen, das er <strong>19</strong>57 ins Leben rief, erinnert an das Wunderkind<br />

Menuhin, das mit zehn Jahren unbedingt Unterricht bei George<br />

Enescu, „dem Absoluten“, in Paris haben wollte. „Paris ist magisch und<br />

hat über die Jahrhunderte nichts von dieser Faszination und Anziehung<br />

verloren“, betont Intendant Christoph Müller. Er hat ein Programm entworfen,<br />

das im Zeichen von Paris steht und von französischen Musikern<br />

geprägt ist. In einem Chorkonzert stellt Hervé Niquet mit Solisten und<br />

seinem Concert Spirituel den Barockkomponisten Marc-Antoine Charpentier<br />

vor, einen Meister sakraler Festmusik. Und Olivier Latry, der<br />

Organist von Notre-Dame de Paris, gibt ein Orgelkonzert in der Kirche<br />

Saanen. Konzertant kommt Bizets Carmen mit dem Orchester des<br />

Opernhauses Zürich unter Marco Armiliato zur Aufführung. Gaëlle Arquez<br />

singt die Titelpartie und Marcelo Álvarez die Partie des Don José.<br />

Während das Orchestre philharmonique de Radio-France und das Orchestre<br />

National de Lyon zwei große Konzerte im Festivalzelt bestreiten,<br />

spielt Adam Laloum das Erste Klavierquintett von Gabriel Fauré, das<br />

auf Schweizer Boden entstand. Das Artist-in-Residence-Programm<br />

gestaltet der Pianist Bertrand Chamayou. Darüber hinaus findet ein<br />

Wiedersehen mit der Pianistin Khatia Buniatishvili statt, die zu den Lieblingen<br />

des Festivals gehört. Weitere Gäste sind die Sängerinnen Nuria<br />

Rial und Cecilia Bartoli, die Geigerinnen Vilde Frang, Patricia Kopatchinskaja<br />

und Hilary Hahn sowie die Cellisten Sol Gabetta und Gautier<br />

Capuçon. Und im Abschlusskonzert mit der Staatskapelle Dresden unter<br />

Myung-Whun Chung setzt sich Yuja Wang an den Flügel.<br />

Gstaad, verschiedene Spielorte, 18.7. bis 6.9., www.gstaadmenuhinfestival.ch<br />

EMPFINDSAMKEIT UND HUMOR<br />

Johannes Moesus<br />

Johannes Moesus, der künstlerische Leiter der<br />

Festtage, stellt den vergessenen Komponisten<br />

Antonio Rosetti vor.<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Maestro Moesus, als Gründer<br />

und künstlerischer Leiter der Rosetti-Tage<br />

im Ries widmen Sie sich der Aufgabe, das<br />

Werk Rosettis wieder zum Klingen zu bringen.<br />

Was zeichnet seine Musik aus?<br />

Johannes Moesus: Das kann ich in vier Schlagworte<br />

fassen: Klarheit, Empfindsamkeit, Naivität<br />

im besten Sinne und Humor. Stilistisch bewegt<br />

sich seine Musik im Spannungsfeld zwischen<br />

der Wiener Klassik – Joseph Haydn ist<br />

sein großes Vorbild – und der Mannheimer Schule.<br />

Zudem beeinflussten ihn die Volksmelodien<br />

und musikalischen Traditionen seiner böhmischen<br />

Heimat.<br />

Von den Zeitgenossen soll Rosetti mit Haydn und Mozart auf eine<br />

Stufe gestellt worden sein. Aber die Nachwelt hat ihn vergessen.<br />

Wie ist das zu erklären?<br />

Mozart hatte das Glück, dass sein Werk auch nach seinem Tod insbesondere<br />

von seiner Witwe weiter vermarktet wurde. Haydn war ein<br />

ausgeprägt guter Geschäftsmann und kümmerte sich sein langes Leben<br />

lang intensiv um Verkauf und Verbreitung seiner Kompositionen. Rosetti<br />

dagegen geriet mangels aktiver Erben bald nach seinem Tod in<br />

Vergessenheit. Hinzu kommt, dass Ende des 18. Jahrhunderts ein Wandel<br />

des Geschmacks eintrat. So wichen die Vertreter der Klassik zurück<br />

zugunsten der nun „modernen“ Komponisten der Frühromantik<br />

und des Biedermeiers.<br />

Wie sind Sie auf Rosetti gestoßen?<br />

Das war Zufall. Mit Waldhorn als Nebenfach lernte ich in meinem<br />

Musikstudium schon früh Rosettis Hornkonzerte kennen. <strong>19</strong>92 zum 200.<br />

Todestag Rosettis erhielt ich dann eine Einladung der Schweri ner Philharmonie,<br />

Konzerte mit seinen Werken zu dirigieren.<br />

Und von da an begann ich, mich intensiv<br />

mit seiner Musik zu beschäftigen.<br />

Die Rosetti-Tage feiern in diesem Jahr ihre<br />

20. Saison. Was erwartet die Besucher?<br />

Unsere Konzerte finden durchweg in historischen<br />

Sälen und Kirchen statt. Die ausgewählten<br />

Besetzungen entsprechen denen, für die Rosetti<br />

komponierte. In unserer Jubiläumsausgabe<br />

widmen wir uns zum Beispiel intensiv Rosettis<br />

Streichquartetten. Das vielfach ausgezeichnete<br />

Goldmund-Quartett gastiert dazu auf Schloss<br />

Amerdingen. Auf Schloss Harburg spielt das Bläseroktett<br />

Vecchio Legno auf historischen Instrumenten<br />

Werke von Rosetti, Mozart und Beethoven.<br />

Zwischen den ausgewählten Werken<br />

Dialoge herzustellen, gehört ebenfalls zu unserem dramaturgischen<br />

Konzept. So führen wir eine Messe Rosettis zusammen mit geistlicher<br />

Musik Leopold Mozarts auf, dessen Geburtstag sich zum 300. Mal jährt.<br />

Im Abschlusskonzert auf Schloss Baldern, das von Deutschlandfunk<br />

Kultur mitgeschnitten wird, spielt Albrecht Mayer ein Oboenkonzert<br />

Rosettis, begleitet vom Bayerischen Kammerorchester Bad Brückenau<br />

unter meiner Leitung. Dazu kommen Sinfonien Rosettis und Haydns.<br />

Gibt es noch Werke von Rosetti zu entdecken?<br />

Das Kernrepertoire haben wir weitgehend erforscht, erschließen es<br />

aber fortlaufend durch Notenausgaben für den Praktiker, die beim<br />

Amadeus Verlag erscheinen. Bisher weniger Beachtung fanden Rosettis<br />

an die 80 Klavierlieder, die mit ihrem empfindsamen Text und Stil an<br />

Lieder Mozarts erinnern. Auch bei den Sinfonien gibt es noch das ein<br />

oder andere zu entdecken. Ich wünsche mir aber vor allem, dass größere<br />

Musikerkreise Rosettis Musik für sich entdecken und sie in ihre Programme<br />

aufnehmen.<br />

Ries, 20. Rosetti-Festtage im Ries, verschiedene Spielorte, www.rosetti.de<br />

FOTO: KERSTIN JUNKER<br />

51


E R L E B E N<br />

Von links oben: Dresdner Elbufer, Thomanerchor Leipzig, Gewandhausorchester Leipzig, Bach-Denkmal vor Thomaskirche, Semperoper Dresden<br />

FOTOS: MANFRED LOHSE; DIRK BRZOSKA; GERBER JENS; JOSEF BECK; MATTHIAS CREUTZIGER<br />

SACHSEN,<br />

HEIMAT DER MUSIK<br />

Kein Bundesland klingt so vielseitig, nirgendwo begegnen sich Tradition und Moderne auf<br />

so spannende Weise wie in der Heimat von Bach, Mendelssohn, Schumann und Wagner.<br />

Leipzig feiert „CLARA<strong>19</strong>“, den 200. Geburtstag von Clara Schumann<br />

VON AXEL BRÜGGEMANN<br />

Was wäre die Musikgeschichte ohne Sachsen? Egal, wohin man<br />

reist, nach Dresden oder Leipzig, ins Erzgebirge oder ins Elbtal –<br />

überall lassen sich tönende Spuren großer Komponisten, Musikinstrumentenbauer<br />

und weltweit bekannter Künstler aufstöbern.<br />

Eine Reise durch Sachsen ist eine Reise durch die Geschichte des<br />

Klanges, ein Streifzug, der aus der großen Tradition immer wieder<br />

in die Moderne führt.<br />

Allein die Anzahl der Künstler, die in Sachsen ihre musikalischen<br />

Revolutionen in Angriff genommen haben, ist gigantisch:<br />

Heinrich Schütz, der das Musikleben in Dresden prägte, und natürlich<br />

Johann Sebastian Bach, der 27 Jahre lang Thomaskantor in<br />

Leipzig war. Dabei war er beim Amtsantritt nur dritte Wahl – heute<br />

wäre die Stadt ohne die Spuren dieses Genies kaum denkbar. Carl<br />

Maria von Weber modernisierte die Oper in Dresden und ließ sich<br />

von der Natur Sachsens zum Freischütz inspirieren. Richard Wagner,<br />

geb. in Leipzig, war einer seiner größten Bewunderer: In Dresden<br />

hat er seine ersten Werke aufgeführt, seinen Lohengrin im Idyll<br />

von Graupa komponiert und die Oper geleitet, bis er sich der Revolution<br />

von 1848 anschloss und ins Schweizer Exil flüchten musste.<br />

Robert Schumann wuchs in Zwickau auf und inspirierte das Musikleben<br />

in Dresden und Leipzig. Zum 200. Geburtstag seiner „Power-Frau“<br />

Clara Schumann feiert Leipzig das Jubiläum CLARA<strong>19</strong>.<br />

Hier war auch Felix Mendelssohn Bartholdy zu Hause, der nicht<br />

nur das Gewandhausorchester zu einem der modernsten Ensembles<br />

der Welt verwandelte, sondern eine der wichtigsten Musikhochschulen<br />

des Landes gründete.<br />

Egal, welchen Ort in Sachsen man besucht: Überall trifft man<br />

auf Spuren dieser Giganten, entweder auf der Leipziger Notenspur<br />

oder in den vielen Museen, in denen man den Komponisten noch<br />

heute einen Hausbesuch abstatten kann. Und ihre Kunst klingt<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


K LASSIK VON WELTRANG ERLEBEN<br />

noch immer und überall. Kaum ein anderes Bundesland hat so viele,<br />

so hervorragende Orchester, in denen die Tradition immer wieder<br />

mit der Moderne abgeglichen wird: Das Gewandhausorchester ist<br />

das älteste bürgerliche Ensemble der Welt. 185 Musiker spielen hier<br />

unter ihrem Chef Andris Nelsons, dem Nachfolger von Felix Mendelssohn<br />

Bartholdy, Wilhelm Furtwängler und Kurt Masur. Ebenso<br />

groß ist die Geschichte der Staatskapelle Dresden, die einst von<br />

Heinrich Schütz, dann von Carl Maria von Weber, Richard Wagner,<br />

Giuseppe Sinopoli und heute von Christian Thielemann geleitet<br />

wird. Beide Orchester spielen an ihren jeweiligen Häusern, an der<br />

Oper Leipzig und an der Semperoper in Dresden, die einst die<br />

Werke von Richard Strauss aufführte, als kein anderes Theater sich<br />

das traute. Überhaupt war Sachsen für viele Musiker Sehnsuchtsort<br />

und Exil: So ruhte sich Dmitri Schostakowitsch in Gohrisch<br />

bei Dresden von den Wirren im Stalin-Russland aus und komponierte<br />

hier sein intimes Achtes Streichquartett. Die Schostakowitsch<br />

Tage gehören zu den renommiertesten Musikveranstaltungen der<br />

russischen Musik.<br />

In Chemnitz pflegt die Robert-Schumann-Philharmonie das<br />

Erbe ihres Namensgebers, das MDR Sinfonieorchester ist sowohl<br />

im Radio als auch an ganz unterschiedlichen Spielstätten zu hören,<br />

dazu kommen die Dresdner Philharmonie, zahlreiche kleinere<br />

Ensembles in ganz Sachsen und natürlich die weltweit gefeierten<br />

Kinderchöre, der Thomanerchor in Leipzig und der Dresdner Kreuzchor.<br />

Musik und Theater ist allgegenwärtig, nicht nur in Sachsens<br />

Metropolen: Das Opernhaus in Chemnitz bietet ein ebenso spannendes<br />

Programm wie die Staatsoperette in Dresden, die Felsenbühne<br />

Rathen lädt zu Musik in der Natur, die Theater in Freiberg,<br />

Görlitz oder Zittau bewegen sich nahe an ihrem Publikum, und das<br />

Festspielhaus Hellerau kümmert sich um interdisziplinäre Projekte.<br />

Hinzu kommen die zahlreichen Musikfestspiele: das Bachfest, die<br />

Dresdner Musikfestspiele, das Moritzburg Festival, der MDR Musiksommer<br />

oder das Musikfest Erzgebirge.<br />

Dass Musik in Sachsen nicht nur Geschichte ist, stellen die<br />

Hochschule für Musik und Theater Felix Mendelssohn Bartholdy<br />

in Leipzig und die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in<br />

Dresden unter Beweis. Zwei quirlige Lehranstalten, die das aktive<br />

Musikleben ihrer Städte beleben und weltweit erfolgreichen Nachwuchs<br />

ausbilden.<br />

Spannend ist eine Reise durch die geistliche Musik Sachsens,<br />

die natürlich in der Dresdner Frauenkriche beginnen könnte, aber<br />

auch an abseitige Orte führen kann, etwa zum Freiberger Dom oder<br />

auf eine Spurensuche nach den vielleicht weltbesten Orgeln der Silbermann-Werkstatt.<br />

Der Orgelbauer, dessen Instrumente unter<br />

anderem Bach inspirierten, wird mit einem Museum in Frauenstein<br />

und dem Silbermannhaus in Freiberg gewürdigt.<br />

Überhaupt ist der Musikinstrumentenbau seit jeher ein großer<br />

Wirtschaftsfaktor in Sachsen gewesen, natürlich wegen der großen<br />

Klaviermanufakturen Bechstein und Blüthner, deren Geschichte auch<br />

heute noch ausgestellt wird. Auch ein Besuch im Museum für Musikinstrumente<br />

in Leipzig lohnt sich, das zweitgröße seiner Art, oder im<br />

etwas intimeren Musikinstrumenten-Museum in Markneukirchen<br />

mit über 3.000 Exponaten. Das Framus-Museum erzählt die Geschichte<br />

der legendären Gitarrenmanufaktur, auf die auch John Lennon setzte,<br />

und in Zwota lockt das Harmonikamuseum.<br />

Die Wege durch Sachsens Musiklandschaft sind also vielfältig und<br />

führen von den großen Zentren immer wieder in die atemberaubende<br />

Natur – nirgendwo klingt die Klassik so gegenwärtig wie hier. n<br />

MUSIKLANDSCHAFT SACHSEN<br />

Tipp: „Musiklandschaft Sachsen“ ist ein informativer<br />

und spannend zu lesender Streifzug in Form eines Magazinbuchs<br />

mit vielen Inspirationen. Aufwendig und hochwertig<br />

produziert. Kostenlos zu bestellen unter<br />

Tel +49-(0) 351-49 17 0-0, E-Mail: info@sachsen-tour.de<br />

Festival alpenKlassiK<br />

24. – 31.8.20<strong>19</strong><br />

International Summer School Bad Reichenhall · Meisterkurse und Konzerte<br />

Beim Festival AlpenKlassik kommt alles zusammen:<br />

hochbegabte junge Meisterstudierende aus der ganzen Welt,<br />

die besten Dozenten und Dozentinnen,<br />

internationale Solisten und Solistinnen<br />

und die Bad Reichenhaller Philharmoniker.<br />

Das einwöchige Programm wechselt zwischen<br />

öffentlichen Unterrichtseinheiten, Kammer-,<br />

Orchester- und Überraschungskonzerten.<br />

Ein Feuerwerk an klassischer Musik:<br />

einzigartig, spannend, abwechslungsreich.<br />

23. august<br />

philharmonische Klangwolke<br />

Hochschule<br />

für Musik und Theater<br />

München<br />

programm / tickets<br />

Staatsbad Shop & Tickets Wandelhalle / Salzburger Str. 7 ½ / 83435 Bad Reichenhall<br />

Tel. +49 (0) 8651 606-0 / staatsbad@kurgmbh.de<br />

Karten direkt buchen unter www.bad-reichenhall.de


E R L E B E N<br />

Der Pianist Saleem Ashkar, der Dirigent originaler Klangkultur Martin Haselböck, das Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen<br />

und das Künstlerpaar Rosa Loy und Neo Rauch<br />

„SINGT DEM HERRN<br />

ALLE STIMMEN!“<br />

Joseph Haydns erfindungsreiches Werk steht im Mittelpunkt<br />

von Soli Deo Gloria – Braunschweig Festival.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Die Aura des Besonderen umweht Joseph Haydns Oratorium Die<br />

Schöpfung seit seiner Uraufführung 1799. Haydn, der sich mit einer<br />

fürstlichen Pension in Wien zur vermeintlichen Ruhe gesetzt hatte,<br />

erklomm damit den Gipfel seines kompositorischen Schaffens. Eine<br />

überaus reiche und vielgestaltige Klanglandschaft, in der grazile<br />

Arien, erhabene Chöre, einfache Liedsätze und konzertierende Passagen<br />

einander abwechseln, entwirft er für das Werk. Der von ihm<br />

aus England mitgebrachte Text geht auf das Erste Buch Mose und<br />

John Miltons Epos Paradise Lost zurück. Das Originalklangensemble<br />

Il Giardino Armonico bringt das Chorwerk mit dem Chor<br />

des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung seines Gründers<br />

