CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

Weitere Magazine

Empfehlungen

Info

K Ü N S T L E R Produkt eines Klassikmarktes, der Heilsbringer inthronisiert und Laufstegkarrieren produziert. Valentina Lisitsa hat es selbst geschafft, indem sie mit entspannt unprätentiösen Videos den Nerv des globalen jungen Publikums traf und zum ersten YouTube-Klassikstar aufstieg, der dann für die Flaggschiffe der Major Companies interessant wurde. In diese attraktive Position hat sie sich selbst gebracht. Und so ist auch ihre selbstbewusste Unabhängigkeit zu verstehen: Sie hat sich zu keinem Zeitpunkt verbogen und ist weniger denn je bereit dazu – was durchaus auch Irritation erzeugen kann. Doch lässt sich handwerklich nicht bestreiten, dass sie zu den führenden Pianisten unserer Zeit gehört, dass sie auch dahingehend kein Produkt irgendeines Hypes ist. Valentina Lisitsa erscheint zum Interview, nachdem sie gerade die Kompletteinspielung aller unbestritten authentischen Soloklavierwerke von Tschaikowsky hingelegt hat. Eine Komplettaufnahme, die kompletter als ihre Vorgänger ist, wie etwa die von Viktoria Postnikova, indem sie auch all das enthält, was man bisher erstaunlicherweise nicht für der Mühe wert hielt. Denn Tschaikowsky ist – all seiner Beliebtheit zum Trotz – ein verblüffend schlecht erschlossenes Kapitel der Musikgeschichte. Die Klavierkonzerte werden nach wie vor in Bearbeitungen gespielt, nur wenige Werke sind wirklich populär, diese dafür umso mehr: die letzten drei Sinfonien, die drei großen Ballette und ihre Suiten, die Solokonzerte, Romeo und Julia, Capriccio Italien, die Ouvertüre 1812, die Streicher-Serenade, Souvenir de Florence, das Klaviertrio und ein paar Einzelsätze – aber wer kennt den Rest? Für das Interview kam Valentina Lisitsa am Nachmittag mit dem Zug aus Baden-Baden nach München und fuhr am Abend zurück nach Saarbrücken, um dort am nächsten Tag einen Meisterkurs zu geben. Und mitnichten strahlte sie professionelle Routine aus. Auch den Blick auf die Uhr überließ sie anderen. Was ist der Ausgangspunkt bei so einem Projekt wie dieser Tschaikowsky-Gesamtschau? „Bei Tschaikowsky wie auch bei Rachmaninow ist es, um die Musiksprache zu verstehen, notwendig, die Romanzen, also die Lieder kennenzulernen, ihre Vokalmusik, also wie der Komponist die Bedeutung der Worte mit der Musik zusammenbringt. Wie man bei Mozart die Opern, bei Schubert oder Brahms die Lieder kennen sollte. Nicht umsonst spricht man von der ‚Stimme des Komponisten‘, von der Art, wie er singt.“ Bei der Sprachbarriere, die im Russischen auch noch zusätzlich eine Buchstabenbarriere ist, verwundert es nicht, dass das Wissen darüber nicht sehr verbreitet ist, und so übersetzt sie aus einem der Lieder, deren Text vom Komponisten selbst stammt: „Quäle mich, so viel du willst, aber bitte mit Liebe! […] Gibt es denn kein Mitleid in deinem grausamen Herzen? […] Töte mich, aber bitte liebe mich!