K Ü N S T L E R DER HEXENMEISTER UND SEINE GEISTER FOTO: MARCO BORGGREVE Er mag keine Etiketten. Und wehrt sich, immer nur der geniale Virtuose zu sein. Vielmehr will der Schweizer Flötist Maurice Steger die Seele seines Instruments offenbaren und vermitteln. Weil er seinem Klang bedingungslos verfallen ist. VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL 20 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>
A „DER ls Maurice Steger acht Jahre alt war, reichte es ihm. Nach nur wenigen Unterrichtsstunden flog der motorisch überforderte Junge aus dem Blockflötenunterricht und verbannte das Instrument im hintersten Winkel unter seinem Bett. Es hätte das frühe Ende einer musikalischen Karriere sein können. Wäre da nicht dieser einzigartige Klang der Flöte gewesen, ungeschminkt, klar und intim, der Steger auch in den folgenden Jahren nicht losließ. Während seine Flöte unter dem Bett ihr Dasein fristete, spielten seine Schulkameraden bald die ersten Stücke. Steger war begeistert und versuchte drei Jahre später abermals sein Glück – mit Erfolg. Schnell zeigte sich sein Talent, mit 15 wurde er Jungstudent an der Musikhochschule in Zürich, später studierte er bei Pedro Memelsdorff und Kees Boeke und startete direkt nach dem Studium eine einzigartige Karriere. Heute ist Maurice Steger einer der bekanntesten Interpreten überhaupt an der Blockflöte und hat dem Instrument zu neuer Blüte und Popularität verholfen. Die medialen Zuschreibungen sind zahlreich, und an Superlativen mangelt es nicht. Steger wird als „Superstar“ gehandelt, als „Paganini“ und „Hexenmeister“ – meist steht sein technisches Virtuosentum im Vordergrund. Steger selbst fühlt sich damit nicht immer wohl. „Ganz ehrlich – das nervt total“, sagt Steger und seufzt. „Ganz egal, was ich spiele, überall muss der Virtuose mit draufstehen. Ich kann es nicht mehr hören.“ Natürlich sei er vor allem mit solistischem Repertoire bekannt geworden, entsprechend „an vorderster Front unterwegs“ und medial präsent gewesen. „Das prägt natürlich ein bestimmtes Image“, so Steger und zuckt ratlos mit den Schultern. Es sei aber nur eine von vielen Facetten. Sein musikalisches Leben ist weitaus bunter und vielschichtiger, als es die Stempel vermuten lassen. Steger spielt und dirigiert, er lehrt und forscht und konzipiert erstklassige Festivals ebenso wie hervorragend aufbereitete Kinderkonzerte. Immer wieder wird er bei seinen Projekten auch zum musikalischen Schatzgräber, der in verschwiegene Bibliotheken abtaucht und längst vergessene Kostbarkeiten zutage bringt. An einem sonnigen Vormittag im April sitzt der 48-Jährige in einem Probenraum in der Bruckneruniversität in Linz. Zwischen unterschiedlichen Konzertprojekten gibt er hier für ein paar Tage einen Meisterkurs, wenig später wird er ein paar Räume weiter mit den Studenten über die Kunst der Phrasierung philosophieren, die Bedeutung der Spielanweisung „cantabile“ und die Geheimnisse des kammermusikalischen Dialogs. Steger ist ein energiegeladener und charismatischer Mann mit wachem Blick und impulsiver Gestik. Beseelt von der Musik und den Ausdrucksmöglichkeiten seines Instruments, scheinen seinem Tatendrang kaum Grenzen gesetzt. Diese Gestaltungskraft spiegelt sich auch in seinen Interpretationen. Federnd, lebendig und direkt kommt sein Spiel daher, wendig und spannungsvoll, füllig und schlank zugleich. Dass die Blockflöte mit Maurice Steger zu einem Höhenflug ansetzte, liegt neben Stegers Spiel auch an einer entscheidenden Weiterentwicklung im Flötenbau. „Ich bin schon früh mit Orchestern in großen Sälen aufgetreten. Da kommt man mit einer klassischen Blockflöte akustisch sehr schnell an die Grenzen. Die Frage war nun: Wie kann man den Klang, der ja ursprünglich für barocke Salons komponiert worden war, so übersetzen, dass er auch in großen Sälen funktioniert, ohne dass die barocke Substanz verloren geht?