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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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„ES IST IMMER GUT, WENN MAN DAS REPERTOIRE ERWEITERT<br />

UND DANN WIEDER ZURÜCKKOMMT. DAS HÄLT DIE STIMME FRISCH“<br />

bisschen an Körper gewonnen, das ist wohl auch eine hormonelle<br />

Sache. Muttersein ändert aber auch die Gedanken und die<br />

Prioritäten. In der Schwangerschaft habe ich mich gefragt, wie<br />

das alles klappen soll mit dem Singen. Aber ich hatte zum Glück<br />

viel Unterstützung von meiner Mutter. Man macht sich ja immer<br />

Sorgen, ob zu Hause alles läuft. (lacht) Es hat immer alles gut<br />

geklappt. Mein Sohn ist jetzt 14, ich habe also die Wiegen lieder-<br />

Zeit schon hinter mir, in der die Kinder noch ganz klein sind.<br />

Aber es ist und bleibt ein starkes Gefühl, es verändert alles. Als<br />

Danya Segal mir von dem Projekt erzählt hat, wusste ich sofort,<br />

dass ich das unbedingt machen möchte.<br />

In dem Projekt stehen viele starke Frauen gemeinsam auf der<br />

Bühne. Hat das eine besondere Energie?<br />

Danya Segal ist eine totale Powerfrau. Seit ich sie kenne, hat sie<br />

immer neue Ideen. Sie ist der Motor des Ensembles Musica Alta<br />

Ripa. Gibt immer Gas und hört nie auf, sich etwas Neues auszudenken.<br />

Und Dima Orsho hat eine unglaubliche Stimme und eine<br />

große Musikalität. Sie singt sowohl die arabische Musik als auch<br />

ein Opernduett von Händel mit mir zusammen, in dem sie zeigt,<br />

dass sie auch eine klassische Ausbildung hat. Sie hat eine große<br />

Stimme, mit der sie einen ganzen Saal füllen<br />

kann, und braucht kein Mikrofon. Das ist in<br />

der Musik, die sie ansonsten singt, eher<br />

außergewöhnlich. Aber auch sie hat sehr viel<br />

Power. Es ist ein echtes Frauenpower- Projekt!<br />

(lacht)<br />

Sind Sie auch eine Powerfrau?<br />

Och, ich bin eher eine Ruhige. Ich bin voller<br />

Freude und liebe die Musik über alles. Aber ich<br />

bin weder eine Diva noch bin ich aufgedreht,<br />

stehe auch nicht den ganzen Tag unter Strom.<br />

Ich bin eher ruhig, betrachte die Sachen mit<br />

einem gewissen Abstand. Mir hat auch immer<br />

geholfen, dass ich mich gerne anpasse. Und ich bin sanft zu mir<br />

selbst. Wenn etwas nicht so gut klappt, dann denke ich: „Beim<br />

nächsten Mal gibt es wieder eine Chance.“<br />

Wie haben Sie Ihre Stimme entdeckt?<br />

Ich singe, seit ich denken kann. In der Schule, zu Hause im<br />

Treppenhaus in dem katalanischen Dorf, in dem ich aufgewachsen<br />

bin. Dort hat es wie in einer Kirche geklungen. Ich habe erst<br />

Klavier gelernt, dann mit 15 Jahren mit Gesang angefangen – und<br />

so ging es immer weiter, ganz bedächtig, Schritt für Schritt.<br />

Niemand in meiner Familie war Musiker. Ich habe mir alles ganz<br />

langsam erarbeitet. Zunächst habe ich auf Hochzeiten gesungen,<br />

dann war ich im Chor in einem kleinen Ensemble, dann in<br />

Barcelona. Das Leben hat mir das alles geschenkt, ich musste<br />

mich nicht sehr anstrengen.<br />

Und schließlich haben Sie die Liebe zur Musik zum Beruf<br />

gemacht.<br />

Ja, das war schon immer mein Wunsch, ich wusste nur nicht, ob<br />

ich es schaffen kann. Als ich mit der Schule fertig war, haben alle<br />

Lehrer gesagt: „Du musst studieren! Nicht immer nur die Musik,<br />

um Gottes Willen!“ Aber zum Glück standen meine Eltern hinter<br />

mir. Und so habe ich immer weitergemacht. Als ich mit 23 nach<br />