Giovanni Antonini in der mittelalterlichen Martinikirche zu Braunschweig<br />

zur Aufführung. Als Solisten wirken die Sopranistin Anna<br />

Lucia Richter, der Tenor Maximilian Schmitt und der Bariton Florian<br />

Boesch mit.<br />

Günther Graf von der Schulenburg, Gründer und künstlerischer<br />

Leiter von Soli Deo Gloria, erwählt Haydns Œuvre zum Herzstück<br />

des Festivalprogramms. In den kraftvollen Kompositionen,<br />

die bis heute eine unglaubliche Lebendigkeit aufweisen, fand manches<br />

seinen Anfang. So ist Haydn nicht nur der Vater der Sinfonie,<br />

sondern auch der Erfinder des Streichquartetts. Als Sommergast<br />

des Barons Carl Joseph von Fürnberg auf Schloss Weinzierl bei Melk<br />

erfreute er seinen Gastgeber mit den ersten Proben jener Gattung,<br />

die er hernach im Wettstreit mit Mozart zur Vollendung führte.<br />

Quatuor Zaïde widmet sich in der intimen Atmosphäre der Stiftskirche<br />

Steterburg von Salzgitter den Streichquartetten<br />

Haydns. Das aus den Geigerinnen Charlotte<br />

Maclet und Leslie Boulin Raulet, der Bratschistin<br />

Sarah Chenaf und der Cellistin Juliette<br />

Salmona bestehende und vielfach ausgezeichnete<br />

französische Ensemble gewann 2012 den Haydn<br />

Wettbewerb in Wien.<br />

SOLI DEO GLORIA –<br />

BRAUNSCHWEIG FESTIVAL<br />

22. bis 30. <strong>Juni</strong><br />

Informationen und Kartenservice:<br />

www.konzertkasse.de<br />

www.solideogloria.de<br />

Haydns Sonaten nimmt sich der Pianist Saleem Ashkar vor.<br />

In seinem Haydn-Beethoven-Rezital im Rittersaal des Welfenschlosses<br />

Gifhorn stellt er sie den Sonaten Beethovens gegenüber. 1792<br />

arrangierte Graf Waldstein in Bonn ein Treffen zwischen dem jungen<br />

Beethoven und dem aus England zurückreisenden 60-jährigen<br />

Haydn. Zu dem geplanten Unterricht in Wien kam es allerdings<br />

nicht. Denn Beethoven fand keine Beziehung zu Haydn, und es<br />

widerstrebte ihm, als „Schüler Haydns“ angesprochen zu werden.<br />

Doch widmete er ihm 1795 die Sonate Nummer drei in C-Dur, op. 2.<br />

Beethoven bestimmt den Auftritt des Orchesters Wiener Akademie.<br />

In ihrem Projekt „Resound Beethoven“ unter der künstlerischen<br />

Leitung von Martin Haselböck spielen die Musiker Beethovens<br />

Werke auf Instrumenten seiner Zeit und mit derselben Zahl an<br />

Musikern. Ihre Interpretationen der von himmlischer Leichtigkeit<br />

getragenen Vierten Sinfonie und der von Wagner als „Apotheose<br />

des Tanzes“ bezeichneten Siebten Sinfonie im Theater Wolfsburg<br />

versprechen ein überraschendes Klangerlebnis.<br />

Zur Eröffnung des Festivals heißt es „Kunst begegnet Musik“.<br />

Unter dem Motto „Künstlerpaare“ zeigen die beiden international<br />

geschätzten Vertreter der Neuen Leipziger Schule Rosa Loy und<br />

Neo Rauch im Foyer des Schafstalls Bisdorf ausgewählte Arbeiten,<br />

während das Klavierduo Yaara Tal und Andreas Groethuysen mit<br />

Studien zu Bachs Kunst der Fuge, arrangiert für zwei Klaviere von<br />

Reinhard Febel, seinen Weg eigenwilliger Interpretationen bedeutender<br />

Werke der Musikgeschichte fortsetzt. Und auch auf die Weihnachtszeit<br />

darf man sich schon freuen. Der<br />

Windsbacher Knabenchor, die Deutschen Kammer-Virtuosen<br />

Berlin sowie die Sopranistin<br />

Lydia Teuscher, die Altistin Wiebke Lehmkuhl,<br />

der Tenor Patrick Grahl und der Bassist Thomas<br />

E. Bauer kommen mit Kantaten aus Bachs Weihnachtsoratorium.<br />

■<br />

FOTOS: LUIDMILA JERMIES; UWE WALTER; MICHAEL LEIS; MEINRAD HOFER<br />

54 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


„FEIN GEZEICHNETE<br />

SEELENLANDSCHAFT“<br />

Die Tiroler Festspiele Erl vor der Kulisse des Wilden Kaisers zeigen im Sommer<br />

drei Opern und bekennen sich mit sieben Uraufführungen zur Musik der Gegenwart.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

SIGNUM saxophone quartet<br />

Mit einer Uraufführung eröffnen die Tiroler Festspiele Erl ihre<br />

Sommersaison. Daniel Schnyder, dessen Kompositionen sich an<br />

den Grenzlinien von Jazz sowie klassischer und improvisierter<br />

Musik bewegen, schreibt im Auftrag der Festspiele ein neues Werk.<br />

Das SIGNUM saxophone quartet bringt es zum Klingen, während<br />

das Orchester der Festspiele unter Tito Ceccherini Béla Bartóks<br />

heiteres Konzert für Orchester anstimmt.<br />

Mit beeindruckenden sieben Uraufführungen legen die Festspiele<br />

unter der künstlerischen Leitung von Andreas Leisner ein<br />

Bekenntnis „zur facettenreichen Musik der Gegenwart“ ab. Das<br />

Triptychon „Alm-Trieb“ folgt an drei Konzertabenden mit zeitgenössischer<br />

Musik von Florian Bramböck, Carl Tertio Druml, Andri<br />

Joel Harison, Bruno Maderna, Andreas Trenkwalder und anderen<br />

der Wanderung des Viehs durch das Jahr. Zugleich erzählt das von<br />

Valentin Lewisch konzipierte und geleitete Projekt mit seinen literarischen,<br />

philosophischen und religiösen Texten von jener Reise,<br />

auf der wir uns als Individuen, Liebende und als Gesellschaft befinden.<br />

Auch ein neues Musiktheaterstück gibt es zu sehen. Die Junge<br />

Oper Rhein-Main zeigt in der Regie von Max Koch und unter der<br />

musikalischen Leitung von David Holzinger die Kammeroper Caliban<br />

von Moritz Eggert. Der Librettist Peter te Nuyl greift auf Shakespeares<br />

Komödie Der Sturm zurück und erzählt sie neu aus der Sicht<br />

des „Monsters“ Caliban, Sohn der Hexe Sycorax und des Luftgeists<br />

Ariel. Eggert begreift Caliban als „den unterjochten und versklavten<br />

Ureinwohner einer Insel, der gegen seinen Willen ‚zivilisiert‘ wird“.<br />

Und während Caliban die Sprache der „Zivilisation“ erlerne, werde<br />

TIROLER FESTSPIELE ERL<br />

4. bis 28. Juli<br />

Informationen und Kartenservice:<br />

karten@tiroler-festspiele.at<br />

www.tiroler-festspiele.at<br />

auch musikalisch deutlich, dass es nicht lange<br />

dauern werde, bis er den Spieß umdrehe, „vom<br />

Unterdrückten zum Unterdrücker“.<br />

In „ein Bild der totalen Repression“ lässt<br />

Daniela Kerck ihre Neuinszenierung von Verdis<br />

Aida mit Maria Katzarava in der Titelrolle münden.<br />

Jenseits monumentaler Staatsaktionen spürt sie der „fein<br />

gezeichneten Seelenlandschaft“ der drei Liebenden Aida, Radames<br />

und Amneris nach, die von der Macht des Systems und dem gegenseitigen<br />

Verrat erdrückt werden. „Verdis Oper weist keinen Ausweg“,<br />

betont Kerck, „nur ein Schatten von Utopie lässt sich in pace wiederfinden“.<br />

Die Vergangenheit, die uns mahne, die Gegenwart, der wir<br />

ausgesetzt seien, und „der utopische, poetische und theatralische<br />

Moment“ markieren den Ausgangspunkt für Tina Laniks Inszenierung<br />

von Walter Braunfels lyrisch-fantastischer Oper Die Vögel.<br />

Aristophanes’ Komödie über den Ausflug zweier unzufriedener Menschen<br />

in das Reich der Vögel bildet die Vorlage. Doch kommt es bei<br />

Braunfels tatsächlich zu jenem sinnlosen Krieg zwischen den Vögeln<br />

und Zeus, der die Vogelfestung zerstört – Abbild jenes Krieges, aus<br />

dem Braunfels <strong>19</strong>18 verwundet heimkehrte. Lanik hebt diese Parabelhaftigkeit<br />

des Werks hervor und zeigt die menschliche Selbstüberschätzung.<br />

Am Pult von Orchester und Chorakademie der Festspiele<br />

steht Lothar Zagrosek. Die beiden Menschen Ratefreund und<br />

Hoffegut verkörpern Julian Orlishausen und Marlin Miller.<br />

Die Wiederaufnahme der Inszenierung des Regiekollektivs<br />

Furore di Montegral von Rossinis Guillaume Tell lässt noch einmal<br />

die Rossini-Kultur aufleben, an der in den vergangenen vier Festspieljahren<br />

mit viel Engagement gearbeitet wurde. Ein neues Kapitel<br />

in der Geschichte der Festspiele wird aufgeschlagen, wenn im September<br />

Bernd Loebe die Leitung übernimmt. In einer dreiteiligen<br />

Abschluss-Soiree mit Andreas Leisner, Ekhart Wycik und Beomseok<br />

Yi am Pult blicken die Festspielkünstler in diesem „einmaligen<br />

Übergangsjahr“ zurück auf die vergangenen<br />

mehr als 20 Jahre musikalischen Festspielgeschehens.<br />

Sie feiern die Gegenwart und schauen<br />

„C-Dur-selig gespannt“ in die Zukunft. Die Festwiese<br />

aus den Meistersingern beschließt den Erler<br />

Festspielsommer.<br />

■<br />

55<br />

FOTO: ANDREJ GRILC


E R L E B E N<br />

Die brillante Pianistin Nadia Singer<br />

Lutz Görner, der König der Rezitatoren<br />

FOTOS: FELIX HUESCH / WALIGURA<br />

DIE NEUERFINDUNG<br />

DES KLAVIERABENDS<br />

Lutz Görner und Nadia Singer erwecken das Beziehungsgeflecht einer einzigartigen<br />

Epoche mit Wort und Klang zum Leben.<br />

VON STEFAN SELL<br />

Jemand, der sich auf eine Bühne stellt und ein Publikum von 1.000<br />

Leuten ohne technisches Hilfswerk mit Gedichten begeistern kann,<br />

muss ein außergewöhnlicher Mensch sein. Lutz Görner, den die<br />

Presse rühmt, „die lyrische Stimme Deutschlands“ zu sein, der vier<br />

Jahrzehnte durch die Lande reiste, um den Deutschen ihre Dichter<br />

ans Herz zu legen, ja 17 Jahre lang Sonntag für Sonntag auf 3sat die<br />

200-teilige Sendereihe Lyrik für alle hatte, in der nichts als Dichter<br />

und Dichtung Platz hatten, gilt auch ungekrönt als „König der Rezitatoren“.<br />

Er hat einer ganzen Generation das Ohr für Lyrik geöffnet<br />

und zudem vier Millionen Tonträger mit dieser seiner einzigartigen<br />

Kunst in die Wohnzimmer gebracht.<br />

Doch statt sich im Alter auf diesen Lorbeeren auszuruhen,<br />

beschließt Görner mit 65 Jahren, sich der Musik zu widmen. Nicht,<br />

dass er selber spielen wollte, nein, das überlässt er denen, die am<br />

Instrument zum Meister wurden. Er erzählt das Leben der Komponisten,<br />

findet in ausdauernd feinsinniger Recherche das Menschliche,<br />

Hintergründige, ja auch das verletzbar Liebenswerte der Menschen,<br />

die klassische Musik geschaffen haben. Franz Liszt hat er<br />

sich als Zentralgestirn erwählt, denn um den kreist ein Kosmos.<br />

Das Erstaunliche daran ist, dass wir einen neuen Liszt mit ihm entdecken<br />

dürfen, einen Liszt, der nicht auf das Feuerwerk sprühende<br />

Virtuosentum seiner viel gerühmten Tastenfertigkeit reduziert<br />

bleibt, sondern den Komponisten, der in die Neuzeit führte, der mit<br />

allen seinerzeit in Verbindung stand, sie förderte, beeinflusste und<br />

eine Epoche mit seinen Ideen infiltrierte. In Görners Worten: „Mir<br />

war von vornherein klar, dass Liszt der bedeutendste Komponist<br />

56 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


NADIA SINGER UND LUTZ GÖRNER:<br />

„HECTOR BERLIOZ. MEINE MUSIKALISCHE REISE<br />

DURCH DEUTSCHLAND, ERZÄHLT IN BRIEFEN<br />

AN MEINE FREUNDE IN PARIS“<br />

15.6. Krefeld, Burg Linn | 21.6. Münster, Rathausfestsaal | 22.6. Jülich, Schlosskapelle<br />

| 29.6. Gießen, Neues Rathaus | 30.6. Nürnberg, Meistersingerhalle<br />

Weitere Informationen: www.goerner-singer.de<br />

des <strong>19</strong>. Jahrhunderts ist, und das nicht nur weil Wagner und Berlioz<br />

das gesagt haben, er ist ein ‚Big Spender‘, der sich unglaublich für<br />

andere eingesetzt hat. Er hat über 400 ausgebildeten Pianisten in<br />

einer Art Master Class in seinem Hause kostenlos Unterricht gegeben.<br />

Sein Motto war: ‚Die Welt steht nicht still, wie sollte die Kunst<br />

still stehen.‘ Das hat mich elektrisiert.“<br />

So entstand eine neue Form des Klavierabends, ein „unterhaltsamer<br />

Klavierabend, bei dem Leben und Musik eines einzigen<br />

Komponisten im Mittelpunkt stehen, einfühlsam, intelligent und<br />

humorvoll“. Das Publikum wird an die Hand genommen, kann sich<br />

in Wort und Musik für die Ideen und Einflüsse Liszts auf die Musikwelt<br />

erwärmen. Sähe man den Kosmos Liszt als Sternenkarte, in<br />

welcher Konstellation ständen die bei den einzelnen Klavierabenden<br />

vorgestellten Komponisten? Da wäre Wagner, sein Schwiegersohn,<br />

dem Liszt in Vorwegnahme den Tristan-Akkord schenkte, oder<br />

Chopin, über den Liszt eine Biografie verfasste. Görner: „Am nächsten<br />

waren ihm Wagner, Berlioz und Chopin, das waren Freunde.<br />

Dass ein Weltheroe als Komponist über einen anderen Weltheroen<br />

als Komponist seiner Zeit eine Biografie schreibt, das hat es noch<br />

nicht gegeben und wird es auch nicht mehr geben. Von Berlioz hat<br />

Liszt eine Menge gelernt, Berlioz war acht Jahre älter als er. Mit <strong>19</strong><br />