“ TSCHAIKOWSKY IST EIN VERBLÜFFEND SCHLECHT ERSCHLOSSENES KAPITEL DER MUSIKGESCHICHTE FOTO: GILBERT FRANCOIS Das erinnert an den Hit Cold as Ice von Foreigner, aber Tschaikowsky war der bessere Komponist. Er spricht so unmittelbar aus seinem Herzen zum Hörer, dass viele glauben, seine Musik sei einfach Äußerung von Emotion und Leidenschaft, und es genüge, sich mit entsprechender Leidenschaft in ihre emotionalen Aufwallungen hineinzustürzen. Sie lacht: „Das verstehen viele nicht. Er ging strategischer vor als alle anderen russischen Komponisten seiner Zeit, gerade auch als die Petersburger Nationalrussen. Alles ist ganz klar konzipiert und strukturiert, und es ist eben ein echtes Wunder, dass diese mächtigen Architekturen so mit Leben erfüllt sind, dass man von diesem Grundriss so leicht nichts wahrnimmt. Wodurch die klaren Proportionen und harmonischen Verbindungen unterbewusst wirken können.“ Ob sie wohl ein Beispiel geben kann, wie sie sich den weniger bekannten Stücken angenähert hat? „Jaja, die Valse- Caprice op. 4 – ein recht umfangreiches Stück, es gibt keine Standards: Was mache ich damit? An einem Tag unterwegs hatte ich nur ein altes, verstimmtes Klavier zur Verfügung, das fast klang wie eine Gitarre. Und plötzlich offenbarte sich mir der Sinn des Stücks! Ich entdeckte die heute vergessene Tradition volkstümlicher russischer Romanzen mit Gitarrenbegleitung, zum Beispiel der großen Sängerin Antonia Neshdanova. Ein Klavier muss ein Orchester sein können, ein A-cappella- Chor oder eben auch eine Gitarre.“ Und welche Musik auf ihrem neuen Album legt sie den Hörern nun am meisten ans Herz? „Unbedingt das Nussknacker-Ballett! Sergei Taneyev, Tschaikowskys großer Schüler und enger Freund, erhielt den Auftrag, einen Klavierauszug zu erstellen. Er versuchte, alles hineinzupacken, und schnell kamen die Klagen der Kunden wegen ‚Unspielbarkeit‘. Also erstellte Tschaikowsky daraus, was er eine ‚vereinfachte Fassung‘ nannte – es ist immer noch wirklich virtuose Musik, und zugleich zeigt es ganz klar, was dem Komponisten wichtig war. In dieser ‚Black and White‘-Version gibt es Abschnitte, die bereits wie Schostakowitsch klingen. Auch die Abschluss-CD mit den Arrangements von Märschen und Ouvertüren enthält echte Überraschungen. Aber das Herzstück des Ganzen sind die 18 Morceaux op. 72, die zwischen dem Nussknacker und der Pathétique entstanden sind und deren Rezeption seit jeher darunter leidet, dass Tschaikowsky selbst sie abwertend als ‚Brotarbeit‘ bezeichnete, also eines Aristokraten unwürdig. Diese durchweg wunderbare Musik wird bis heute vollkommen ignoriert, außer Pletnev hat fast niemand sie als Ganzes im Konzert gespielt. Ich wünsche mir, dass mein Album viele Pianisten in aller Welt inspiriert, sich dieser Musik zu widmen.“ n Tschaikowsky: „Complete Works for Solo Piano“, Valentina Lisitsa (Decca) 30 w w w . c r e s c e n d o . d e — Juni – Juli – August 2019