Basel gegangen bin, hatte ich endgültig die Gewissheit, dass es<br />

genau das ist, was ich machen möchte. Da hat sich eine ganz neue<br />

„EGAL, AUS WELCHER<br />

KULTUR MAN KOMMT,<br />

DIE ROLLE DER<br />

MUTTER IST IMMER<br />

ZENTRAL“<br />

Welt für mich eröffnet.<br />

In Ihren Projekten steht oft die Alte Musik im Mittelpunkt.<br />

Was reizt Sie daran?<br />

Die Barockmusik hat eine ganz besondere Kraft, finde ich. Das<br />

Publikum reagiert darauf auch sehr stark, ähnlich wie in<br />

Konzerten mit moderner Musik. Sie stehen auf und jubeln. Mit<br />

17 Jahren habe ich die Passionen von Bach gehört, das war mein<br />

Einstieg. Als Kind hatte ich gar keinen Zugang zur Klassik und<br />

habe nie eine Oper gehört. Nur Jazz und Musical und Pop. Als<br />

ich dann die Matthäus-Passion gehört habe, habe ich gestaunt,<br />

wie viel Power da drinsteckt – das hat mich sofort gepackt. Und<br />

es gibt immer noch jeden Tag so viel zu entdecken. Ich lese auch<br />

Literatur dazu und informiere mich, wie das damals aufgeführt<br />

wurde. Aber dann gebe ich immer noch meinen eigenen Senf<br />

dazu. (lacht) Ich versuche, nicht mit dem Kopf zu entscheiden,<br />

ob ein Triller von unten oder oben gesungen wird oder wie viel<br />

Vibrato ich einsetze – viel lieber möchte ich mit dem Herzen<br />

singen, damit es ganz natürlich wirkt. Und offenbar habe ich<br />

diese Sprache in mir. Selbst wenn ich etwas anderes singe,<br />

Mozart oder Haydn, kommen oft Leute zu mir und sagen:<br />

„Aber du singst bestimmt Barock, oder?!“<br />

Meine Art, Musik zu machen, ist sehr barock<br />

– meine Phrasierung, die Stimmführung ...<br />

Ich weiß auch nicht, warum. Aber es war<br />

schon immer so.<br />

Aber in Ihrem Repertoire findet man noch<br />

viele andere Facetten.<br />

Oh ja, wenn ich immer nur Händel und<br />

Vivaldi singen würde, dann wäre das nicht<br />

gesund. Es ist immer gut, wenn man sein<br />

Repertoire erweitert und dann wieder zurückkehrt.<br />

So bleibt die Stimme frisch! Und ich<br />

denke auch nie: „Ach, jetzt schon wieder<br />

Händel“, sondern ich freue mich total darauf, weil ich vorher<br />

etwas ganz anderes gesungen habe und meine Stimme dort ganz<br />

andere Herausforderungen hatte.<br />

Für welche musikalischen Ideen können Sie sich besonders<br />

begeistern?<br />

Vor Kurzem habe ich zusammen mit der Accademia del Piacere<br />

das Projekt „Muera Cupido“ mit spanischer Barockmusik<br />

aufgenommen. Außerdem habe ich Bachianas Brasileiras von<br />

Heitor Villa-Lobos mit acht Celli eingesungen, eine sehr romantische<br />

Musik. Das war etwas ganz anderes als das „Mutter“-Projekt.<br />

Und in meiner Jugend habe ich Jazz von Duke Ellington gesungen.<br />

Mich interessieren eigentlich alle Musikrichtungen. Ich<br />

versuche immer in mir selbst danach zu schauen, wie weit ich<br />

komme und wie weit ich noch gehen kann. Ich möchte auf keinen<br />

Fall in einer Schublade landen, wie das heutzutage automatisch<br />

viel zu schnell passiert. Deshalb finde ich es auch toll, wenn<br />

Projekte mehrere Musikrichtungen mischen. Das ist dann nicht<br />

wirklich Crossover, aber es kommen einfach<br />

verschiedene Stile zusammen. In Zukunft<br />

planen wir auch, Barockmusik und Flamenco<br />

zu kombinieren. Darauf bin ich sehr gespannt!n<br />

„Mother“, Nuria Rial, Dima Orsho (Deutsche Harmonia Mundi)<br />

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