Jahren begann Liszt, die Symphonie fantastique aufs Klavier zu<br />

übertragen. Daraus wuchs eine Menge an Transkriptionen, die heute<br />

90 CDs umfassen, alles Werke seiner Zeitgenossen, die heute noch<br />

Rang und Namen haben, zum Beispiel Beethoven, dessen Sinfonien<br />

er aufs Klavier übertragen hat.“ Des Weiteren Schubert, Schumann,<br />

Meyerbeer …<br />

Görner hat seine Vision, das Geflecht, die Beziehungen einer<br />

einzigartigen Musikepoche an aufeinanderfolgenden Abenden auf<br />

die Bühne zu bringen, wahr gemacht. Bis 2020 gibt es elf verschiedene<br />

Programme als exzeptionell betörende Klavierabende. Zu<br />

jedem Abend wurde eine Doppel- oder Triple-CD eingespielt. An<br />

seiner Seite spielt virtuos Nadia Singer, eine brillante junge Pianistin,<br />

die auf einen großen Teil des üblichen Wettbewerbsspiels verzichtet,<br />

um sich Saison für Saison das Klavierwerk eines weiteren<br />

Komponisten zu eigen zu machen, nicht nötig zu erwähnen, dass<br />

sie das gesamte Repertoire auswendig beherrscht. Das gibt ihr viel<br />

Freiraum für Interpretation und Hingabe. Das Publikum ist geradezu<br />

verzückt, wenn sich Singer auf ein Stichwort von Görners<br />

Erzählstrang mit Leichtigkeit das passende Stück aus den Fingern<br />

zaubert. Singer stammt aus Rostow am Don, wo sie ihr Konzertexamen<br />

ablegte. Mit drei Jahren begann sie Klavier zu spielen, sang<br />

aber als Teenager lieber Jazz-Standards in den Clubs der Millionenstadt.<br />

In Weimar studierte sie dann bei Grigory Gruzman. Binnen<br />

eines Jahres errang sie den ersten Preis beim Internationalen Rachmaninov-Wettbewerb<br />

in Frankfurt am Main.<br />

Nun sind Görner und Singer im Sommer mit Berlioz unterwegs.<br />

Berlioz konnte zwar Gitarre und Flöte spielen, nicht aber<br />

Klavier. Wenn Liszt dessen Werke für Klavier bearbeitete, dann,<br />

um ihn auf seinen Konzertreisen bekannt zu machen, denn zu<br />

Beginn wollte kaum ein Orchester die monströsen Partituren in<br />

die Tat umsetzen. Es ist ein wahres Erlebnis zu hören und zu<br />

sehen, wie die beiden den Planeten Berlioz in die Umlaufbahn<br />

schicken.<br />

■<br />

Ioan-Holender-Kolumne<br />

BEWAHREN WIR DAS<br />

STADTTHEATER<br />

Als Leo Nucci im März sein 40-jähriges Debüt an der Wiener<br />

Staatsoper mit einem glänzenden Arienabend feierte,<br />

erhielt er als Geschenk das Plakat mit seinem Debüt als<br />

Figaro im Barbier von Sevilla aus dem Jahr <strong>19</strong>79. Nucci sprang<br />

damals für ein erkranktes Ensemblemitglied ein, und neben<br />

seinem Namen stand „als Gast“. Alle anderen Rollen wurden<br />

selbstverständlich von Mitgliedern des Haus-Ensembles<br />

besetzt. Das war in allen großen Opernhäusern der Bundesrepublik<br />

von München bis Hamburg so. Doch bereits als ich<br />

<strong>19</strong>91 die Direktion der Wiener Staatsoper übernahm, gab<br />

es die Spezifizierung „a. G.“ nicht mehr. Heute kennt man<br />

diesen Zusatz gar nicht. Vielmehr versuchen sogar kleine<br />

und mittlere Stadttheater, Hauptpartien mit Gästen zu<br />

besetzen. Für einen angehenden Opernsänger wird es damit<br />

unmöglich, sich langsam und entsprechend seiner vokalen<br />

Entwicklung ein Repertoire aufzubauen.<br />

Als Ersatz dafür führen nahezu alle großen Opernhäuser<br />

sogenannte Opernstudios. Diese funktionieren neben<br />

dem Normalbetrieb des Opernhauses, und die Mitglieder<br />

des Studios werden für kleinere Partien dort auch eingesetzt.<br />

Die Ausbildung im Opernstudio ist auf zwei Jahre beschränkt.<br />

So übernehmen die Opernstudios die Endausbildung, die in<br />

den Musikhochschulen stattfinden sollte, und stellen eine<br />

Zwischenstufe zum Beruf dar. Sie sind aber eine Notlösung<br />

und ein Ersatz für die ersten Engagements, bei denen Anfänger<br />

mit wichtigen und ihrer Entwicklung entsprechenden<br />

Partien betraut werden. Es ist gut, dass es sie gibt, denn es<br />

ist fast der einzige Ort, an dem angehende Sänger noch<br />

wachsen können, wenn auch äußerst bescheiden bezahlt.<br />

Wenn die Stadttheater keine vollständigen Ensembles<br />

mehr beschäftigen und ihre Existenz weiterhin gefährdet ist,<br />

dann gerät die gesamte Gattung Oper in Gefahr. Als Gastsänger<br />

kann man sich nicht aussuchen, welche Partie man<br />

singt. Ein Opernhaus engagiert, was es braucht, und die<br />

wenigsten jungen Sänger sagen Nein zu einer Partie, die sie<br />

nicht singen sollten. Ein von einem kundigen Leiter geführtes<br />

Opernhaus engagiert ein Ensemblemitglied nach dem Repertoirevorhaben<br />

oder richtet den Spielplan danach aus, welche<br />

Sänger zur Verfügung stehen. Der Markt dagegen reagiert<br />

wie die Opernszene, und die Sänger sind eine sekundäre<br />

Notwendigkeit. Sie müssen sich einordnen, um zu<br />

überleben.<br />

„kulTOUR mit Holender“ auf<br />

ServusTV Deutschland:<br />

27. und 30.6. „Tokyo. Teil 1“ | 4. und 7.7. „Günther<br />

Groissböck – ein Bass lässt tief blicken“ | 18. und 21.7.<br />

„Sofia – Kulturperle Bulgariens“<br />

57


E R L E B E N<br />

DAS PHÄNOMEN MOZART<br />

Der Theatersommer im Goethe-Theater Bad Lauchstädt<br />

öffnet anregende Perspektiven auf Goethes Opernambitionen.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

Zwei Jahre nach ihrer Uraufführung in Wien 1791 besuchte Goethe<br />

in Frankfurt am Main eine Aufführung von Mozarts Singspiel<br />

Die Zauberflöte. Es beeindruckte ihn so sehr, dass er am nächsten<br />

Abend gleich noch einmal hinging. Im Januar des darauffolgenden<br />

Jahres zeigte er am Weimarer Hoftheater seine eigene Inszenierung<br />

des Werks, die überaus erfolgreich war, im Sommer auch im Kurtheater<br />

Lauchstädt gezeigt wurde und noch lange eine Stütze des<br />

Repertoires blieb. „Die Zauberflöte hat wieder viele Zuschauer aus<br />

der Nachbarschaft herbeigelockt“, schrieb Goethe 1798 an <strong>August</strong><br />

Wilhelm Schlegel.<br />

Das von der Kammersängerin Edda Moser ins Leben gerufene<br />

und geleitete Festspiel der deutschen Sprache öffnet den Blick zurück<br />

und ermöglicht die einzigartige Sicht auf Goethe als Theaterpraktiker.<br />

Seine Inszenierung wird rekonstruiert und unter der Regie<br />

von Igor Folwill im Goethe-Theater Bad Lauchstädt wieder auf die<br />

Bühne gebracht. Das Thüringische Landesmusikarchiv bewahrt<br />

eine restaurierte Fassung der Weimarer Partitur mit den Veränderungen<br />

auf, die Goethe und sein späterer Schwager Christian <strong>August</strong><br />

Vulpius an ihr vornahmen. Die beiden gliederten das zweiaktige<br />

Werk in drei Akte, strafften die Figuren und entschärften Passagen,<br />

an denen sich Herzog Carl <strong>August</strong> hätte stoßen können. Auch<br />

Goethes Regieanweisungen sind erhalten. So verlangte er etwa für<br />

den Drachen, der die Schlange ersetzt, einen großen Schweif und<br />

für Papagenos Käfig zwei große Vögel mit bunten Federn und<br />

beweglichen Flügeln.<br />

Goethes Verhältnis zur Musik war das eines Dichters. Das<br />

Wort stand für ihn im Vordergrund. Der<br />

Erfolg Mozarts und die überwältigende Wirkung<br />

seines Werks faszinierten ihn. Er rätselte,<br />

wie sie zu erklären waren, und suchte,<br />

dem Phänomen Mozart auf die Spur zu kommen.<br />

Zugleich sah er in ihm auch einen Konkurrenten.<br />

1785 begann er, das Singspiel<br />

GOETHE-THEATER<br />

BAD LAUCHSTÄDT<br />

Bis 26. Oktober<br />

Informationen und Kartenservice:<br />

besucher@goethe-theater.com<br />

www.goethe-theater.com<br />

Scherz, List und Rache zu schreiben und ließ es durch seinen alten<br />

Frankfurter Freund und Freimaurer-Bruder Christoph Philipp<br />

Kayser vertonen. Was Goethe vor Augen hatte, war eine neue<br />

Kunstform: eine Oper deutscher Sprache. Genau die aber schuf<br />

Mozart. „Alles unser Bemühen ging verloren, als Mozart auftrat“,<br />

klagte Goethe Jahre später in seiner Italienischen Reise. „Die Entführung<br />

aus dem Serail schlug alles nieder, und es ist auf dem<br />

Theater von unserem so sorgsam gearbeiteten Stück niemals die<br />

Rede gewesen.“ Das ändert sich jetzt. Im Goethe-Theater bringt<br />

Igor Folwill mit Werner Ehrhardt am Pult das Stück über Scapin<br />

und Scapine, die einen geizigen Doktor überlisten und dazu bringen,<br />

eine von Rechts wegen ihnen gehörende Erbschaft herauszurücken,<br />

auf die Bühne und gibt Einblicke in die Idealvorstellungen,<br />

die Goethe darin entwickelte.<br />

Bad Lauchstädt war Goethes sächsisches Arkadien. Nicht nur<br />

Adelige und reiche Bürger zog es im 18. Jahrhundert zu den mondänen<br />

Kuranlagen. Auch die intellektuelle Elite fand sich ein: Schiller,<br />

Hegel, Wieland, Gottsched. 1791 übernahm Goethe in seiner<br />

Funktion als Intendant des Weimarer Hoftheaters die Leitung des<br />

sommerlichen Spielbetriebs. Am 26. <strong>Juni</strong> 1802 wurde der von ihm<br />

initiierte Theaterneubau, zu dessen Innenausstattung er genaue<br />

Anweisungen erteilt hatte, mit einer festlichen Aufführung von<br />

Mozarts Oper La clemenza di Tito eröffnet. Der Geburtstag dieses<br />

einzigen original erhaltenen Theatergebäudes aus der Goethe-Zeit<br />

wird mit einer musikalischen Lesung gefeiert. Das Flair des einstigen<br />

Kurbetriebs lässt ein abwechslungsreiches Konzertprogramm<br />

unter Mitwirkung des MDR Sinfonieorchesters,<br />

der Deutschen Streicherphilharmonie sowie<br />

zahlreicher Solisten im Historischen Kursaal<br />

lebendig werden. Und ein Wiedersehen gibt es<br />

mit Mozarts Così fan tutte in der Inszenierung<br />

der Oper Halle von Axel Köhler und mit Robbert<br />

van Steijn am Pult.<br />

■<br />

FOTO: UWE KOEHN<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


SCHWERPUNKT<br />

MUSIK & MODE<br />

Wahre Schönheit macht sprachlos: Christian Lacroix im Interview (Seite 60)<br />

Bringen mehr als nur frischen Wind rein: Fächer und ihre Funktionen. Ein historischer Überblick (Seite 68)<br />

Coco Chanel: Ein Leben für die Mode, die Musen und die Musik (Seite 71)<br />

HOT COUTURE<br />

VON STEFAN SELL<br />

Versace Westwood Calvin Klein<br />

up<br />

Obwohl er eigentlich Architektur<br />

studiert, hilft Gianni Versace<br />

seiner Mutter in der Schneiderei<br />

und versorgt sie mit Stoffen. Bald<br />

darauf eröffnet er in Mailand<br />

ein eigenes Modegeschäft. Das<br />

Imperium keimt auf, und bald<br />

heißen von der Mailänder Scala<br />

bis zu Madonna der Musikwelt<br />

neue Kleider: Versace.<br />

Ursprünglich Grundschullehrerin,<br />

eröffnet Vivienne Westwood<br />

auf der Londoner King’s<br />

Road einen Modeshop, der erst<br />

„Let it rock“ heißt, bald „Too<br />

Fast to Live“, kurz darauf „Sex“,<br />

dann „Seditionaries“ und heute<br />

„World’s End“. Es geht steil nach<br />

oben, von der „Erfinderin des<br />

Punks“ zur uniquen Designikone.<br />

Hip-Hop-Sänger und<br />

Modell Marky Mark<br />

bringt den markigen<br />

Underwear-Slogan<br />

in die Commercials:<br />

„The best protection<br />

against AIDS is to keep your<br />

Calvins on!“ Calvin Klein aus<br />

der Bronx studiert Modedesign<br />

und erobert die New Yorker<br />

Modewelt mit drei Kleidern und<br />

sechs Mänteln. Von da an geht’s<br />

bergauf.<br />

down<br />

Dunkel wird es im<br />

Mode-Imperium,<br />

als Gianni Versace<br />

am 15. Juli <strong>19</strong>97 vor<br />

seiner Villa in Miami<br />

als fünftes und letztes Opfer eines<br />

Serienkillers durch zwei Schüsse<br />

tödlich getroffen zu Boden geht.<br />

Wenn auch anders gemeint:<br />

Bruno Mars singt 20 Jahre später<br />

„Versace on the floor“.<br />

Thumbs down – Daumen runter<br />

in Sachen Autofahren. Westwood<br />

fährt Fahrrad. Verwendet sie zu<br />

Beginn ihrer Karriere Sicherheitsnadeln,<br />

Rasierklingen und<br />

Fahrradkettenglieder als Modeaccessoires,<br />

bleib die Kette am<br />

Rad und läuft wie geschmiert, wo<br />

immer Westwood auch hin will.<br />

„Calvin ganz klein“, witzelt „Der<br />

Spiegel“. <strong>19</strong>92 fing David Geffen<br />

eine finanziell gefährliche Talfahrt<br />

Kleins mit 62 Millionen<br />

Dollar federleicht ab. Geffen<br />

machte sein Geld mit prominenten<br />

Musikern wie Jackson Brown,<br />

Bob Dylan, Cher, Guns n’Roses,<br />

John Lennon und Neil Young.<br />

unverwüstlich<br />

Heute ist Giannis jüngere Schwester<br />

Donatella Chefdesignerin.<br />

Trotz Ups & Downs – das Label<br />

bleibt unverwüstlich. Das bekräftigt<br />

2013 das Hip-Hop-Trab-Trio<br />

Migos im nicht enden wollenden<br />

Refrain ihres ersten Megahits:<br />

„Versace, Versace, Versace, Versace,<br />

Versace, Versace, Versace,<br />

Versace, Versace ...“<br />

Heute ist Westwood Aktivistin,<br />

kooperiert mit Fairtrade-<br />

Initiativen, verwendet<br />

keine Tierfelle,<br />

protestiert gegen<br />

Fracking, wirbt für<br />

fleischloses Essen<br />

und steht hinter den<br />

Ideen von Julian<br />

Assange. Mit ihren<br />

78 Jahren fitter denn je, erscheint<br />

sie unverwüstlich wüst.<br />

Große Unterhosen im unverwüstlichen<br />

„Klein“-Format werden<br />

heute seidig sexy von Shawn<br />

Mendes und anderen in Musikvideos<br />

präsentiert. Inwieweit die<br />

flauschig seichten computergenerierten<br />

Loops Musik sind, entscheidet<br />

der Geschmack. Mode<br />

sind sie in jedem Fall.<br />

FOTOS: DAVID SHANKBONE; BIPHOP; MATTIA PASSERI<br />

59


M U S I K & M O D E<br />

Nur keine Banalität!<br />

Christian Lacroix<br />

Er zählt zu den bedeutendsten Designern unserer Zeit.<br />

Seit jeher gelangweilt vom Alltäglichen wurde er der Meister des ganz großen Kinos:<br />

auf der Bühne, auf dem Laufsteg – und im ganz normalen Leben.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

Brenda Rae<br />

als Elvira in I Puritani,<br />

Oper Frankfurt, 2018<br />

FOTO: BARBARA AUMÜLLER<br />

60 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Max Emanuel Cencic<br />

als Valentiniano in Ezio,<br />

Oper Frankfurt, 2013<br />

FOTO: BARBARA AUMÜLLER<br />

61


M U S I K & M O D E<br />

FOTO: PATRICK SWIRC; FORSTER; ARNOLD PÖSCHL; WERNER KMETITSCH; BERND UHLIG; WOLFGANG RUNKEL; BARBARA AUMÜLLER<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Die Tragödie um Notre-Dame ...<br />

Was empfinden Sie?<br />

Christian Lacroix: Fatalismus. Es könnte auch ein<br />

Zeichen für Aufbruch sein. Die Zuversicht könnte wieder<br />

in unsere Seele, unseren Geist einziehen. In unserem Couture-Salon<br />

brach kurz vor der Eröffnung <strong>19</strong>87 Feuer aus, nachdem die<br />

Dekorations- und Malerarbeiten fertiggestellt waren. Heute bin ich<br />

der Meinung, dass dies eine Art „Reinigung“ war. Vielleicht braucht<br />

die katholische Kirche mit all ihren Skandalen auch einen Wiederaufbau.<br />

Notre-Dame war nicht unbedingt meine<br />

Kirche, und ich bin nicht so oft dort gewesen, ab und<br />

an zu den prächtigen Orgelkonzerten, die es dort jeden<br />

Samstag gab. Ich mag eher archaische, herbe, einfache<br />

Kapellen.<br />

Gar nicht herb: Ihr „Notre-Dame“, ein Hotel am<br />

Saint Michel, das Sie 2010 neu ausstatteten mit<br />

barocken, bunten und opulenten Stoffen. Das hätte<br />

wahrscheinlich auch dem Sonnenkönig Ludwig<br />

XIV. gefallen.<br />

Ich liebe den Ort mit dem herrlichen Blick auf die<br />

Seine und auf die Kathedrale. Für die Lobby fand ich<br />

sogar eine aus Holz geschnitzte Uhr aus dem <strong>19</strong>.<br />

Jahrhundert in Form einer Notre-Dame-Kathedrale!<br />

Woher der extravagante Geschmack, dieser Sinn für Opulenz?<br />

Vom exzentrischen Großvater vielleicht oder der Großtante, von<br />

der Sie eine Haarsträhne mit sich tragen?<br />

Wenn Sie nach ihnen fragen, bedeutet das, dass Sie bereits etwas<br />

über beide gelesen haben!!! Es gäbe so viel zu erzählen!! Beide<br />

waren sehr streng und fordernd, aber zugleich liebevoll. Durch sie<br />

bekam ich so etwas wie eine „Wirbelsäule“. Er war der Vater meiner<br />

Mutter, und sie war meine Tante. Sie hatten einen Sinn für natürliche<br />

Eleganz. Sie waren beide stolz, aber nicht nachtragend – stark<br />

und zart. Er hatte sehr viel Humor und führte am Sonntagabend<br />

immer eine Art Charade vor, indem er sich über aktuelle Dinge<br />

lustig machte mit Kostümen und Perücken vom Dachboden. Seine<br />

Anzüge hatten immer grünes Seidenfutter, und er ließ sein Fahrrad<br />

in Gold lackieren. Sie waren beide sehr mutig, vor allem meine<br />

Tante, die sich der Gestapo widersetzte. Mein Großvater weigerte<br />

sich, während des amerikanischen und englischen Bombardements<br />

im <strong>August</strong> <strong>19</strong>44, in den Bunker zu gehen. Er schaute sich die<br />

