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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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A<br />

„DER<br />

ls Maurice Steger acht Jahre alt war, reichte es ihm.<br />

Nach nur wenigen Unterrichtsstunden flog der motorisch<br />

überforderte Junge aus dem Blockflötenunterricht und verbannte<br />

das Instrument im hintersten Winkel unter seinem Bett. Es<br />

hätte das frühe Ende einer musikalischen Karriere sein können.<br />

Wäre da nicht dieser einzigartige Klang der Flöte gewesen, ungeschminkt,<br />

klar und intim, der Steger auch in den folgenden Jahren<br />

nicht losließ. Während seine Flöte unter dem Bett ihr Dasein fristete,<br />

spielten seine Schulkameraden bald die ersten Stücke. Steger<br />

war begeistert und versuchte drei Jahre später abermals sein Glück<br />

– mit Erfolg. Schnell zeigte sich sein Talent, mit 15 wurde er Jungstudent<br />

an der Musikhochschule in Zürich, später studierte er bei<br />

Pedro Memelsdorff und Kees Boeke und startete direkt nach dem<br />

Studium eine einzigartige Karriere.<br />

Heute ist Maurice Steger einer der bekanntesten Interpreten<br />

überhaupt an der Blockflöte und hat dem Instrument zu neuer Blüte<br />

und Popularität verholfen. Die medialen Zuschreibungen sind zahlreich,<br />

und an Superlativen mangelt es nicht. Steger wird als „Superstar“<br />

gehandelt, als „Paganini“ und „Hexenmeister“ – meist steht<br />

sein technisches Virtuosentum im Vordergrund. Steger selbst fühlt<br />

sich damit nicht immer wohl. „Ganz ehrlich – das nervt total“, sagt<br />

Steger und seufzt. „Ganz egal, was ich spiele, überall muss der Virtuose<br />

mit draufstehen. Ich kann es nicht mehr hören.“ Natürlich sei<br />

er vor allem mit solistischem Repertoire bekannt geworden, entsprechend<br />

„an vorderster Front unterwegs“ und medial präsent gewesen.<br />

„Das prägt natürlich ein bestimmtes Image“, so Steger und zuckt<br />

ratlos mit den Schultern. Es sei aber nur eine von vielen Facetten.<br />

Sein musikalisches Leben ist weitaus bunter und vielschichtiger,<br />

als es die Stempel vermuten lassen. Steger spielt und dirigiert,<br />

er lehrt und forscht und konzipiert erstklassige Festivals ebenso wie<br />

hervorragend aufbereitete Kinderkonzerte. Immer wieder wird er<br />

bei seinen Projekten auch zum musikalischen Schatzgräber, der in<br />

verschwiegene Bibliotheken abtaucht und längst vergessene Kostbarkeiten<br />

zutage bringt.<br />

An einem sonnigen Vormittag im April sitzt der 48-Jährige in<br />

einem Probenraum in der Bruckneruniversität in Linz. Zwischen<br />

unterschiedlichen Konzertprojekten gibt er hier für ein paar Tage<br />

einen Meisterkurs, wenig später wird er ein paar Räume weiter mit<br />

den Studenten über die Kunst der Phrasierung philosophieren, die<br />

Bedeutung der Spielanweisung „cantabile“ und die Geheimnisse<br />

des kammermusikalischen Dialogs. Steger ist ein energiegeladener<br />

und charismatischer Mann mit wachem Blick und impulsiver Gestik.<br />

Beseelt von der Musik und den Ausdrucksmöglichkeiten seines<br />

Instruments, scheinen seinem Tatendrang kaum Grenzen gesetzt.<br />

Diese Gestaltungskraft spiegelt sich auch in seinen Interpretationen.<br />

Federnd, lebendig und direkt kommt sein Spiel daher, wendig und<br />

spannungsvoll, füllig und schlank zugleich. Dass die Blockflöte mit<br />

Maurice Steger zu einem Höhenflug ansetzte, liegt neben Stegers<br />

Spiel auch an einer entscheidenden Weiterentwicklung im Flötenbau.<br />

„Ich bin schon früh mit Orchestern in großen Sälen aufgetreten.<br />

Da kommt man mit einer klassischen Blockflöte akustisch sehr<br />

schnell an die Grenzen. Die Frage war nun: Wie kann man den<br />

Klang, der ja ursprünglich für barocke Salons komponiert worden<br />

war, so übersetzen, dass er auch in großen Sälen funktioniert, ohne<br />

dass die barocke Substanz verloren geht?“ Die Lösung war eine<br />

„sanfte Erweiterung“, wie Steger sagt. In Zusammenarbeit mit dem<br />

Schweizer Blockflötenbauer Ernst Meyer entstanden voluminöse<br />

