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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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M E I N U N G<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

SCARPIA GIBT’S NICHT NUR<br />

AUF DER BÜHNE<br />

Immer mehr #MeToo-Skandale in der Klassik werden öffentlich. Viele wollen davon nichts wissen.<br />

Warum es existenziell ist, dennoch hinzuschauen und das System an sich infrage zu stellen.<br />

Nein, dieses Thema macht keinen Spaß. Und ja – wir würden<br />

gerne wegschauen. Neulich erreichte mich ein Leserbrief zu meinem<br />

<strong>CRESCENDO</strong> Newsletter. Warum ich dauernd in die Suppe<br />

spucken würde. Warum es bei mir so oft um Politik ginge, um<br />

unangenehme Themen, um gesellschaftliche Debatten und aktuelle<br />

Themen. Musik sei doch in erster Linie dazu da, sich zu entspannen,<br />

abzutauchen in eine andere Welt, sich auszuruhen von<br />

unserem komplizierten Alltag.<br />

Natürlich kann man Musik auf diese Art konsumieren. Und<br />

es ist auch nichts dagegen zu sagen, Musik als Flucht zu nutzen –<br />

als Flucht vor allem, was uns im Alltag viel zu groß und viel zu<br />

schwer vorkommt. Teil der Wahrheit ist aber auch, dass es wohl<br />

kaum einen Komponisten gibt, der mit seiner Musik nicht auch<br />

ein klingendes Abbild seiner Zeit schaffen wollte, der mit seiner<br />

Musik nicht nur einen Rückzugsort, sondern auch einen Ort der<br />

Kommunikation über unsere Welt in den Raum stellen wollte. Das<br />

gilt übrigens auch für die meisten Interpreten: Egal, ob sie versuchen,<br />

die humanistischen Botschaften Beethovens ins Heute zu<br />

übersetzen oder, wie der Pianist Igor Levit oder der Schlagzeuger<br />

Martin Grubinger, aktiv ins aktuelle politische Geschehen eingreifen<br />

– Musik ist immer auch Dialog und Debatte. Nirgends wird das<br />

so deutlich wie in der Oper: Sexueller Missbrauch, Gewalt gegen<br />

Frauen und ihre Hilflosigkeit stehen in unendlich vielen Werken<br />

im Zentrum. Der Polizeichef Scarpia, der seine Macht ausnutzt,<br />

um die Schauspielerin Floria Tosca für sich zu gewinnen, Otello,<br />

der seine Frau Desdemona demütigt, Carmen, die mit ihren sexuellen<br />

Reizen Don José in einen Mörder verwandelt, der US-Seemann<br />

Benjamin Pinkerton, der das japanische Mädchen Madame<br />

Butterfly erst schwängert und dann sitzenlässt, Salomé, die es<br />

gewohnt ist, als Kind für ihren Vater zu tanzen – und, und, und …<br />

Bei all diesen Opern schauen wir gebannt zu. Und danach<br />

tun wir so, als würde all das nur auf der Bühne stattfinden. Eine<br />

Tragödie wie ein Verkehrsunfall, an dem wir vorbeirauschen. Der<br />

uns einige Kilometer lang das Blut in den Gliedern gefrieren lässt,<br />

um dann wieder aufs Gaspedal zu treten.<br />

So ähnlich kommt es mir auch mit der aktuellen #MeToo-<br />

Debatte in der Klassik vor. Nachdem der „Spiegel“ bereits vor einiger<br />

Zeit die Missstände an der Münchner Musikhochschule aufgedeckt<br />

hat (es ging darum, dass Schüler mit ihren Lehrern zur<br />

Auflockerung Pornos schauen mussten, dass Schülerinnen angegrabscht,<br />

unter Druck gesetzt und sogar vergewaltigt wurden),<br />

legte das Blatt nun nach: Zwei Musikerinnen berichteten von ähnlichen<br />

Zuständen an den Musikhochschulen in Hamburg und<br />

Düsseldorf. Nachdem der Artikel gedruckt war, passierte: so gut<br />

wie nichts. Veröffentlichungen über sexuelle Übergriffe, über das<br />

Ausnutzen einer Machtposition an den Hochschulen oder auf den<br />

Bühnen durch Dirigenten sorgen eine Zeit lang für Erschütterung<br />

– und dann geht es irgendwie weiter.<br />

Klar, in Fällen sexuellen Machtmissbrauchs ist es schwierig,<br />

zu juristischen Urteilen zu kommen. In der Regel gibt es nur zwei<br />

Beteiligte und keine Zeugen. Oft finden die Opfer erst nach langer<br />

Zeit den Mut, über das zu reden, was sie erlitten haben. Aber irgendwann<br />

stehen die Vorwürfe im Raum: Das war so bei James Levine,<br />

der seine Position als Dirigent ausgenutzt haben soll, um jüngere<br />

Künstler sexuell zu bestimmen; das war so bei Daniele Gatti, dem<br />

von zwei Frauen sexuelle Übergriffe vorgeworfen wurden, bei Gustav<br />

Kuhn, der in Erl nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein<br />

erotisches Imperium aufgebaut haben soll, und bei Charles Dutoit,<br />

der einer Sängerin kurz vor einem Auftritt an den Busen gegriffen<br />

haben und andere gegen ihren Willen geküsst haben soll. Die<br />

Aufregung war groß, die Berichterstattung laut. Inzwischen sind<br />

wir dabei zu vergessen, zu verdrängen oder zu relativieren. Während<br />

James Levine noch in juristischen Auseinandersetzungen<br />

mit der Metropolitan Opera in New York steckt, geht das Leben<br />

für die anderen Dirigenten inzwischen fast normal weiter: Dutoit<br />

dirigiert das Orchester in St. Petersburg, Gatti wurde in Rom zum<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

42 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>

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