Christian Lacroix<br />

„Show“ lieber aus einer kleinen Höhle am Flussufer an und beobachtete,<br />

wie die Brücken zusammenstürzten, um dann die toten<br />

Fische einzusammeln. Ihr Haus war fast völlig zerstört. Dennoch<br />

wollte er, dass die Großmutter, die verzweifelt aus dem Bunker<br />

zurückkehrte, die Fische kochte. Möbel sollte sie verbrennen, um<br />

die elf Gäste zu bewirten, die er zum Abendessen eingeladen hatte.<br />

Die Familie väterlicherseits kam aus einer anderen Schicht. Man<br />

war sich nicht so nah, schätzte sich aber.<br />

Welche Rolle spielte die Musik?<br />

Ich hörte als Kind Beethovens Fünfte und natürlich<br />

Bizets Carmen, die Lieblingswerke der Südländer. Und<br />

das klassische Radioprogramm am Sonntagmittag. In<br />

der damals sehr berühmten Debatte um Maria Callas<br />

und ihre Rivalin Renata Tebaldi stand mein Großvater<br />

auf der Seite der Tebaldi. Auf mich aber hatte die<br />

Stimme der Callas tiefgreifenden Einfluss; wie auch<br />

Bachs Toccaten und Fugen und die Brandenburgischen<br />

Konzerte, der ganze Chopin. Aber auch englische<br />

Barockmusik wie Purcell, da Alfred Deller oft nach<br />

Arles kam, wo ich aufwuchs. Ich war fasziniert. Bis<br />

heute bedauere ich sehr, dass ich kein Instrument<br />

spielen kann. Aber ich fürchte, ich habe kein Ohr.<br />

Unvergesslich für mich, wie mein Großvater zu Weihnachten<br />

Gounods Ave Maria sang mit seiner damals sehr alten Mutter, die<br />

Tränen in die Augen bekam.<br />

Woher die Liebe zum Theater?<br />

Ich war immer auf der Suche nach etwas, was größer ist als das<br />

Leben. Ich war gelangweilt vom alltäglichen, normalen Leben,<br />

vielleicht hatte ich nur Angst davor. Ich bevorzugte die Illusion des<br />

Theaters, der Fantasie. Bücher, Musik, Stimmen – diese spirituelle<br />

andere Welt inspirierten mich. Filme übrigens auch. Ich war<br />

glücklich, wenn man mich ins Theater, ins Kino oder in die Oper<br />

mitnahm. Dort konnte man so viel Ungewöhnliches erleben.<br />

Jeder spricht von Individualität. Trotzdem laufen alle gleich<br />

herum. Warum?<br />

Viele koppeln Individualität an Egoismus oder Egozentrik. Dabei<br />

ist sie Freiheit. Doch dazu braucht man Charakterstärke. Soziale<br />

Medien haben einen erschreckenden Einfluss. Schüchternen und<br />

unsicheren Menschen wird ein Allerweltstil auferlegt, damit man<br />

ja nur im globalen Dorf bleibt. Wie in einer Sekte. Sneakers,<br />

62 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Von links: Dalia Schaechter als Amneris in Aida, Köln, 2011; Ilse Eerens als<br />

Mélisande in Pelléas et Mélisande, Klagenfurt, 20<strong>19</strong>; Sara Jakubia als Elsa von<br />

Brabant in Lohengrin, Graz, 2013; Teodor Ilincai als B. F. Pinkerton und Alexia<br />

Voulgaridou als Cio-Cio San in Madama Butterfly, Hamburg, 2012;<br />

Micaela Carosi als Adriana Lecouvreur, Frankfurt, 2012; Paula Murrihy als<br />

Fulvia und Max Emanuel Cencic in Ezio, Frankfurt, 2013<br />

Jogginghosen, T-Shirts, Parkas!!! Alles furchtbar. Natürlich ist<br />

alles etwas komplizierter, aber dafür bräuchte ich Stunden, um<br />

dies zu erklären.<br />

Warum begnügen sich die meisten Menschen mit Banalität?<br />

Soziale Medien, Fernsehen, Instagram beeinflussen das Leben.<br />

Viele leben ihr Leben durch das Leben anderer. Sie folgen Bloggern,<br />

Influencern, Rap-Sängern, Sportlern, schönen Mädchen, die alle,<br />

dank plastischer Chirurgie, gleich aussehen. Exzentrizität ist zur<br />

Fiktion geworden. Sie starren alle auf ihr iPhone oder iPad und<br />

haben Angst, anders zu sein.<br />

Sie aber wollten kein banales Leben.<br />

Nein, auf keinen Fall! Als Kind träumte ich vom Theater. Später<br />

wollte ich Museumskurator<br />

werden, studierte an der Sorbonne<br />

Kunstgeschichte und wollte Ende<br />

der <strong>19</strong>70er-Jahre über die Kleidung<br />

in Gemälden des 17. Jahrhunderts<br />

promovieren. Es kam anders.<br />

Ihre Frau, die bei Hermès<br />

arbeitete, brachte Sie mit der<br />

Modebranche in Kontakt. Sie<br />

fingen dort als Zeichenassistent<br />

an, von <strong>19</strong>81 bis <strong>19</strong>87 entwarfen<br />

Sie die Haute-Couture-Kollektion des Hauses Jean Patou. Gibt es<br />

einen Unterschied zwischen einem Haute-Couture-Kleid und<br />

einem Opernkostüm?<br />

Ende der 70er- und Anfang der 80er-Jahre war die Welt ohnehin so<br />

theatralisch wie eine Oper. Insofern hatte ich kein Problem mit dem<br />

Wechsel. Eine Couture-Kundin bestellt ein einzigartiges Kleid für<br />

einen besonderen Anlass. Nicht nur ihre Silhouette, sondern auch<br />

ihre Einstellung und ihr Temperament werden das prägen, was sie<br />

anhat. Ähnlich geschieht das bei einer Operndiva oder einer<br />

Ballerina. Der einzige Unterschied ist: Haute Couture muss – aus<br />

der Nähe betrachtet – schön sein. Ein Bühnenkostüm aber muss<br />

von Weitem „sprechen“ und wirken.<br />

Stört Sie das als detailversessener Mensch, der man ja als<br />

Designer sein muss?<br />

Es ist keine Frage der Details, sondern des Maßstabs. Bühnengewänder<br />

brauchen größere Stickereien, längere Bänder usw. Alles,<br />

ICH WAR IMMER AUF<br />

DER SUCHE NACH<br />

ETWAS, WAS GRÖSSER<br />

IST ALS DAS LEBEN<br />

was zu raffiniert oder subtil ist, würde auf den großen Bühnen der<br />

Bastille- oder Garnier-Oper verloren gehen. Aber die Opéra-<br />

Comique oder Comédie Française sind klein. Die meisten dieser<br />

wunderbaren Häuser nicht nur in Paris, sondern auch in Berlin,<br />

Frankfurt, München, Wien, oder Graz haben Ateliers wie Couture-<br />

Häuser und das Personal dazu wie Schuhmacher, Weißnäherinnen,<br />

Modisten, Friseure, Maskenbildner.<br />

Was ist wichtiger: der Charakter der Opernrolle oder der des<br />

Interpreten?<br />

Man kann erst mit dem Entwerfen beginnen, wenn man die<br />

Besetzung kennt. Ich erinnere mich an eine Così-Produktion am<br />

La Monnaie in Brüssel. Der Regisseur schwärmte davon, dass die<br />

Teenager Fiordiligi und Dorabella halbnackt am Strand von Neapel<br />

liegen. Das war eine sehr schlechte Idee. Denn die Sänger, die zur<br />

Verfügung standen, waren nicht mehr so jung, auch nicht so dünn,<br />

und nicht bereit, ihren Körper so zu zeigen.<br />

Was war die Herausforderung bei den Kostümen zu Debussys<br />

Pelléas et Mélisande, einem symbolistischen Drama mit wenig<br />

Action, in dem mehr angedeutet als gesagt wird?<br />

Eric Ruf wünschte sich eine sehr dunkle, von der Sonne und dem<br />

Planeten vergessene Welt. Mélisande kommt im leichten „Klimt-<br />

Look“, in einem mit goldenen Pailletten und Spitzen auf hellem Tüll<br />

gearbeiteten Kleid, in dem sich das Licht spiegelt. Und einem<br />

Rüschenkleid, in dem bestimmt 30 Meter Stoff verarbeitet wurden.<br />

Die anderen Sänger haben lange bestickte Mäntel aus Navy-Stoff an<br />

in verschiedenen Schwarztönen, aber auch Matrosenpullover und<br />

Hosen, teilweise von Teer und Schlamm beschmutzt. Ein großes<br />

Lob an die Mitarbeiter des Klagenfurter Stadttheaters, die alle<br />

Kostüme genäht haben!<br />

Sie sind oft von Schönheit umgeben. Was verstehen Sie darunter?<br />

Schönheit ist, wenn man sich mit dem Universum verbunden fühlt,<br />

mit einem Lächeln im Herzen. KEIN Wort ist stark genug, dies zu<br />

beschreiben. Wahre Schönheit macht sprachlos. Schönheit ist nicht<br />

Perfektion. Sie kann auch etwas Seltsames, Bizarres, Unerwartetes<br />

enthalten. Perfektion hingegen fühlt sich leer an.<br />

Ihre nächsten Projekte?<br />

Mozarts Nozze unter der Regie des amerikanischen Filmregisseurs<br />

James Gray am Théâtre des Champs-Elysées im November, Falstaff<br />

in Lille unter der Leitung von Denis Podalydès.<br />

n<br />

63


M U S I K & M O D E<br />

WAS ZIEH’ ICH NUR AN?<br />

Man könnte Bücher füllen über die Modebedürfnisse von Künstlern und Komponisten.<br />

In Wagners Fall ist das auch geschehen: die „Briefe Richard Wagners an eine Putzmacherin” (<strong>19</strong>06),<br />

herausgegeben und herrlich bösartig kommentiert vom Wiener Journalisten Daniel Spitzer.<br />

Der Meister wälzt sich geradezu in Ballen roséfarbener Seide. Die meisten Künstler halten es weniger<br />

extravagant, ihrem Instrument angepasst oder sehr persönlich: Patricia Kopatchinskajas Version<br />

der japanischen Wabi-Sabi-Ästhetik, die subtile, elegante Schlichtheit der Dina Ugorskaja,<br />

Ivan Ilić – der aber versteht modische Codes ganz anders.<br />

Patricia<br />

Kopatchinskaja<br />

GEIGERIN<br />

Wie in der Musik, so finde ich auch<br />

bei Kleidern eine zu perfekte<br />

Oberfläche uninteressant. Ich möchte<br />

experimentieren mit Anspielungen,<br />

Materialien, Formen und<br />

Imperfektion. Ohne die japanische<br />

Tradition des Wabi-Sabi gekannt<br />

zu haben, fand ich für mich<br />

meine eigene Ästhetik der „Hoheit,<br />

die sich in der Hülle des<br />

Unscheinbaren verbirgt“.<br />

FOTO: ILJA KUKUJ; DAN CARABAS; MARTIN TESCHNER; JULIA WESELY, D. RABOVSKY, SAMMY HART<br />

Anneleen Lenaerts<br />

HARFENISTIN<br />

Als Harfenistin ist es schwierig genug, das Klischee der engelsgleichen<br />

Harfe auf Distanz zu halten. Aber in erster Linie will ich mich<br />

hinter meiner Harfe wohl fühlen, und ich hoffe einfach, dass meine<br />

Kleider modern sind und Lebensfreude ausstrahlen. Und es darf auf<br />

keinen Fall etwas sein, was in sich in meinen Pedalen verheddert!<br />

64 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Olga Peretyatko<br />

SOPRANISTIN<br />

Wenn die Leute mich als schicke, aber<br />

doch natürliche Diva sehen möchten,<br />

habe ich eine ganze Reihe Kleider<br />

anzubieten. Sonst habe ich 30 Paar Jeans.<br />

Dina Ugorskaja, PIANISTIN<br />

Die Wahl der Kleidung für eine Aufführung kann die eigene Persönlichkeit<br />

unterstreichen, sollte jedoch gegenüber dem Hörvorgang<br />

nicht die Oberhand gewinnen. „Wenn man von einer Frau fasziniert<br />

war“, sagte einmal Coco Chanel, „aber nicht mehr weiß, wie sie<br />

gekleidet war, dann war sie perfekt gekleidet.“ Entsprechend wäre<br />

meine Wahl richtig, wenn die Zuhörer mit der Musik im Herzen nach<br />

Hause gehen und nicht daran denken, was ich anhatte.<br />

Arabella<br />

Steinbacher<br />

GEIGERIN<br />

An der Schleppe meiner<br />

Kleider erkenne ich immer<br />

das Alter der Dirigenten: Je<br />

älter sie sind, desto häufiger<br />

treten sie drauf.<br />

Linus Roth<br />

GEIGER<br />

Ich mag die klare Linie und<br />

schlichte Eleganz der italienischen<br />

Modefirma, die mit zwei<br />

Buchstaben abgekürzt wird.<br />

Smokings wie Anzüge lasse ich<br />

allerdings immer etwas ändern –<br />

für mehr Armfreiheit beim<br />

Geigen wird ein Stück Stoff an<br />

Ärmeln und Rückenpartie eingesetzt.<br />

Eine Fliege wäre nicht nur<br />

im Weg, ich brauche den<br />

direkten Kontakt zur Geige am<br />

Hals. Deswegen trage ich im<br />

Konzert am liebsten ein einfaches<br />

schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt<br />

darunter.<br />

Ivan Ilić<br />

PIANIST<br />

Immer so anziehen, dass,<br />

wenn einem hinterher<br />

jemand aus dem<br />

Publikum über den Weg<br />

läuft, selbiger einen auf<br />

’nen Drink einladen will.<br />

65


M U S I K & M O D E<br />

WIR SIND,<br />

WIE WIR KLINGEN<br />

Warum die klassische Musik das beste Barometer für die Moden unserer Zeit ist.<br />

VON AXEL BRÜGGEMANN<br />

FOTOS: KARINA SCHWARZ / DG; ALLAN WARREN, <strong>19</strong>73; ANTON ZAVYALOV; DIETER NAGL; SONY BMG MASTERWORKS; ALBERTO VENZAGO; LIBRARY OF CONGRESS<br />

Von oben links im Uhrzeigersinn: Daniel Barenboim; Nikolaus Harnoncourt; Leonard Bernstein;<br />

Roger Norrington; Teodor Currentzis; Herbert von Karajan; Wilhelm Furtwängler<br />

66 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Für viele ist die klassische Musik so etwas wie der Goldpreis<br />

der Kultur: stabil und keinen Schwankungen ausgesetzt,<br />

unabhängig von Moden und Zeitgeist. Ein ewiges, ja klassisches<br />

Erbe, ein klingendes, in Marmor geschlagenes Monument.<br />

All das ist natürlich vollkommener Quatsch! Der Dirigent<br />

Daniel Barenboim hat einmal den sehr klugen Satz gesagt: Die<br />

Aufgabe eines Klassikkünstlers sei es, das ewig Gleiche immer wieder<br />

neu zu entdecken – Abend für Abend. In Wahrheit unterliegt<br />

die Klassik also auch dem Diktat der Mode. Wie eine Beethoven-<br />

Sinfonie heute klingt, sagt mehr über unsere Zeit aus als über die<br />

Zeit Beethovens. Die jeweilige Interpretation ist, wenn man so will,<br />

das Gewand, das wir dem nackten Notentext allabendlich überstreifen:<br />

glitzernd, abgewrackt, in strenger Form oder individualistisch<br />

dekoriert.<br />

DIE INTERPRETATION<br />

Eine These, die sich leicht beweisen lässt: Hören wir einfach, mit<br />

wie viel Pathos, Effekt und Sinn für den Rausch Wilhelm Furtwängler<br />

Beethovens Neunte dirigiert hat und wie Herbert von Karajan<br />

sie nur zwei Jahrzehnte später auf Hochglanz polierte. Wie eklektizistisch<br />

sie sich beim Amtsantritt von Simon Rattle bei den Berliner<br />

Philharmonikern anhörte und wie ein Dirigent wie Teodor<br />

Currentzis sie heute gegen den Strich bürsten würde. All diese Dirigenten<br />

kleiden Beethoven immer auch in den Zeitgeist ihrer jeweiligen<br />

Epoche: das nationale Überwältigungspathos der Kriegszeit<br />

bei Furtwängler, der Soundtrack des Wirtschaftswunders bei Karajan,<br />

der Einzug der Postmoderne bei Rattle und der unbedingte<br />

Wille zur eigenen Entäußerung bei Currentzis.<br />

Ein anderer schöner Satz stammt von dem Pianisten Pierre-<br />

Laurent Aimard: „Klassische Musik ist nichts anderes, als immer<br />

wieder eine Brücke von der Vergangenheit in die Gegenwart zu<br />

schlagen. Die Partitur bildet dabei<br />

den unverrückbaren Fixpunkt der<br />

WIE EINE BEETHOVEN-<br />

SINFONIE HEUTE<br />

KLINGT, SAGT MEHR<br />

ÜBER UNSERE ZEIT<br />

AUS ALS ÜBER DIE ZEIT<br />

BEETHOVENS<br />

Geschichte, auf den wir jeden Tag<br />

vollkommen neu zurückblicken,<br />

stets geprägt von jener Welt, die<br />

uns umgibt.“ Die Interpretation<br />

eines klassischen Werkes ist am<br />

Ende also immer auch eine Form<br />

der Geschichtsschreibung. Auch<br />

hier verändert sich unser Blick auf<br />

das Vergangene andauernd. Wie<br />

sehr unterscheidet sich unsere Einordnung<br />

der Politik Bismarcks in<br />

der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus,<br />

in der Nachkriegszeit oder heute? Geschichte wird<br />

in neuen Geschichten und Zusammenhängen immer wieder neu<br />

erzählt, unser Blick auf das Vergangene verändert sich. Und keine<br />

Kunst macht das so deutlich wie die Musik, da sie zwei Schöpfungsakte<br />

hat: die historische Schöpfung der Partitur und die ewig aktuelle<br />

Schöpfung der Interpretation.<br />

DAS REPERTOIRE<br />

Wie sehr auch die Klassik der Mode unterliegt, zeigt darüber hinaus<br />

ein Blick auf unsere Spielpläne. In der Nachkriegszeit bis spät in die<br />

70er-Jahre war es selbstverständlich, dass italienische Opern an<br />

deutschen Stadttheatern in deutscher Sprache aufgeführt, ja sogar<br />

auf Deutsch aufgenommen wurden. Während in den 60er-Jahren<br />

die Operette noch gleichberechtigt neben großen Opern aufgeführt<br />

wurde und es selbstverständlich war, dass Sänger wie René Kollo<br />

in großen deutschen Fernsehshows eine Operettenarie und eine<br />

Verdi-Arie sangen, ist das heute nicht mehr vorstellbar. War die<br />

Operette einst eine Form des angenehmen Geschichtsvergessens,<br />

wird sie heute meist als sozialkritische Kunst aufgeführt. Auch das<br />

Repertoire unterliegt den Moden unserer Zeit: In den 70er-Jahren<br />

dominierten Komponisten wie Verdi oder Puccini die Spielpläne,<br />

heute sind die größten Erfolge mit Strauss oder Wagner zu erzielen.<br />

Ihre Opern waren früher großen Häusern vorbehalten, heute werden<br />

sie auch von kleineren Stadttheatern in Angriff genommen, um<br />

die Vielfältigkeit unserer Gegenwart neu zu ordnen. Einst wurde<br />

der Spielplan nach dem großen Abc der Oper aufgestellt: Aida,<br />

Bohème und Carmen waren Garanten für Erfolg. Heute ist das<br />

Repertoire, ebenso wie unsere Zeit, viel diverser geworden, weiter<br />

gefächert, und immer wieder öffnen sich Theater dem Neuen oder<br />

graben Unbekanntes aus.<br />

DIE KÜNSTLER<br />

Auch einzelne Künstler sorgen zuweilen für vollkommen neue<br />

musikalische Moden. Nikolaus Harnoncourt erinnerte sich gern<br />

daran, wie er den Proben Herbert von Karajans beiwohnte und wie<br />

die Wut in ihm aufstieg. Für Harnoncourt waren die Karajan-Interpretationen<br />