Blockflöten, bei denen der Windkanal geweitet ist und ein deutlich<br />

KLANG DER FLÖTE HAT ETWAS GANZ DIREKTES,<br />

UNGEKÜNSTELTES. MAN HÖRT DEN MENSCHEN“<br />

größerer Ton möglich ist. „Diese Art von Spiel ist viel körperlicher“,<br />

sagt Steger. „Man braucht den ganzen Körper, das ist wie beim<br />

Singen, und es entstehen dadurch ganz andere Obertöne und eine<br />

völlig neue Dynamik. Damit kommt man in abenteuerliche Regionen“,<br />

sagt Steger und lacht. Was für ihn eine spannende Ergänzung<br />

war, sehen manche Blockflötisten mit Blick auf den historischen<br />

Originalklang durchaus kritisch. Und so gibt es mittlerweile verschiedene<br />

„Schulen“, die nur schwer miteinander vereinbar sind.<br />

Steger ist sich der Kritik durchaus bewusst, doch wenn es darum<br />

geht, große Hallen zu füllen, sind die modernisierten Flöten aus<br />

seiner Sicht die Zukunft.<br />

Stereotype und starre Regeln interessieren den Flötenmeister<br />

wenig. Das war schon im Blockflötenunterricht so. Heute gilt es<br />

mehr denn je. Ihm geht es um das möglichst unmittelbare und<br />

intensive Erleben von Musik. Die Flöten sind für Steger dabei ein<br />

„Spiegel der Seele“. Die Menge der Luft, die Temperatur, die<br />

Geschwindigkeit, die Dichte – alles ist von Bedeutung beim Spiel<br />

mit den Klangfarben, und nichts bleibt dabei verborgen. „Man kann<br />

sich dahinter nicht verstecken“, sagt Steger, und wenn Körper und<br />

Seele nicht im Einklang seien, funktioniere es nicht.<br />

Auch auf seinem neuen Album prangt marketingtauglich der<br />

„Virtuosen“-Stempel, doch wieder einmal trügt das simple Image.<br />

Unter dem Titel „Mr Handel’s Dinner“ vereint Steger darauf verschiedenste<br />

„Favorites“ von Händel und Zeitgenossen, die in den<br />

Pausen zwischen den einzelnen Akten der Oper gespielt wurden.<br />

„Das waren Stücke, die man gern hatte und die jeder kannte. Sie<br />

wurden von den Kindern auf dem Nachhauseweg gepfiffen – das<br />

muss man sich mal vorstellen“, sagt Steger. Ein Opernbesuch war<br />

zu jener Zeit nicht selten ein Tagesausflug. „Die Leute haben<br />

damals richtig viel Zeit im Theater verbracht, und die Pausen dauerten<br />

mehrere Stunden. Da musste man die Leute bei der Stange<br />

halten“, sagt der Flötist schmunzelnd. Entsprechend wurde gefeiert,<br />

gegessen und Musik gespielt. Die Oper selbst bot den Rahmen<br />

für dieses unterhaltsame Gesamterlebnis, und Steger ist es zusammen<br />

mit dem La Cetra Barockorchester Basel unter seiner Leitung<br />

gelungen, die genussvolle Sinnlichkeit und die bunte Atmosphäre<br />

von damals eindrucksvoll auf seinem Album nachzuempfinden.<br />

„Das war eine wahnsinnig spannende Zeit. Die Form der Oper<br />

war lange noch nicht so geschlossen wie heute. Händel hat zum<br />

Beispiel fast jede Arie auch für Blockflöten-Solo arrangiert und<br />

eine fantastische Vielfalt an Stücken geschaffen. Die Aufführung<br />

einer Oper war das Gegenteil der starren, steifen Konzertformen<br />

heute. Da wurde gefeiert und die einzelnen Arien waren wahre<br />

Hits, die man immer wieder hören wollte. Diesen Geist vermisse<br />

ich heute sehr“, so Steger.<br />

In seiner eigenen Arbeit versucht Steger, diesen Geist und diese<br />

Offenheit der Musik gegenüber immer wieder neu zum Leben zu<br />

erwecken. Bis heute ist es der Klang der Flöte, der den Schweizer<br />

stets aufs Neue zu Höchstleistungen anspornt. „Ich liebe diesen<br />

Klang!“, sagt Steger mit leuchtenden Augen. „Selbst wenn ein Erstklässler<br />

keine Ahnung von gar nichts hat, wirklich alles falsch macht<br />

und in eine Flöte reintutet, liebe ich diesen Klang. Er hat etwas ganz<br />

Direktes, Ungekünsteltes. Man hört den Menschen.<br />

Und man hört, wie der Mensch an sich<br />

arbeiten muss.“<br />

n<br />

G. F. Händel: „Mr Handel’s Dinner“, Maurice Steger (Harmonia Mundi)<br />

Track 9 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: A Ground von Gottfried Finger<br />

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