HÖREN & SEHEN Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz 150 Jahre Wiener Staatsoper – eine DVD-Box zum Jubiläum (Seite 34) CRESCENDO Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören? Kein Problem: Auf www.crescendo.de finden Sie unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören! Rowan Pierce Die Sprache der Liebe „If music be the food of love, play on …“, so heißt es bei Shakespeare, und wohl kaum einer konnte dies betörender vertonen als Henry Purcell, der sich in seinen Werken farben- und nuancenreich mit der Liebe auseinandergesetzt hat. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass sich das Debütalbum der jungen Sopranistin Rowan Pierce verschiedenen Liebesliedern des barocken Großmeisters widmet und dabei einen weiten Bogen spannt, angefangen vom Frühwerk She loves and she confesses too bis hin zu Sweeter than roses. Im Zentrum steht dabei stets der poetische Text. Diesen kunstvoll sprechenden Gesang gestaltet Pierce eindringlich aus und beeindruckt in ihrer Interpretation der bilderreichen Dichtungen mit unmittelbarer Präsenz und Klarheit. Einfühlsam begleitet von Richard Egarr und William Carter, erkundet die Sängerin so Purcells klangvolle Sprache der Liebe. DW ALTE MUSIK Henry Purcell: „The Cares of Lovers“ u. a., Rowan Pierce, Richard Egarr, William Carter (Linn) Track 8 auf der CRESCENDO Abo-CD: From silent shades ,Bess of Bedlam‘ 31 FOTO: ROBERT WORKMAN
Seite 1 und 2: 20 JAHRE AUSGABE 04/2019 JUNI - JUL
Seite 3 und 4: P R O L O G SERVUS HABIBI* Liebe Le
Seite 5 und 6: NEUHEITEN Händel Concerti grossi o
Seite 7 und 8: Das Auge hört mit! Hochgerühmt is
Seite 9 und 10: »Ich liebe Dich« 55 € *
Seite 11 und 12: „Ein rotes Kleid ist eine Botscha
Seite 13 und 14: Die deutsche Schauspielerin und Sä
Seite 15 und 16: MIT LEIDENSCHAFT FÜR DIE MUSIK DER
Seite 17 und 18: JETZT TICKETS SICHERN! WWW.KULTURMA
Seite 19 und 20: Üben ist für Augustin Hadelich wi
Seite 21 und 22: A „DER ls Maurice Steger acht Jah
Seite 23 und 24: 23
Seite 25 und 26: „ES IST IMMER GUT, WENN MAN DAS R
Seite 27 und 28: hat, auch jedes Bruchstück). Sie v
Seite 29: DIE UKRAINISCHE PIANISTIN ÜBER DIE
Seite 33 und 34: SOLO Evgeni Koroliov, Anna Vinnitsk
Seite 35 und 36: ALTE MUSIK Renaud Capuçon und Davi
Seite 37 und 38: Concerto Copenhagen Beglückend lyr
Seite 39 und 40: ORCHES- TER Jukka-Pekka Saraste Dyn
Seite 41 und 42: Jetzt zwei Ausgaben EMOTION kostenl
Seite 43 und 44: Chef ernannt und wird kommende Sais
Seite 45 und 46: ERLEBEN Die wichtigsten Termine und
Seite 47 und 48: FOTO: RÜDIGER SCHESTAG; ANNE C ERI
Seite 53 und 54: K LASSIK VON WELTRANG ERLEBEN noch
Seite 55 und 56: „FEIN GEZEICHNETE SEELENLANDSCHAF
Seite 57 und 58: NADIA SINGER UND LUTZ GÖRNER: „H
Seite 59 und 60: SCHWERPUNKT MUSIK & MODE Wahre Sch
Seite 61 und 62: Max Emanuel Cencic als Valentiniano
Seite 63 und 64: Von links: Dalia Schaechter als Amn
Seite 65 und 66: Olga Peretyatko SOPRANISTIN Wenn di
Seite 67 und 68: Für viele ist die klassische Musik
Seite 69 und 70: Cuadrilla de Contradanzas, Frankrei
Seite 71 und 72: MADEMOISELLE COCO UND DIE KUNST Uns
Seite 73 und 74: LEBENSART Die Pianistin Ragna Schir
Seite 75 und 76: FOTO: MAIKE HELBIG Ragna Schirmer,
Seite 77 und 78: Legendär: Licht und Landschaft der
Seite 79 und 80: ES PRICKELT SCHON WIEDER: FESTSPIEL
Seite 81 und 82:
Termine FÜR GLOBETROTTER Sydney is
Seite 83 und 84:
Nur noch das Beste aus Klassik, Fil
Alle anzeigen

CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

Template löschen?

Als Template speichern?