der Spiegel einer auf Hochglanz gebürsteten Zeit, die<br />

überwältigen wollte, die Autoritäten<br />

suchte. Sein Gegenmodell war<br />

revolutionär anders: Harnoncourts<br />

Orchester, der Concentus Musicus<br />

Wien, setzte auf demokratische<br />

Beteiligung jedes einzelnen Musikers,<br />

auf die Verantwortung aller,<br />

und vor allen Dingen auf die Wiederentdeckung<br />

der alten Instrumente<br />

und des sogenannten „historisch<br />

informierten Spiels“. Ein<br />

Ausdruck, der oft zu Missverständnissen<br />

führt. Dabei ging es Harnoncourt<br />

nie darum, Mozart<br />

DIE INTERPRETATION<br />

EINES KLASSISCHEN<br />

WERKES IST AM<br />

ENDE IMMER AUCH<br />

EINE FORM DER<br />

GESCHICHTS-<br />

SCHREIBUNG<br />

erklingen zu lassen, wie er zu Mozarts Zeit klang, sondern den<br />

Klang der Mozart-Zeit möglichst genau und wissenschaftlich informiert<br />

in unsere Zeit zu übersetzen. Damit legte er den Grundstein<br />

für viele andere Musiker wie etwa Roger Norrington, und heute ist<br />

es kaum vorstellbar, dass ein Orchester Mozart oder Beethoven –<br />

ganz zu schweigen von Bach oder Haydn – spielt, wie es einst Karajan<br />

tat. Sein Sound ist einfach aus der Mode gekommen.<br />

Einem Dirigenten wie Leonard Bernstein gelang es sogar, einen<br />

Komponisten zur Mode zu erheben, als er die damals selten gespielten<br />

Sinfonien von Gustav Mahler neu interpretierte. Mahler passte<br />

perfekt in eine Zeit, die mit der Moderne, mit massiven Umbrüchen<br />

und der Neuentdeckung des Individuums rang. Die Auswirkungen<br />

dieser Entdeckung dauern bis heute an. Auch Sängern gelang es<br />

übrigens immer wieder, eigene Rezeptionsmoden zu schaffen. So<br />

war es Cecilia Bartoli, die mit ihrer akribischen Suche nach<br />

vergessenen Komponisten und Opern eine weltweite Barock-Begeisterung<br />

auslöste.<br />

Natürlich unterliegen auch die Klassikinterpreten selbst den<br />

Moden ihrer Zeit. Während ein Pianist wie Friedrich Gulda das<br />

Publikum der 70er-Jahre schockte, indem er in Konzertsälen im<br />

Anzug und bei Jazzkonzerten splitterfasernackt auftrat (ein Impuls<br />

der 68er-Bewegung), prägte ein Tenor wie Luciano Pavarotti das<br />

Bild des Tenors mit Frack und Taschentuch. Geiger wie Nigel<br />

Kennedy überführten die Mode des Punk in die Klassik, und sein<br />

Epigone, David Garrett, tut das gleiche noch heute – allerdings mit<br />

anderem Outfit.<br />

Klassische Musik ist also alles andere als eine starre Kunst. Im<br />

Gegenteil: Gerade ihre feste Verankerung in der Geschichte durch<br />

die jeweilige Partitur macht sie zu einer der vielleicht besten Künste,<br />

um den jeweiligen Geist unserer Zeit abzulesen.<br />

n<br />

67


M U S I K & M O D E<br />

HAUPTFÄCHER:<br />

GESCHICHTE, KUNST, MUSIK<br />

Spätestens seit letztem Sommer ist das fast vergessene Accessoire modisch wieder<br />

en vogue: Verschwindet bei grauem Himmel in der kleinsten Clutch, rettet bei<br />

unbarmherziger Glut von oben aber sogar über den Ring in Bayreuth. Nicht umsonst heißt<br />

das hübsche Ding auf Englisch „fan“. Und hinter dem frischen Wind steckt mehr …<br />

Reisender<br />

Die Geschichte des Fächers beginnt im Mittelalter,<br />

als Fächer in Form langstieliger Radfächer<br />

eine wichtige Rolle in der christlichen Liturgie<br />

spielten. Als Modeaccessoire gewann er erst im<br />

15. Jahrhundert, vor allem in Italien, an Bedeutung,<br />

als Fahnenfächer, Federfächer, als in sich<br />

unbeweglicher Stiel- bzw. Blattfächer oder<br />

Handschirm zum Schutz des Gesichtes vor der<br />

Hitze des Kaminfeuers.<br />

Erst die Heirat der Katharina de Medici mit<br />

dem französischen Thronfolger, dem späteren<br />

Heinrich II. im Jahre 1533, trug wesentlich zur<br />

späteren überragenden Position der französischen<br />

Fächermanufakturen bei.<br />

Feuerzauber aus der<br />

Walküre,<br />

München, 1878<br />

Parsifal, Bayreuth,<br />

um 1880/90<br />

Eroberer<br />

Ein neuer, raffinierterer Fächertypus, der sogenannte Faltfächer,<br />

sorgte Ende des 16. Jahrhunderts für einen Siegeszug des Fächers<br />

in ganz Europa. Er ließ eine kunstvolle und aufwendige Gestaltung<br />

zu. Dieser faltbare – und bis heute geläufigste – Fächertypus<br />

gelangte durch den portugiesischen Handel mit China nach<br />

Europa, wo er im 18. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte. Frankreich<br />

lief damals in der Fächerherstellung allen anderen Nationen<br />

sowohl mengen- als auch qualitätsmäßig den Rang ab.<br />

„Opernstars“,<br />

Wien um 1880<br />

68 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Cuadrilla de Contradanzas,<br />

Frankreich, um 1830<br />

(Vorder- und Rückseite)<br />

Botschafter<br />

Natürlich war der Fächer auch Statussymbol<br />

– der Aufwendig- und Kostbarkeit der Materialien<br />

waren keine Grenzen gesetzt. Daneben<br />

diente der Fächer in Europa in erster<br />

Linie als unverzichtbares Moderequisit, und,<br />

très charmant: als Mittel der Koketterie. Im<br />

Laufe des 18. Jahrhunderts entwickelte sich<br />

eine Fächersprache. So ließen sich wichtige<br />

Mitteilungen der Damen auf graziöse und<br />

lautlose Art an ihren Kavalier übermitteln.<br />

Jede noch so unauffällige Bewegung des<br />

Fächers hatte eine fest kodierte Bedeutung:<br />

Ablehnung, Zustimmung, Verliebtheit oder<br />

die Stunde des Rendezvous.<br />

Venezianischer<br />

Maskenball,<br />

vermutlich Norditalien,<br />

um 1735<br />

Journaille<br />

Während der französischen Revolution<br />

übernahm der Fächer fast ausschließlich<br />

die Rolle eines Nachrichtenübermittlers:<br />

Man stellte aktuelle revolutionäre<br />

Tagesgeschehnisse auf einfachen<br />

bedruckten Papierblättern<br />

dar, montiert auf Holzgestellen.<br />

Erst zu Beginn der zweiten<br />

Hälfte des <strong>19</strong>. Jahrhunderts<br />

erlebte die Fächermalerei –<br />

auch durch die Beschäftigung<br />

erstklassiger Maler – neuen<br />

Aufschwung. Édouard<br />

Manet zählte wohl zu den<br />

ersten Künstlern, die das<br />

halbrunde Bildformat als<br />

kompositionell interessantes<br />

Format für sich<br />

entdeckten.<br />

Schöne Fächer gibt es unter: sylvainleguen.com | eventail-duvelleroy.fr | abanicosfolgado.com | ilteatro.eu<br />

Alle Fächer sind aus der Sammlung von David J. Ranftl, Fotos: David J. Ranftl


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70 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


MADEMOISELLE COCO<br />

UND DIE KUNST<br />

Unsterblich wurde sie mit ihrem legendären Parfum „N° 5“ und dem<br />

„kleinen Schwarzen“. Doch es gibt auch eine weit weniger bekannte Seite<br />

im Leben von Coco Chanel: ihr Engagement für Musik und Ballett.<br />

VON ANGELIKA RAHM<br />

Alles begann mit der Freundschaft<br />

zweier Frauen: „Ohne Misia wäre ich<br />

als Dummkopf gestorben“, gestand<br />

Coco Chanel. Als sich die beiden <strong>19</strong>17<br />

kennenlernten, lebte Misia mit José Maria Sert<br />

zusammen, einem spanischen Maler, der ihr<br />

dritter Ehemann werden sollte. Die gesamte<br />

künstlerische Avantgarde, neben Pablo Picasso<br />

auch Jean Cocteau und Serge Diaghilew, der<br />

mächtige Impresario der Ballets Russes, war zu<br />

Gast in Misias Salon. Und so kam es, dass Cocos<br />

Bildung in Sachen Kultur der Pariser Muse und<br />

Mäzenin zu verdanken ist. Zunächst hatte Misia<br />

Cocteau und Diaghilew miteinander bekannt<br />

gemacht und so eine sehr fruchtbare Zusammenarbeit<br />

initiiert. Im Mai <strong>19</strong>20 schließlich<br />

stellte Misia Igor Strawinsky und Coco Chanel<br />

einander vor – eine Begegnung mit Folgen: Im<br />

folgenden September lud die erfolgreiche Modeschöpferin den notorisch<br />

klammen Komponisten ein, in ihrer neuen Villa im Pariser<br />

Vorort Garches zu wohnen. Nicht lange, und sie wurde seine Geliebte<br />

– und seine Mäzenin. Denn als sie von Diaghilews finanziellen Schwierigkeiten<br />

erfuhr, an denen eine neue Version von Strawinskys Ballett<br />

Le sacre du printemps im Pariser Herbstprogramm zu scheitern drohte,<br />

ließ sie die Kostüme in ihren Schneiderateliers ausführen und gab<br />

Diaghilew einen Scheck über eine ernorme Summe – unter der Voraussetzung,<br />

niemand solle davon erfahren. „Er hat sich nie mit einem<br />

Wort verraten“, erinnerte sich Chanel später. „Ich habe ihm viel Geld<br />

gegeben, für Le Sacre, für Noces, alle die Stücke von Strawinsky.“ Die<br />

Liebesaffäre dauerte nur bis Februar <strong>19</strong>21, lebenslange Freunde blieben<br />

sie dennoch, und Chanel unterstützte Strawinsky und seine<br />

Familie bis in die Mitte der 30er-Jahre.<br />

Auch mit dem Universalkünstler Jean Cocteau verband die<br />

Modeschöpferin eine über 40 Jahre währende Freundschaft. Sie zahlte<br />

für seine Opium-Entziehungskuren, er wohnte in ihren Häusern. Sie<br />

machte ihn mit der Welt der Mode bekannt, er zeichnete ihre Modelle<br />

und entwarf Stoffe für ihre Kollektion. Cocteau war es auch, der als<br />

erster Chanels Talent als Kostümbildnerin nutzte: für seine <strong>19</strong>22<br />

uraufgeführte freie Bearbeitung von Sophokles’ Antigone. Bühnenbilder<br />

und Masken stammten von Picasso, die Musik von Arthur<br />

Honegger. Dafür entwarf Mademoiselle getreu ihrer kategorischen<br />

Feststellung „Griechenland ist Wolle, nicht Seide!“ nicht nur die Kleidung,<br />

sondern für das Haupt von König Kreon auch ihr erstes Schmuckstück:<br />

einen goldenen Reifen, besetzt mit funkelnden Juwelen.<br />

Bis <strong>19</strong>37 fertigte Chanel für eine Reihe von Cocteaus Stücken<br />

die Kostümentwürfe, darunter Orphé, Oedipe roi und Les Chevaliers<br />

de la Table ronde. Aber der Reihe nach: Auf Antigone folgte Le Train<br />

bleu – auf das Schauspiel eine Produktion der Ballets Russes – nach<br />

dem berühmten Zug, der die sonnenhungrige Pariser Gesellschaft<br />

an die Côte d’Azur brachte. Mehr erzählt das<br />

etwa 20-minütige Werk auch gar nicht: reges<br />

Treiben an einem mondänen Badestrand – junge<br />

Männer produzieren sich beim Sport, die Mädchen<br />

posen postkartenreif. Man flirtet, spielt Tennis<br />

oder Golf zur Musik von Darius Milhaud.<br />

Dass Diaghilew Coco Chanel bat, dafür<br />

die Kostüme zu übernehmen, lag nahe. Schließlich<br />

war sie es gewesen, die bereits vor dem Ersten<br />

Weltkrieg Sportkleidung angefertigt und<br />

selbst getragen hatte, als noch keiner ihrer Kollegen<br />

überhaupt daran dachte. Ihre Idee aber<br />

war neu: Sie brachte ihren eigenen Stil auf die<br />

Bühne, entwarf echte Kleidung für die Tänzer,<br />

deren Füße sie entweder in Gummisandalen,<br />

Tennis- oder Golfschuhe steckte. Die Darstellerin<br />

der Perlouse, der schönen Badenden,<br />

erzählte von den Anproben in Chanels Arbeitszimmer:<br />

„Als ich meinen pinkfarbenen Badeanzug anprobierte, den<br />

wir alle ziemlich verwegen fanden, stellte sich die Frage, was ich auf<br />

dem Kopf tragen sollte. (…) Die niedliche kleine Badekappe, die für<br />

mich gemacht wurde, löste einen Modetrend aus.“<br />

Für die Rolle der Tennismeisterin stand Suzanne Lenglen Pate,<br />

Primadonna der Tennisplätze der 20er-Jahre: einfaches knielanges<br />

Kleid, Strümpfe, Tennisschuhe und Stirnband. Bei der Figur des Golfspielers<br />

hatte Cocteau an den Prince of Wales gedacht, Chanel blieb<br />

diesem Vorbild treu: weißes Hemd mit Krawatte, Tweed-Knickerbocker,<br />

gestreifter Pullover samt ebensolcher Strümpfe.<br />

Und es kam, wie es kommen musste: Die aparten und eleganten<br />

Kostüme, vor allem die Badetrikots für Le Train Bleu, schafften nach<br />

der Uraufführung am 13. <strong>Juni</strong> <strong>19</strong>24 den Sprung vom Pariser Théâtre<br />

des Champs-Elysées in die Sportmode der Cote d’Azur und Riviera.<br />

Einige Jahre später sollte Chanel noch einmal für die Ballets<br />

Russes arbeiten – zum letzten Mal und quasi auf einem Umweg. Strawinsky<br />

hatte ein neues Ballett komponiert, Apollon Musagète. George<br />

Balanchine choreografierte das abstrakte Ballett, Diaghilew übertrug<br />

für die Pariser Aufführung dem Maler André Bauchant die Ausstattung.<br />

Als der jedoch keine Entwürfe lieferte, kopierte Diaghilew Apollos<br />

Tunika von einer Zeichnung Bauchants und steckte die drei Musen<br />

in Tutus, die später durch Kostüme von Chanel ersetzt wurden: eine<br />

Kombination aus klassischem Tutu und schlichtem ärmellosen Sommerkleid,<br />

um die Taille der wohlbekannte feine Kettengürtel.<br />

Apollon Musagète (<strong>19</strong>28) blieb Chanels letzte Arbeit für die Ballets<br />