“ Die Lösung war eine „sanfte Erweiterung“, wie Steger sagt. In Zusammenarbeit mit dem Schweizer Blockflötenbauer Ernst Meyer entstanden voluminöse Blockflöten, bei denen der Windkanal geweitet ist und ein deutlich KLANG DER FLÖTE HAT ETWAS GANZ DIREKTES, UNGEKÜNSTELTES. MAN HÖRT DEN MENSCHEN“ größerer Ton möglich ist. „Diese Art von Spiel ist viel körperlicher“, sagt Steger. „Man braucht den ganzen Körper, das ist wie beim Singen, und es entstehen dadurch ganz andere Obertöne und eine völlig neue Dynamik. Damit kommt man in abenteuerliche Regionen“, sagt Steger und lacht. Was für ihn eine spannende Ergänzung war, sehen manche Blockflötisten mit Blick auf den historischen Originalklang durchaus kritisch. Und so gibt es mittlerweile verschiedene „Schulen“, die nur schwer miteinander vereinbar sind. Steger ist sich der Kritik durchaus bewusst, doch wenn es darum geht, große Hallen zu füllen, sind die modernisierten Flöten aus seiner Sicht die Zukunft. Stereotype und starre Regeln interessieren den Flötenmeister wenig. Das war schon im Blockflötenunterricht so. Heute gilt es mehr denn je. Ihm geht es um das möglichst unmittelbare und intensive Erleben von Musik. Die Flöten sind für Steger dabei ein „Spiegel der Seele“. Die Menge der Luft, die Temperatur, die Geschwindigkeit, die Dichte – alles ist von Bedeutung beim Spiel mit den Klangfarben, und nichts bleibt dabei verborgen. „Man kann sich dahinter nicht verstecken“, sagt Steger, und wenn Körper und Seele nicht im Einklang seien, funktioniere es nicht. Auch auf seinem neuen Album prangt marketingtauglich der „Virtuosen“-Stempel, doch wieder einmal trügt das simple Image. Unter dem Titel „Mr Handel’s Dinner“ vereint Steger darauf verschiedenste „Favorites“ von Händel und Zeitgenossen, die in den Pausen zwischen den einzelnen Akten der Oper gespielt wurden. „Das waren Stücke, die man gern hatte und die jeder kannte. Sie wurden von den Kindern auf dem Nachhauseweg gepfiffen – das muss man sich mal vorstellen“, sagt Steger. Ein Opernbesuch war zu jener Zeit nicht selten ein Tagesausflug. „Die Leute haben damals richtig viel Zeit im Theater verbracht, und die Pausen dauerten mehrere Stunden. Da musste man die Leute bei der Stange halten“, sagt der Flötist schmunzelnd. Entsprechend wurde gefeiert, gegessen und Musik gespielt. Die Oper selbst bot den Rahmen für dieses unterhaltsame Gesamterlebnis, und Steger ist es zusammen mit dem La Cetra Barockorchester Basel unter seiner Leitung gelungen, die genussvolle Sinnlichkeit und die bunte Atmosphäre von damals eindrucksvoll auf seinem Album nachzuempfinden. „Das war eine wahnsinnig spannende Zeit. Die Form der Oper war lange noch nicht so geschlossen wie heute. Händel hat zum Beispiel fast jede Arie auch für Blockflöten-Solo arrangiert und eine fantastische Vielfalt an Stücken geschaffen. Die Aufführung einer Oper war das Gegenteil der starren, steifen Konzertformen heute. Da wurde gefeiert und die einzelnen Arien waren wahre Hits, die man immer wieder hören wollte. Diesen Geist vermisse ich heute sehr“, so Steger. In seiner eigenen Arbeit versucht Steger, diesen Geist und diese Offenheit der Musik gegenüber immer wieder neu zum Leben zu erwecken. Bis heute ist es der Klang der Flöte, der den Schweizer stets aufs Neue zu Höchstleistungen anspornt. „Ich liebe diesen Klang!“, sagt Steger mit leuchtenden Augen. „Selbst wenn ein Erstklässler keine Ahnung von gar nichts hat, wirklich alles falsch macht und in eine Flöte reintutet, liebe ich diesen Klang. Er hat etwas ganz Direktes, Ungekünsteltes. Man hört den Menschen. Und man hört, wie der Mensch an sich arbeiten muss.“ n G. F. Händel: „Mr Handel’s Dinner“, Maurice Steger (Harmonia Mundi) Track 9 auf der <strong>CRESCENDO</strong> Abo-CD: A Ground von Gottfried Finger 21