Russes. Genau ein Jahr später tanzte die Truppe zum letzten Mal<br />

in Paris. Anschließend gab Mademoiselle eine große Party. Der Garten<br />

ihres Hauses in der Rue du Faubourg Saint-Honoré war hell<br />

erleuchtet, ein Orchester und verschiedene Cabaret-Künstler unterhielten<br />

die Gäste, die geblendet waren von der Pracht der Szenerie<br />

und den Suppenterrinen, voll mit Kaviar.<br />

n<br />

FOTO: WIKI COMMONS / MARION GOLSTEIJN<br />

71


M U S I K & M O D E<br />

WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH ...<br />

... der Begriff „Mendelssohns Auge“ ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

Johann Peter Lysers<br />

Zeichnung „Beethoven<br />

in Straßenkleidung“<br />

Ein hervorwachsendes Indiz auf dem Barometer<br />

von Mode und Musik sind die<br />

„Antennen der Seele“ – unsere Haare. Dazu<br />

gehört nicht nur die jeweilige Frisur, sondern<br />

auch die jeweils bevorzugte Kopfbedeckung<br />

bzw. der Kopfschmuck. In den Anfängen, als noch<br />

ausschließlich auf Knochenflöten, Tierpanzern,<br />

Felltrommeln und Musikbögen musiziert wurde,<br />

war die Haarmode ganzkörperlich. Später, als das<br />

meiste davon sich auf die Kopfregion zurückzog,<br />

wurde – ob lang oder kurz, gewellt oder gelockt,<br />

zerzaust oder verlaust – aus Haaren Frisur. So<br />

konnte das Haar von Frauen sich lust- und kunstvoll<br />

getürmt zu Schiffsmasthöhe aufschwingen,<br />

um samt Takelage und gesetzten Segeln durch die<br />

Salons des Rokoko zu ziehen. Im Barock waren<br />

Perücken en vogue.<br />

Bach kennen wir gar nicht ohne, und allein<br />

für den Sonnenkönig in Versailles arbeiteten 40<br />

Perückenmacher. Glaubte Mann im Mittelalter, Frauen mit rotem<br />

Haar müssten Hexen sein, demonstrierte der Bubikopf in den 20ern<br />

emanzipierte Frauen. Es kamen der Rock ’n’ Roll und die Schmalztolle,<br />

die Beatles boten Pilzköpfe und die Flower-Power-Zeit ließ<br />

Haare wieder wachsen und gedeihen.<br />

<strong>19</strong>68 widmete sich das Musical Hair ausschließlich den Kopfsprösslingen.<br />

Es hieß: „Ich will mein Haar nicht vom Stahlhelm<br />

frisieren lassen.“ Und die Musik wurde zur Rebellion gegen Bürgertum<br />

und Führungsschicht in Zeiten des Vietnamkriegs. Soul<br />

und Disco erklärten den Afro-Look zur Mode. Der Punk brachte<br />

den vielfarbigen Irokesenschnitt, die 80er Föhnfrisur und Poppertolle.<br />

Neben Dauerwelle und Rasta-Locken präsentierten Musiker<br />

wie Limahl den „Vokuhila“ (vorne kurz, hinten lang). Und immer<br />

wieder gab es modische Kopfbedeckungen wie die Baseballkappe<br />

beim Hip-Hop.<br />

Welch vieltriebige Zweige und Blüten das modische Suchen<br />

und Finden, die Haarpracht zu schmücken, hervorbringen konnte,<br />

erzählt folgende Begebenheit – und sie muss eine ganz besondere<br />

Frau gewesen sein: „Donna Gißmunda Rosenlaub, die weltberühmte<br />

Putzmacherin par excellence“, wie die Leipzigerin seinerzeit<br />

gerühmt wurde, war sie doch modische Trendsetterin insbesondere<br />

im Bereich des Musiklebens. Unter der Rubrik „Amüsantes<br />

Kaleidoscop“ wurde am 5. Januar 1841 mit der Überschrift „Mendelssohns<br />

Auge, eine Haube“ in Adolph Friedrich Richters „Pannonia“<br />

annonciert: „Der berühmte Compositeur<br />

Felix Mendelssohn-Bartholdy ist in Leipzig in<br />

der Mode und so beliebt, daß eine Putzmacherin<br />

Namens Gißmunda Rosenlaub (sehr romantisch)<br />

neue Concert-Barets unter dem Titel Mendelssohns<br />

Auge ankündigt, die auch wie Lyser<br />

in ‚Ost und West‘ berichtet, bei den Leipziger<br />

Damen vielen Beifall finden.“ Es handelte sich<br />

dabei um einen extravaganten Kopfschmuck,<br />

der Konzertbesucherinnen einen zweifelsfrei eleganten<br />

Auftritt ermöglichte.<br />

Johann Peter Lyser, der hier als Garant für<br />

den Beifall der Leipziger Damen genannt wurde,<br />

war Dichter, Maler und Musiker. Bereits mit 18<br />

ertaubt, widmete er sich der Schriftstellerei und<br />

veröffentlichte 1830 seinen unvollendet gebliebenen<br />

Roman Benjamin. Ein Roman aus der<br />

Mappe eines tauben Malers. Er war mit Heine<br />

befreundet, und Mendelssohn stand ihm wohl<br />

so nah, dass der Lyser sogar von dessen Schuldenlast und aus der<br />

Schuldenhaft befreite. Verständlich, dass er sich nicht nehmen ließ,<br />

gleich nach Mendelssohn Tod einen biografischen Nachruf zu verfassen,<br />

worin eben auch benannte Haube auftaucht: „Er (Mendelssohn)<br />

war der Liebling in den höheren Kreisen, besonders bei den<br />

Damen so sehr in Gunst, daß die bekannte fantastische Leipziger<br />

Putzhändlerin Gißmunda Rosenlaub einen neuen Kopfputz in den<br />

Zeitungen unter der Benennung ‚Mendelssohn’s Auge‘ ankündigte,<br />

und damit die glänzendsten Geschäfte machte. Mendelssohn war<br />

der Erste, der mit uns über solche Starrheiten lachte ...“ (5.12.1847,<br />

„Wiener Sonntagsblätter“). Man könnte meinen, Mendelssohn hätte<br />

mit seinem Elias-Terzett „Hebe deine Augen auf“ Vorsorge treffen<br />

wollen, falls mal ein Wind den Damen die „Concert-Barets“ vom<br />

Haupte fegen sollte.<br />

Lyser war in Hinsicht dessen, was man damals trug, ein zuverlässiger<br />

Chronist, hinterließ er uns doch Zeichnungen von „Beethoven<br />

in Straßenkleidung“, „Paganini der Hexenmeister“ beim Violinspiel,<br />

„Wie Franz Liszt sich in Wien zum Festessen hergeben<br />

muss“, skizzierte einen „Jüngling à la mode“ oder karikierte einen<br />

schmucken Soldaten unter dem Titel „Mein treues Bildt seh ich im<br />

Spiegel“, dem dort ein Esel gegenübertritt. Interessant ist, dass dieser<br />

Lyser in Robert Schumanns „Neue Zeitschrift für Musik“ als<br />

Musikkritiker wirkte. Wie er das bei seiner Taubheit bewerkstelligte,<br />

bleibt wohl für immer ein Geheimnis der Musikgeschichte. n<br />

72 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


LEBENSART<br />

Die Pianistin Ragna Schirmer kocht: den Hauptgang aus Clara und Robert Schumanns Hochzeitsessen (Seite 74)<br />

Ikonen toskanischer Weinberge: Paula Bosch stellt großartige Supertuscans vor (Seite 76)<br />

Servus in Salzburg: Der Geiger Benjamin Schmid zelebriert – pünktlich zur Festspielzeit – seine Stadt (Seite 78)<br />

VERRÜCKTE PERSPEKTIVEN<br />

Friederike Sofie Hoellerer ist im bayerischen Chiemgau aufgewachsen, bereits<br />

im Jahreszeugnis der ersten Klasse stand: „Ihre farbenfrohen Zeichnungen<br />

verdienen besonderes Lob.“ Abitur, Zeichenschule bei Professor<br />

Seeger, Ausbildung zur Grafikdesignerin, erste Arbeiten an der Leinwand –<br />

Markus Lüpertz bestärkte sie maßgeblich. Über drei große Bilderserien und<br />

zahlreiche Ausstellungen haben ihre Bilder sich entwickelt.<br />

Das Cover-Artwork „Light+Bright 15“ gehört zur Serie „Light+Bright“, an<br />

der sie seit Ende 2018 arbeitet. Abstrahierte Impressionen urbaner Welten,<br />

mit leuchtenden Acrylfarben platziert auf große Formate. Hoellerer<br />

ist fasziniert von weltweiten Metropolen mit ihren Häuserfluchten und<br />

aufstrebenden Silhouetten. Mit verzerrten Perspektiven, dem Ineinandergreifen<br />

und Aufeinanderlegen von Ebenen, Transparenzen und grellen Farbkombinationen<br />

bringt sie die verrückten Perspektiven und unwirklichen<br />

Räume urbaner Überlagerungen auf die Leinwand. Flirrende, oft rätselhafte<br />

Collagen aus Harmonien und Disharmonien, die sich kreuzen, überlagern,<br />

abwechseln, ineinanderfließen und auch mal abdriften wie das Übereinanderlegen<br />

und Verschmelzen von Tonfolgen zu einer Klangcollage – mal<br />

lauter, mal leiser werdend, aus dem Nichts beginnend und abrupt endend;<br />

Hoellerer ergründet die stabilen und instabilen Rhythmen im Puls der Großstadt.<br />

Sehr frei und doch auch sehr komplex. Man könnte problemlos die<br />

z-Achse aus ihren Bildern ziehen und in das Großstadtlabyrinth spazieren.<br />

www.friederikehoellerer.de<br />

Vernissage in den Redaktionsräumen (Rindermarkt 6, München) am 11. Juli 20<strong>19</strong><br />

Eintritt frei. Anmelden unter crescendo.de/vernissage<br />

präsentiert<br />

am 11. Juli<br />

FOTO: TOBIAS SCHWARTZ<br />

73


L E B E N S A R T<br />

Lieblingsessen!<br />

HIER VERRATEN DIE STARS IHRE BESTEN REZEPTE.<br />

UND KLEINE GESCHICHTEN, DIE DAZUGEHÖREN ...<br />

FOTO: MARTINA IBS<br />

HOCHZEITSMENÜ VON CLARA UND ROBERT SCHUMANN<br />

Grünesuppe mit spanischem Kohl, Krebsen und dicker Milch<br />

Rindfleisch gedämpft und geröstet mit Hagebutte, Wurzeln, Esslauch und Grundbirnen<br />

Armer Ritter mit Fliderbeeren, Chocoladenmus und Prunellen<br />

74 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


FOTO: MAIKE HELBIG<br />

Ragna Schirmer,<br />

zweifache Bach- und<br />

ECHO-Preisträgerin<br />

und im April mit dem<br />

Robert-Schumann-<br />

Preis 20<strong>19</strong> ausgezeichnet,<br />

beschäftigt sich mit<br />

dem Leben und Wirken<br />

von Clara Schumann,<br />

seit sie ein Teenager<br />

war. Ihr neues Album<br />

anlässlich des<br />

200. Geburtstags ist<br />

eine Verneigung vor<br />

Clara – als Frau und<br />

als Künstlerin<br />

RAGNA SCHIRMER PIANISTIN<br />

Als ich am 12. September 2017, dem 175. Hochzeitstag von Clara und Robert, in Leipzig mein Programm „Liebe in<br />

Variationen“ vortrug, hatte der Veranstalter die wunderbare Idee, dem Publikum das Hochzeitsmenü der Schumanns<br />

in Verbindung mit der Eintrittskarte als sprichwörtlich besonderen Leckerbissen anzubieten. Auch ich kam in diesen<br />

Genuss und erinnere mich noch heute daran. Manches schmeckte ungewöhnlich – ich kann es nicht recht beschreiben:<br />

auf eine eigene Weise zart und doch kräftig. Der Koch erklärte mir, dass man im <strong>19</strong>. Jahrhundert mit Mehl und<br />

Kräutern ganz anders umgegangen sei. Gespannt war ich auf die „Grundbirnen“. Ich hatte schon den süßsäuerlichen<br />

Geschmack gebratenen Obstes auf der Zunge und musste feststellen: „Grundbirnen“ sind einfach nur Kartoffeln.<br />

Nach dem Konzert bekam ich zur Erinnerung Claras Kochbuch geschenkt: jenes einfache Kochbuch für Hausfrauen des<br />

Mittelstandes*, das Robert Schumann seiner Verlobten 1839 schenkte. Auf dem Titel steht in Goldlettern:<br />

„Meiner Hausfrau gewidmet, R. S.“. Obwohl Clara wenig Zeit zum Kochen fand, hat sie in ihrem Exemplar dieses<br />

Büchleins doch einige Passagen angestrichen und sich notiert, welche Gerichte Robert besonders gern aß. Das<br />

Hochzeitsmenü findet sich natürlich nicht in diesem Kochbuch. Ich zitiere dennoch eine Passage daraus, um die Art<br />

der Zubereitung der damaligen Zeit etwas schmackhafter zu machen.<br />

•<br />

RINDFLEISCH GEDÄMPFT<br />

„(...) man nimmt ein Stück Rindfleisch von der Unterschale, klopft es recht mürbe, spickt es mit Zitronen schale und<br />

Speck, und legt es eine Nacht in Breihanessig (Bieressig, Anm. d. Red.). Am andern Morgen gießt man den Essig ab, setzt<br />

es mit Wasser auf, salzt und schäumt es rein ab, und thut ein Stück ganzen Ingwer, etliche Lorbeerblätter und englische<br />

Gewürzkörner dazu. Hat es eine Stunde gekocht, so gießt man den Breihanessig daran, wirft die Scheiben von einer<br />

Zitrone dazu, und läßt es schmoren, bis es gahr ist. Doch muß man die Brühe kosten, ob sie nicht zu sauer ist, und ob<br />

sie das gehörige Salz hat. Ist die Brühe nicht stark genug, so thut man einen Löffel voll Mehl in Butter braun gebraten,<br />

Honigkuchen oder geriebene schwarze Brotrinde daran, und läßt es damit durchkochen. Dann richtet man das Fleisch<br />

(...) an, gießet die Brühe durch einen Durchschlag, und schöpft das übrige Fett von der Brühe ab.“<br />

Guten Appetit im Clara-Jahr!<br />

„Madame Schumann“, Ragna Schirmer (Berlin Classics)<br />

Track 3 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD:<br />

Klaviertrio g-Moll, op. 17. III. Andante – più animato<br />

von Clara Schumann<br />

* Karl Friedrich Engelmann/Marie Holle: Neues einfaches Kochbuch für bürgerliche Haushaltungen und bürgerliche Küchenzettel für Hausfrauen des Mittelstandes, Zwickau 2007<br />

75


L E B E N S A R T<br />

Die Paula-Bosch-Kolumne<br />

DIE NEUE TOSKANA-FRAKTION<br />

Icon-Weine sind sozusagen die Ferraris unter den feinen Tropfen. Kommt der gute<br />

Stoff aus besten Weinlagen der Toskana, spricht unsere Kolumnistin von „Supertuscans“.<br />

Sensationelle Kerle sind das, ja. Von Prahlerei aber keine Spur. Nur echt, ehrlich, edel.<br />

Der Zauber der unbeschreiblich schönen toskanischen<br />

Landschaft ist ungebrochen. Seit mehr als drei Jahrzehnten<br />

ist sie nicht nur für uns Deutsche ein bevorzugtes<br />

Reiseziel. Den Appetit wecken unzählige<br />

Reportagen der Hochglanzmagazine aus der Reisebranche.<br />

Da werden historische Städte – allen voran Florenz und<br />

Siena, wunderschöne Ortschaften –, die klimatischen Vorteile, die<br />

gute Küche und nicht zuletzt die zahlreichen Weine hochgelobt,<br />

beginnend mit Klassikern wie Chianti und Brunello. Kein Wunder<br />

also, wenn wir ganz nach dem<br />

Motto agieren: Warum denn in die<br />

Ferne schweifen, wenn das Gute<br />

liegt so nah?<br />

Mit den Weinen ist es ja ähnlich,<br />

auch wenn – über die Jahrzehnte<br />

betrachtet – immer wieder<br />

ein paar neue Namen dazugekommen<br />

sind. Das hält die Szene up to date, und dank der schleichenden<br />

„Entparkerisierung“ besinnt man sich zunehmend auf den eigenen<br />

Geschmack. „Supertuscans“, sogenannte Icon-Weine, verkaufen<br />

sich meist auch ohne die inflationäre Punktevergeberei.<br />

Seit Anfang des Jahres wurden mir mehrere Weine solcher<br />

Größen aus den Jahren 2015 und 2016 präsentiert. Diese erstklassigen<br />

Cuvées aus den roten Rebsorten à la Bordelais, Cabernet, Merlot,<br />

Petit Verdot haben mich richtig begeistert und auch davon überzeugt,<br />

dass in der Tat die Icon-Weine in der Toskana ihren eigenen<br />

Stil und Charakter gefunden haben. Das sind keine Nachahmungen<br />

mehr wie teilweise jene aus den ersten Jahrgängen, sondern Weine,<br />

die man sehr gerne trinken möchte.<br />

Nein, sie mutieren nicht zu Alltagsweinen, dafür sind sie auch<br />

zu hochpreisig; es sind Weine für die besonders schönen Momente<br />

im Leben, vielleicht für hier und heute. Wein-Kunstwerke, die einen<br />

Hauch Toskana in Flaschen präsentieren.<br />

SAFFREDI, IGT TOSCANA, FATTORIA LE PUPILLE,<br />

GROSSETO Auf insgesamt 80 Hektar Rebfläche produziert die<br />

ES SIND WEINE FÜR DIE BESONDERS<br />

SCHÖNEN MOMENTE IM LEBEN,<br />

VIELLEICHT FÜR HIER UND HEUTE<br />

große Dame des Morellino di Scansano, Elisabetta Geppetti, jenen<br />

Rotwein aus der Maremma, der jede Pasta mit Fleischsoße adelt.<br />

Seit <strong>19</strong>87 erzeugt die Donna del Vino zudem ihren Saffredi, der zu<br />

den ersten Icon-Weinen der Toskana gezählt wird. Auf fünf Hektar<br />

wurden <strong>19</strong>80 die Reben Cabernet Sauvignon, Merlot und Syrah<br />

gepflanzt. Je nach Jahrgang werden sie unterschiedlich cuvéetiert.<br />

Der edle Stoff aus 2016 ist dank 30-jähriger Produktion längst<br />

erwachsen. Er hat sich unter den großen Weinen etabliert und bietet<br />

höchsten Genuss, wenn man ihm einige Jahre zur Reife gönnt. Die<br />

intensiven Aromen des 2015 – rote,<br />

blaue und schwarze Waldbeeren,<br />

Cassis, Lavendelblüten, Sandelholz,<br />

Zigarrenkiste – überzeugen sofort.<br />

Die kernige, teils noch etwas spröde<br />

Struktur mit edlem Tanningerüst<br />

verbindet Kraft mit Eleganz und<br />

Finesse mit Harmonie. Im jugendlichen<br />

Geschmack präsentiert sich viel Potenzial und Länge.<br />

2015 ARGENTIERA, BOLGHERI SUPERIORE, TENUTA<br />

ARGENTIERA 100 Kilometer südwestlich von Florenz liegt die<br />

Tenuta Argentiera, am südlichsten Zipfel der namhaften DOC-<br />

Bolgheri. Auf 200 Meter Seehöhe genießen die Rebstöcke der Sorten<br />

Cabernet, Merlot und Syrah auf steinigen Tonböden den Meerblick<br />

zu den Inseln Giglio und Elba. Das noch sehr junge Unternehmen<br />

(erster Jahrgang 2003) hat mit Stanislaus Turnauer, seinem neuen<br />

Besitzer seit 2016, eine große Zukunft vor sich. Die ganze Mannschaft<br />

im 75 Hektar großen Weingut ist seit Beginn an Bord und präsentiert<br />

mit dem 2015 Argentiera DOC Bolgheri Superiore, was auf den steinreichen<br />

Kalk-, Lehm- und Sandböden möglich ist. Gewiss, sehr ähnlich<br />

einem großen Bordeaux, aber wer will nicht mit diesen Gewächsen<br />

in einem Atemzug genannt werden? Argentiera wirkt nicht ganz<br />

so kühl oder streng, zeigt warme, mediterrane Züge, sanfte Kräuternoten<br />

der Garrique, salzige Töne wie seine Nachbarn Ornellaia<br />

und Sassicaia. Noch moderat in der Preisgestaltung ist sein kleiner<br />

Bruder, Poggio ai Ginepri, der Tipp schlechthin für jede Party.<br />

FOTOS: JÖRG LEHMANN; PRIVAT<br />

76 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Legendär: Licht und Landschaft der Toskana.<br />

Wo, wenn nicht hier, sollten spektakuläre Weine reifen<br />

2016 TRINORO, IGT ROSSO TOSCANA, TENUTA DI TRI-<br />

NORO Die Tenuta di Trinoro im Val d’Orcia im Landesinneren,<br />

südlich von Siena, besitzt über 200 Hektar, aber nur 22 davon wurden<br />

nach den Vorstellungen des Inhabers Andrea Franchetti völlig<br />

neu, überwiegend mit Cabernet Franc angepflanzt. Es liegt an der<br />

Grenze zu Umbrien und dem Latium ungewöhnlich hoch, auf 450<br />

bis 600 Höhenmetern, was die Reben viel später reifen lässt. Der<br />

Terroircharakter aus dieser Höhenlage ist ein weiterer Grund, weshalb<br />

der Trinoro Rosso nicht nur in seiner Region, sondern in ganz<br />

Italien als einzigartig betrachtet wird.<br />

Die Cuvée variiert je nach Jahrgang und besteht in erster<br />

Linie aus Cabernet Franc, etwas Merlot, Cabernet Sauvignon und<br />

Petit Verdot. Spätestens mit der letzten 100-Punkte-Würdigung<br />

durch Antonio Galloni wurde auch dieser Neuzugang in der<br />

Toskana zur Rarität und Ikone gleichermaßen. 2016 präsentiert<br />

sich dicht im tiefdunklen Rot, in der Nase opulent und schwarzbeerig<br />

mit Perigordtrüffel, Sandelholz, Bitterschokolade und feinstem<br />

Earl Grey. Gaumenfüllender Edelstoff mit viel Potenzial –<br />

ganz große Oper.<br />

2015 ORNELLAIA, IGT, BOLGHERI SUPERIORE, TENUTA<br />

DELL’ORNELLAIA Mit dem Weingut Tenuta dell’Ornellaia hat Italiens<br />

Wein-Ikone „Sassicaia“ in Bolgheri in direkter Nachbarschaft<br />

einen ernst zu nehmenden Konkurrenten bekommen. Auch hier<br />

wurden Cabernet Sauvignon, Merlot, Cabernet Franc und Petit Verdot<br />

angepflanzt, weil die Böden für Sangiovese einfach nicht geeignet<br />

sind. Auch hier wurde im Keller nach Bordelaiser Vorbild in<br />

Technik und Barriquefässer investiert. Die Ornellaia-Philosophie<br />

war von Beginn an vom Wunsch nach einer außergewöhnlichen<br />

Weinqualität geprägt. Mit dem hochtalentierten Önologen Axel<br />

Heinz wurde dieses Ziel seit 2005 auch regelmäßig erreicht. <strong>19</strong>95<br />

wurde der einstige Vino da Tavola mit der noblen Herkunft „Bolgheri<br />

DOC Superiore“ geadelt. Marchesi de’Frescobaldi ist seit 2005<br />

Alleininhaber des Weinguts. Axel Heinz zum 2015 Ornellaia:<br />

„Wie auch Personen mit großem ‚Charisma‘ wissen sich die<br />

Weine der großen Jahrgänge auf natürliche und ungezwungene Art<br />

zu behaupten: Ihr inneres Gleichgewicht lässt sie ohne großes<br />

Blendwerk von alleine glänzen. Der Ornellaia 2015 entspricht ganz<br />

diesem Charakterzug. Aus einer besonders ausgeglichenen Lese<br />

geht eine der bemerkenswertesten Versionen dieses Weines hervor.“<br />

2015 MASSETO, IGT, BOLGHERI, TENUTA DELL’OR-<br />

NELLAIA Masseto wird reinsortig aus Merlottrauben gekeltert und<br />

ist einer der rarsten – und der teuerste – Wein in Italien. Er wird<br />

auch als „Petrus“ der Italiener gehandelt. Bei einer Luftlinie von<br />

zwei Kilometern zum Meer natürlich mit mediterraner Note, doch<br />

genauso rar wie der „Petrus“, aber noch nicht ganz so teuer. Um die<br />

30.000 Flaschen werden jährlich produziert, seit letztem Herbst<br />

auch endlich in einem für ihn eigens gebauten Keller vinifiziert. Das<br />

ganze Anwesen gehört nach wie vor zur Tenuta dell’Ornellaia. Von<br />

Anfang an wurden die Trauben für diesen Kultwein separat ausgebaut,<br />

geerntet von der 6,6 Hektar kleinen Rebfläche, die dort direkt<br />

ums Eck gelegen ist. Das Ziel war klar: Italiens bester Merlot zu werden!<br />

Und das ist der Masseto ohne Zweifel, besonders in Jahrgängen<br />

wie 2015, 2010 oder 2001. Ein aristokratischer Wein, ganz zum<br />

Familienclan der Eigentümer, den Frescobaldis, passend, auch wenn<br />

es, wie bei „Petrus“, durchaus auch mal einen Jahrgang gibt, der nicht<br />

zu den besten seiner Gattung zählt. Wer aber noch 2015 oder 2016<br />

ergattern kann, hat damit einen Platz im Weinhimmel gefunden. n<br />

Bezugsquellen: www.garibaldi.de, www.alpina.de<br />

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L E B E N S A R T<br />

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FOTOS: TOURISMUS SALZBURG GMBH; AQUARELLKOPIE VON INGRID RAMSAUER NACH AQUARELL VON LOUIS CARROGIS DE CARMONTELLE / ISM<br />

1) Mirabellgarten 2) Platzkonzert mit Blasmusik 3) Die weltberühmte Getreidegasse 4) Kapitelplatz mit der Festung<br />

5) Leopold Mozart unterrichtet seine Kinder – Ausstellung im Mozart-Wohnhaus 6) Blick über die Jedermann-Bühne am Domplatz<br />

7) Salzburger Nockerl 8) Konzert in der Felsenreitschule 9) „Gurken“ von Erwin Wurm im Furtwänglerpark<br />

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ES PRICKELT SCHON WIEDER: FESTSPIELZEIT!<br />

UND MOZART, IMMER WIEDER MOZART<br />

Salzburg<br />

Es muss nicht immer Wolfgang sein: Die Ausstellung „Leopold Mozart.<br />

Musiker – Manager – Mensch“ verneigt sich vor dem Vater. Eine kleine Exkursion<br />

mit Seitenblicken auf die Stadt mit dem Geiger Benjamin Schmid.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

FOTO: LIENBACHER<br />

Salzburg wird die „Stadt der tausend Gesichter“<br />

genannt, weil sie so viel zu bieten hat:<br />

Burgen, barocke Kirchen, Museen, Schlösser,<br />

Wander- und Radwege. Dazu liebliche<br />

Gassen mit kunstvollen Fassaden, idyllischen<br />

Arkadenhöfen und urigen Gaststätten. Und<br />

überall Musik. Ein touristischer Kracher, dieses<br />

„Herz im Herzen Europas“, wie Hugo von Hofmannsthal,<br />

der Mitbegründer der Salzburger Festspiele,<br />

die Stadt <strong>19</strong><strong>19</strong> nannte. Siebeneinhalb Millionen Besucher<br />

überfluten Jahr für Jahr die Stadt, drängeln vom Hauptbahnhof über<br />

den Mirabellplatz und die Salzach hinweg bis in die Getreidegasse<br />

Nr. 9, zum Geburtshaus von Wolfgang Amadeus Mozart.<br />

Das prächtige Wohnhaus am Makartplatz Nr. 8 aber, wo die<br />

Mozarts ab 1773 lebten, übersehen die meisten. Und das, obwohl<br />

hier derzeit eine spannende Ausstellung zum 300. Geburtstag von<br />

Leopold Mozart zu sehen ist – zu der wir uns mit dem Salzburger<br />

Geiger Benjamin Schmid verabredet haben.<br />

Zunächst geht es in den eleganten Tanzmeistersaal im ersten<br />

Stock des 300 Quadratmeter großen Anwesens. Für Schmid immer<br />

noch ein besonderer Ort, denn hier feierte er mit 18 Jahren sein<br />

Debüt. Auch die Mozarts musizierten und empfingen hier ihre<br />

Gäste. Bei schlechtem Wetter aber wurde hier gezockt und auf<br />

nackte Hinterteile „Bölzl“ geschossen – eine „Disziplin“, in der sich<br />

Wolfgang Amadé besonders hervortat. Geradezu wohlerzogen<br />

wirkt er auf dem Bild von Johann Nepomuk della Croce von 1780/81<br />

Benjamin Schmid und seine<br />

Stradivari „ex Viotti 1718“<br />

neben seiner Schwester Nannerl am Tasteninstrument.<br />

Zur Rechten der Vater, Leopold Mozart, mit<br />

der Violine in der Hand, Tintenfass und Schreibfeder.<br />

Im Hintergrund ein ovales Bild mit der 1778<br />

verstorbenen Mutter. Beste Gelegenheit, um mit<br />

Benjamin Schmid, Vater von vier Kindern, über<br />

Musik und Erziehung zu sprechen. „Mozart hätte es<br />

vielleicht nicht so weit gebracht, wenn sein Vater<br />

seine Begabung nicht erkannt und ihn von Kindheit<br />

nicht so gefördert und mit den größten Höfen Europas bekannt<br />

gemacht hätte“, räumt auch er mit dem Image von Leopold Mozart<br />

als strengem Zuchtmeister seiner Wunderkinder auf – und der<br />

Unterstellung, er habe sie wie Zirkuspferdchen durch die Welt<br />

getrieben. „Allein, in welches Wissen der Sohn da hineingeboren<br />

wurde!“, staunt Schmid. „Auch mein Vater – ohne mich vergleichen<br />

zu wollen – förderte mich und meine Musikalität sehr“, sagt er, vielleicht<br />

weil bereits der Großvater ein genialer Salongeiger und ein<br />

Allroundtalent war. Abends, erzählt der 50-Jährige, wenn „der<br />

Papa“, ein leidenschaftlicher Klavierspieler, von der Bank, wo er als<br />

leitender Angestellter arbeitete, nach Hause kam, fragte er nur: ‚Wer<br />

spielt heute mit mir?‘ Es war wie eine Belohnung, mit ihm zu spielen,<br />

nachdem man den ganzen Tag geübt hatte“. Auch die Mutter,<br />

„die Seele“, und eine begeisterte Viola-da-Gamba-Spielerin, unterstützte<br />

ihn, besonders, wenn es nachmittags zum Geigenunterricht<br />

in die Altstadt ging, in eine „Expositur“ des Mozarteums in der<br />

Getreidegasse, nur etwa 100 Meter von Mozarts Geburtshaus ent-<br />

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L E B E N S A R T<br />

Über allem „Sehen und Gesehenwerden“<br />

des Festspielpublikums thront die Burg<br />

fernt. Danach spendierte sie dem Jungen<br />

beim „Balkangrill“ eine „Bosna“, eine<br />

besonders gewürzte Bratwurst mit Weißbrot,<br />

Zwiebel und gehackter Petersilie,<br />

die in Salzburg einen regelrechten Kultstatus<br />

hat. Es war ohnehin keine einfache<br />

Zeit für den Jungen, der sich auf der<br />

Grundschule schwer mit dem Salzburger<br />

Dialekt tat und sich nach Wien sehnte –<br />

dort hatte die Familie vorher gelebt. Da<br />

die Förderung seiner Begabung bald<br />

wichtiger als die Schule wurde, verbrachte<br />

er immer mehr Zeit am Mozarteum<br />

bei seiner Professorin Irmgard Gahl. „Ich verdanke ihr unendlich<br />

viel. Sie war in den entscheidenden Jahren von 8 bis 15 meine<br />

wichtigste Mentorin.“ Sich als Musiker in „einer kleinen, aber prestigiösen<br />

Szene“ wie Salzburg zu entwickeln, in der man durchaus<br />

auch mal einem Karajan oder einer großen Operndiva auf der<br />

Straße begegnen konnte, fand Schmid nur von Vorteil.<br />

Das muss Leopold Mozart wohl ähnlich gesehen haben –<br />

50 Jahre lebte der gebürtige Augsburger in Salzburg. Seine Briefe<br />

weisen ihn als begnadeten Networker und Manager aus, dem es<br />

gelang, sich mit vier Erzbischöfen zu arrangieren. Autografe von<br />

Sonaten, Arien, Chorsätzen und Konzerten zeigen den produktiven<br />

Komponisten, die Bücher, Grafiken und Stiche den hochgebildeten<br />

und an allen Entwicklungen interessierten Mann. In einem Glaskasten<br />

das Werk, das ihn über Europa hinaus bekannt machte: „Die<br />

gründlichste und beste Anweisung zur Violine und allen Geigeninstrumenten“,<br />

wie Friedrich Nicolai 1763 schrieb. 1756, im<br />

Geburtsjahr seines Sohnes Wolfgang Amadé, hatte Leopold Mozart<br />

das Lehrbuch veröffentlicht. Heute zählt man die 1.800. Auflage,<br />

einschließlich der Übersetzungen. „Die Violinschule ist bis heute<br />

ein sehr gewichtiges Werk“, sagt Schmid, der als Gastprofessor in<br />

Bern und am Mozarteum lehrt. „Sie sagt sehr viel aus über die Interpretationspraxis<br />

zu Mozarts Zeiten. In Hunderten akribisch zusammengestellten<br />

Fallbeispielen unterstützt<br />

Leopold Mozart seinen Schüler in Fragen<br />

der Artikulation, der Ornamentik<br />

und – für mich besonders interessant –<br />

im Hinblick auf die Bogentechnik.“ Da<br />

werde bis heute grundlegendes Wissen<br />

vermittelt, auch für ihn, der als künstlerischer<br />

Leiter des Internationalen Mozartwettbewerbs<br />

Salzburg und als diesjähriger<br />

Jurypräsident des Violinwettbewerbs<br />

Leopold Mozart in Augsburg das Können<br />

anderer beurteilen muss.<br />

Nicht weit von dem Lehrwerk: das<br />

Objekt der Arbeit – eine Konzertvioline, auf der Wolfgang in den<br />

1770er-Jahren spielte. „Ein Erlebnis eigener Art“ sei es, meint<br />

Schmid, ein solches Instrument zu spielen, das für kleine Räumlichkeiten<br />

gedacht war. Er hält sich an das Wort Harnoncourts, dass<br />

mit jeder Entwicklung eines Instruments auch immer etwas verloren<br />

ginge. Schmid selbst spielt auf drei Geigen, darunter auch eine<br />

E-Geige für seine (preisgekrönten) Jazzaufnahmen. Sein Schatz<br />

aber ist die Stradivarius „ex Viotti 1718“ – eine Leihgabe der Österreichischen<br />

Nationalbank, die er wohl heute dabeihat. Schließlich<br />

muss er im Anschluss zu seinen Studenten ins Mozarteum.<br />

Eines möchte er mir noch zeigen: den Sebastiansfriedhof.<br />

Prächtige Arkaden umranden das Areal, das im Stil der italienischen<br />

Campi Santi um 1600 angelegt wurde. Hier fand der Arzt<br />

Theophrastus Bombastus von Hohenheim, bekannt unter dem<br />

Namen Paracelsus, seine letzte Ruhe, aber auch alte Salzburger Bürger-<br />

und Kaufmannsfamilien sowie Mozarts Vater Leopold und<br />

Wolfgangs Witwe Constanze Nissen. Und Benjamin Schmids Mutter,<br />

die 2017 verstarb. Bleibt nur zu hoffen, dass Salzburgs einziger<br />

noch verwunschener Ort von den Massen verschont bleibt und die<br />

Stadt nicht ihr grausiges Gesicht zeigen muss mit all den Männerbäuchen,<br />

quellenden Busen, Schlapfen an den Füßen, die sich hier<br />

auf Selfies verewigen.<br />

■<br />

Tipps, Infos & Adressen<br />

Reiseinformationen rund um Ihren Besuch in Salzburg.<br />

Musik & Kunst<br />

Ab dem 20. Juli heißt es zum 99. Mal „Vorhang<br />

auf“ für die Salzburger Festspiele. <strong>19</strong>9 Aufführungen<br />

an 43 Tagen und 16 Spielstätten,<br />

unter anderen Händels Alcina, Mozarts Idomeneo,<br />

R. Strauss’ Salome. Tobias Moretti<br />

und Valery Tscheplanowa im Jedermann<br />

(www.salzburgerfestspiele.at). Viel Spaß<br />

macht der skurrile Zwergerlgarten beim<br />

Schloss Mirabell, das Domquartier und das<br />

Museum der Moderne Salzburg auf dem<br />

Mönchsberg (www.stadt-salzburg.at).<br />

Essen & Trinken<br />

Das Köchelverzeichnis: klein und fein in Salzburg<br />

ältester Gasse (Steingasse 27), mit Platz<br />

für höchstens 20 Gäste. Hinter der Theke<br />

kocht die Chefin persönlich und legt, während<br />

es brutzelt, auch mal ein Tänzchen zu Jazzmusik<br />

ein. Täglich drei neue Gerichte bei erlesenem<br />

Wein. Unbedingt einbauen als Konstrastprogramm:<br />

Bei Frau Hildegard im Balkan Grill<br />

(www.hanswalter.at), dem wohl ältesten Bosnastand<br />

u. U. sogar weltweit, die berühmteste<br />

Bosna essen gehen.<br />

Übernachten<br />

Aufwachen mit Opernstars? Klappt im<br />

Hotel Goldgasse (www.hotelgoldgasse.at).<br />

An den Wänden überdimensionale Bühnenbilder,<br />

jedes Zimmer eine andere Inszenierung.<br />

Wunderschön, nachhaltig renoviert<br />

und fußläufig zum Festspielhaus:<br />

Townhouse Weisses Kreuz (www.townhouse-weisses-kreuz.at).<br />

Wahrhaft königlich<br />

(siehe Bild): Wohnen auf Lagerfelds<br />

Spuren im Hotel Schloss Leopoldskron<br />

(www.schloss-leopoldskron.com).<br />

FOTOS: TOURISMUS SALZBURG GMBH (3); MARC SORIAT, ULLI HAMMERL<br />

80 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


Termine<br />

FÜR GLOBETROTTER<br />

Sydney ist super! Und lockt mit moderner Kunst, Musik und Tanz.<br />

Getanzte Geschichte<br />

Das Bangarra Dance Theatre feiert sein 30-jähriges<br />

Bestehen. Der Name der Gruppe bedeutet<br />

in der Sprache des Wirajuri-Stammes „Feuer<br />

entfachen“. Das Jubiläumsprogramm „30 Years<br />

of 65 000“ ist dem großen Geschichtenerzähler<br />

und Philosophen David Unaipon vom Stamm<br />

der Ngarrindjeri gewidmet. Unaipon von Frances<br />

Rings zeigt ein getanztes Porträt Unaipons, der<br />

sich bis zu seinem Tod <strong>19</strong>67 für die Verbesserung<br />

der Lage der Aborigines einsetzte und als Visionär<br />

an ein gleichberechtigtes Zusammenleben glaubte.<br />

Zum Abschluss hält Bangarra Rückschau auf seine<br />

Geschichte, in der es mit seinem Tanz die Kraft<br />

und Schönheit des indigenen Australiens feierte.<br />

Sydney, Opera House, 13.6. bis 30.7.,<br />

www.bangarra.com.au<br />

Gelebte Kultur<br />

Zeitgenössische australische Kunst zeigt die Ausstellung<br />

The National 20<strong>19</strong>: New Australian Art.<br />

Arbeiten von 70 Künstlern und Künstlerkollektiven<br />

leuchten das reichhaltige Spektrum aus, in<br />

dem von Performance und Installation über klassische<br />

Malerei und Skulptur bis zu Fotografie und<br />

Film alle Ausdrucksmittel vertreten sind. Und<br />

wie die Kuratoren betonen, seien über 60 Prozent<br />

der ausstellenden Künstler Frauen und über ein<br />

Drittel Aborigines und Torres-Strait-Insulaner.<br />

Kaylene Whiskey etwa stellt mit Humor und unter<br />

Einbeziehung von Elementen der Popkultur auf<br />

ihren Bildern das Leben in einer abgelegenen Gemeinde<br />

im Inneren Australiens dar.<br />

Sydney, Museum of Contemporary Art,<br />

bis 23.6., www.mca.com.au<br />

Inszenierte Kunst<br />

Die Uraufführung der Oper Whiteley von Elena<br />

Kats-Chernin erinnert an Australiens berühmtesten<br />

Avantgardekünstler. Brett Whiteley arbeitete<br />

in London und New York, ehe er sich in den <strong>19</strong>70er-<br />

Jahren in Lavender Bay am Hafen von Sydney niederließ.<br />

Justin Fleming beginnt sein Libretto mit<br />

der Begegnung von Brett und Wendy Susan, die<br />

seine Frau und Muse wurde und sein Leben und<br />

seine Kunst veränderte. David Freeman bindet<br />

Whiteleys Kunstschaffen in seine Inszenierung ein<br />

und durchmisst auf zehn Bildschirmen eine große<br />

Bandbreite seines Werks. Whiteley wird von Leigh<br />

Melrose verkörpert. Wendy ist Julie Lea Goodwin.<br />

Und am Pult steht Tohu Matheson.<br />

Sydney, Opera House, 15. bis 30.7.,<br />

www.opera.org.au<br />

FOTO: ART GALLERY OF NEW SOUTH WALES, PURCHASED <strong>19</strong>77 © WENDY WHITELEY, PHOTO: AGNSW, CHRISTOPHER SNEE;<br />

JACQUIE MANNING; BERNARD GAGNON<br />

MUSIKREISE FÜR KLASSIKFANS<br />

George Enescu Festival in Bukarest<br />

Das George Enescu Festival gehört zu den<br />

wichtigsten Klassik-Ereignissen Europas.<br />

Alle zwei Jahre findet es statt: in der rumänischen<br />

Hauptstadt Bukarest. Und ist mit George Enescu<br />

einem Komponisten gewidmet, den manche als<br />

größtes Phänomen der klassischen Musik seit Mozart<br />

sehen. Der künstlerische Leiter Wladimir Jurowski<br />

holt auch dieses Jahr im September wieder die Stars<br />

der Klassik-Szene in das einstige „Paris des Ostens“.<br />

Der Spezialreiseveranstalter ADAC „Reisen für<br />

Musikfreunde“ hat zu diesem Anlass eine fantastische<br />

fünftägige Musikreise zusammengestellt: Direkt<br />

am ersten Abend erleben Sie im Palastsaal das<br />

St. Petersburg Symphony Orchestra mit Dvořáks Sinfonie<br />

Nr. 9 „Aus der neuen Welt“. Der Tag darauf beginnt mit einer<br />

Stadtrundfahrt entlang der prachtvollen Bauten Bukarests – vom<br />

Parlament über den Universitätsplatz bis zum Rumänischen Athenäum,<br />

das zu den schönsten Gebäuden der Stadt zählt. Dort genießen<br />

Sie am späten Nachmittag Mozarts Sinfonie Nr. 35 D-Dur KV<br />

385 „Haffner“. Doch auch die Umgebung Bukarests steht auf dem<br />

Programm: Sie besichtigen die auf einer Insel im Snagov-See gelegene<br />

Klosteranlage und erleben eine Führung im George Enescu<br />

Museum bevor am Abend das Royal Concertgebouw Orchestra<br />

Beethovens Sinfonie Nr. 3 op. 55 „Eroica“ zum Besten gibt.<br />

Sehenswert ist auch die Führung durch das berühmte Kunstmuseum<br />

im ehemaligen Königspalast, das eine reiche Sammlung<br />

von Gemälden und Skulpturen rumänischer Künstler und Werke<br />

z. B. von Bramantino, El Greco, Rubens, Rembrandt, Tintoretto und<br />

Skulpturen von Rodin präsentiert. Den musikalischen Abschluss bildet<br />

Mozarts Don Giovanni im Athenäum.<br />

INFORMATIONEN Reisezeitraum: <strong>19</strong>. – 23. September 20<strong>19</strong> (Flüge Frankfurt<br />

– Bukarest – Frankfurt, mit Lufthansa in der Eco-Class), 4 Übernachtungen<br />

inkl. Frühstücksbuffet im 5-Sterne Hotel Sheraton Bucharest, 2 x Mittag-/<br />

2 x Abendessen, 4 x Konzertkarten der 1. Kategorie, Stadtrundfahrt, Ausflug,<br />

Führungen, versierte Reiseleitung vor Ort.<br />

Beratung und Buchung: www.adac-musikreisen.de oder Tel.: 069-66 07 83 04.<br />

Seit über 35 Jahren bietet ADAC „Reisen für Musikfreunde“ exklusive Reisen<br />

zu klassischen Opern- und Konzertaufführungen weltweit an. Der Veranstalter<br />

hat rund 200 Reisen im Programm. Alle angebotenen Reisen sind auch für<br />

Nicht-ADAC-Mitglieder buchbar.<br />

FOTO: ADRIAN SAVA<br />

81


HTOI PT E LTZREIIFLFET<br />

Daniel-Hope-Kolumne<br />

„DIE KÜNSTE SIND UNVERZICHTBAR“<br />

Daniel Hope im Gespräch mit Rob Gibson, Executive und Artistic Director des<br />

Savannah Music Festivals. Hope war Associated Artistic Director. Nun hören beide auf.<br />

Daniel Hope: Du warst die treibende<br />

Kraft hinter dem Savannah Music<br />

Festival, hast in 17 Tagen über 100<br />

Konzerte aller Musikrichtungen geplant<br />

und präsentiert – und das 16 Jahre<br />

lang. Warum gibt es so wenig Multi-<br />

Genre-Festivals?<br />

Rob Gibson: Ich kenne nur sehr wenige<br />

Leute, die in der Kunst arbeiten – Musiker<br />

eingeschlossen –, die die ganze Palette der<br />

Musik mögen. Ein Opernfestival oder ein<br />

Kammermusikfestival zu veranstalten, ist<br />

ein anspruchsvolles und edles Unterfangen,<br />

aber das ist es normalerweise nur für<br />

einen kleinen Teil der Bevölkerung – was<br />

die Vermarktung wiederum erleichtert.<br />

Ich war schon immer daran interessiert,<br />

musikalische Erlebnisse für alle anzubieten,<br />

egal ob das Studenten, Eltern,<br />

Kindergärtner oder Senioren waren. Es<br />

spielte keine Rolle, ob die Produktion<br />

gesanglich oder instrumental war, religiös<br />

oder säkular, akustisch oder verstärkt,<br />

drinnen oder draußen. Ich tanze auch<br />

gern zu Live-Musik. Deshalb haben wir<br />

beim Festival in Savannah erkannt, dass<br />

die musikalischen Künste unverzichtbar<br />

sind – denn sie können uns ermutigen,<br />

Mitleid zu empfinden, verschiedene<br />

Kulturen zu umarmen, kritisch zu denken<br />

oder einfach nur eine gute Zeit zu haben,<br />

während wir den Blues wegtanzen.<br />

Wurde die Programmgestaltung jemals<br />

von Trends und Moden beeinflusst?<br />

Kunst und Musik sind keine Trends – sie<br />

sind Traditionen, die ständig erweitert,<br />

bearbeitet und verfeinert werden. In der<br />

Musikbranche jedoch geht es ums Geld,<br />

Trends und Moden tun ihr gut. Ein<br />

Großteil der Musik, die unsere Kinder im<br />

Radio hören, mag sich gut anfühlen. Auch<br />

ein Schokoriegel fühlt sich gut an – hat<br />

Rob Gibson (r.) mit Daniel Hope<br />

aber keinen Nährwert. Wir nutzen die<br />

aufkeimende Sexualität unserer Kinder<br />

aus. Wir nutzen ihren Mangel an Kultiviertheit<br />

aus. Wir setzen Dekadenz mit<br />

Hipness gleich. Wir sehen in unseren<br />

Kindern einen Markt, und es ist peinlich.<br />

Aber schuld sind nicht unsere Kinder.<br />

Schuld sind wir.<br />

Europäische Kunstförderung unterscheidet<br />

sich sehr von der der Vereinigten<br />

Staaten. Welche Auswirkungen hat<br />

das für ein Festival wie Savannah?<br />

In meinen 16 Jahren als Veranstalter<br />

haben wir nie mehr als acht Prozent<br />

unseres jährlichen Budgets aus staatlichen<br />

Quellen erhalten. In dieser Zeit jedoch<br />

kamen 40 Prozent der Besucher von außerhalb.<br />

Dieser Zustrom an Kulturtourismus<br />

stärkte die lokalen Unternehmen<br />

und führte zu erheblichen Ausgaben- und<br />

Besucheraktivitäten. Wir wurden Teil<br />

dieses kreativen Unternehmens und des<br />

Geschäftslebens der Gemeinde.<br />

In deiner Karriere hast du Wynton<br />

Marsalis, Keith Jarrett, Miles Davis und<br />

viele andere Künstler präsentiert. Gab es<br />

jemals Unebenheiten auf dem Weg?<br />

Einige Künstler können exzentrisch,<br />

furchterregend oder anspruchsvoll sein,<br />

aber jede Unebenheit führt schließlich zu<br />

einer guten Geschichte. Ich darf mich<br />

glücklich schätzen, mit vielen Musikern<br />

zusammenzuarbeiten, darunter Sir<br />

George Solti, Astor Piazzolla, Ravi<br />

Shankar, Count Basie, Sejii Ozawa, Ella<br />

Fitzgerald, Nusrat Fateh Ali Khan, Lionel<br />

Hampton, Daniel Barenboim, Sarah<br />

Vaughan, Tito Puente, Benny Carter und<br />

Dizzy Gillespie – von denen jeder seinen<br />

ganz eigenen Charme hatte.<br />

Du warst auch Executive Producer and<br />

Director of „Jazz at Lincoln Center“.<br />

Bekommt der Jazz jetzt die Anerkennung,<br />

die er verdient?<br />

Jazz war schon immer Kunst, und die<br />

Menschen auf der ganzen Welt erkannten<br />

sofort das Genie von Leuten wie Louis<br />

Armstrong und Duke Ellington. Wynton<br />

Marsalis sagte immer, dass der Jazz die<br />

Musik revolutioniert habe, indem er den<br />

einzelnen Musikern die Autorität verlieh,<br />

„ihre Geschichte zu erzählen“. Die Herausforderung<br />

besteht darin, dass unser<br />

Bildungssystem noch umgebaut werden<br />

muss, um dieser Revolution Rechnung zu<br />

tragen. Solange das nicht geschieht, wird<br />

der Jazz ein kleines, aber hingebungsfreudiges<br />

Publikum unterhalten.<br />

Was steht als Nächstes für dich auf<br />

dem Plan?<br />

Ich freue mich darauf, für den hervorragenden<br />

Hotelier Richard Kessler zu<br />

arbeiten, der in seinen zahlreichen<br />

Locations im Süden Innen- und Außen-<br />

Events veranstaltet. Hier in Savannah<br />

entsteht eine Outdoor-Plaza mit 500<br />

Plätzen, ein Musikzentrum mit mehr als<br />

300 Plätzen (The Power Station), ein neuer<br />

River Walk, drei Dachterrassen und<br />

verschiedene Ballsäle, Lobbys und Bars, in<br />

die wir viel Musik integrieren werden. n<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

FOTO: FRANK STEWART<br />

82<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>


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EINE KLASSIK FÜR SICH.<br />

ANDRIS NELSONS<br />

GEWANDHAUSORCHESTER<br />

BRUCKNER<br />

SYMPHONIES NOS. 6 & 9<br />

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EVGENY KISSIN<br />

EMERSON STRING QUARTET<br />

THE NEW YORK CONCERT<br />

MOZART, FAURÉ, DVOŘÁK<br />

CD / 2 VINYL /<br />

STREAM / DOWNLOAD<br />

ALBRECHT MAYER<br />

LONGING FOR PARADISE<br />

R. STRAUSS, ELGAR,<br />

RAVEL, GOOSSENS<br />

CD / STREAM / DOWNLOAD<br />

MIRGA GRAŽINYTE· -TYLA<br />

WEINBERG SYMPHONIES<br />

NOS. 2 & 21<br />

CD / STREAM / DOWNLOAD<br />

ELĪNA GARANČA<br />

SOL Y VIDA<br />

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BRIGITTE FASSBAENDER<br />

THE BRIGITTE FASSBAENDER EDITION<br />

11 CD / STREAM / DOWNLOAD<br />

www.klassikakzente.de<br />

www.deutschegrammophon.com

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