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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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AUSGABE 01/20<strong>18</strong> FEBRUAR – MÄRZ 20<strong>18</strong><br />

www.crescendo.de<br />

7,90 EURO (D/A)<br />

PREMIUM<br />

AUSGABE<br />

inkl. CD<br />

PAAVO JÄRVI<br />

„Dirigenten reifen<br />

wie Rotwein“<br />

FILMMUSIK<br />

So klingen Mickey Mouse,<br />

Westernheld, Tramp und<br />

Jedi-Ritter!<br />

Sonya<br />

Yoncheva<br />

„Als Künstler muss man<br />

heute tough und robust sein!“<br />

B47837 Jahrgang 21 / 01_20<strong>18</strong><br />

BACHFEST LEIPZIG<br />

8. bis 17. Juni 20<strong>18</strong><br />

Der Leipziger Kantaten-Ring:<br />

das Bach-Ereignis 20<strong>18</strong> mit<br />

Sir John Eliot Gardiner,<br />

Ton Koopman, Masaaki Suzuki,<br />

Hans-Christoph Rademann u.a.


Exklusive Musikreisen<br />

mit der ZEIT<br />

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Freuen Sie sich mit ZEIT REISEN auf die musikalischen Höhepunkte des Sommers 20<strong>18</strong>!<br />

Unsere Musikexperten begrüßen Sie herzlich und haben ein spannendes Rahmenprogramm und<br />

interessante Begegnungen für Sie ausgewählt. Sichern Sie sich jetzt einen der begehrten Plätze!<br />

Bayreuther Festspiele<br />

Besuchen Sie die Bayreuther Festspiele mit der einmaligen<br />

Akustik des von Richard Wagner konzipierten Festspielhauses.<br />

Sichern Sie sich begehrte Karten für eine der Aufführungen.<br />

Gezeigt wird unter anderem Yuval Sharons Neuinszenierung<br />

des »Lohengrin«. Musikexperte Gregor Lütje begleitet Sie!<br />

Termin: 4. – 7.8.20<strong>18</strong> Preis: ab 3.745 €<br />

www.zeitreisen.zeit.de/bayreuthexklusiv<br />

Opernreise nach Graz und Maribor<br />

Graz, die traditionsreiche Hauptstadt der Steiermark, ist ein<br />

städtebauliches Juwel. Sie erleben in der Oper Tschaikowskis<br />

»Eugen Onegin« und im Stefaniensaal einen Liederabend mit<br />

René Pape. Anschließend fahren Sie ins slowenische Maribor, wo<br />

Sie bei Bellinis »La Sonnambula« Belcanto-Klängen lauschen.<br />

Termin: 12. – 16.4.20<strong>18</strong> ab 1.590 €<br />

www.zeitreisen.zeit.de/graz<br />

Holland Festival in Amsterdam<br />

Amsterdam im Juni – das Holland Festival versammelt internationale<br />

Stars der Klassik: Sehen Sie Erwin Schrott, Bryn Terfel<br />

und Simon Rattle in Konzert und Oper. Genießen Sie große<br />

Aufführungen im Concertgebouw und in der Niederländischen<br />

Oper. Ein Fest für Musikliebhaber! Welkom!<br />

Termin: 4. – 7.6.20<strong>18</strong> Preis: ab 1.530 €<br />

www.zeitreisen.zeit.de/amsterdam-musik<br />

Festspiele Baden-Baden<br />

Baden-Baden vereint französische Eleganz mit badischer Gastlichkeit.<br />

Erleben Sie mit Peter Davids Architektur und Lebensart<br />

der Belle Époque, die hier noch immer lebendig zum Vorschein<br />

kommen. Der perfekte Ort also, um Anna Netrebko in »Adriana<br />

Lecouvreur« sowie dem Mariinsky Orchester zu lauschen!<br />

Termin: 20. – 24.7.20<strong>18</strong> Preis: ab 2.290 €<br />

www.zeitreisen.zeit.de/baden-baden<br />

Fotos: Bayreuth Marketing & Tourismus GmbH; Jiyang Chen; Hans-Samsom; Vladimir Shirkov; Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg<br />

Wir beraten Sie gern! Ihre Ansprechpartnerin: Lena Böhlke 040/32 80-455<br />

www.zeitreisen.zeit.de/musikreisen


P R O L O G<br />

BILD – TON – MACHT<br />

WINFRIED HANUSCHIK<br />

Herausgeber<br />

Liebe crescendo-Leser,<br />

im Rahmen des #MeToo-Skandals um<br />

sexuelle Übergriffe von Prominenten ist<br />

nach Hollywood nun auch die Klassikwelt<br />

betroffen: Nach James Levine geriet<br />

Dirigent Charles Dutoit in den Fokus, der<br />

wegen Anschuldigungen durch mehre<br />

Künstlerinnen gerade sein Amt als<br />

Künstlerischer Direktor des Royal<br />

Philharmonic Orchestra niedergelegt hat.<br />

Die Dimension des Skandals macht<br />

mich sehr betroffen und lässt viele Fragen<br />

über Macht und Machtmissbrauch offen.<br />

Erschreckt hat mich aber auch die<br />

Undifferenziertheit, mit der die öffentliche<br />

Debatte vielfach geführt wird und bei der<br />

von Flirt bis schwerer Vergewaltigung<br />

alles in einem Topf landet – für die Opfer<br />

ein Hohn! Auf unserer Website<br />

www.crescendo.de finden Sie lesenswerte<br />

Essays unserer Kolumnisten Axel<br />

Brüggemann und Moritz Eggert zum<br />

Thema.<br />

Eine andere, eine positive Form der Macht<br />

in Form von Wirkmacht und emotionaler<br />

Kraft finden wir jenseits ihrer Produzenten<br />

in der Kunst selbst. Hier sind Hollywood,<br />

Off-Filmszene und Klassikwelt seit<br />

rund 100 Jahren eine großartige Symbiose<br />

eingegangen. Stellen Sie sich Ihren<br />

Lieblingsfilm einmal ohne Musik vor!<br />

Umgekehrt funktionieren viele Filmmusiken<br />

sogar ganz ohne ihre Bilder. Nicht<br />

umsonst füllen Filmmusikkonzerte große<br />

Säle und ganze Stadien und sind inzwischen<br />

fester Bestandteil des Repertoires.<br />

In unserem Themenschwerpunkt „Filmmusik“<br />

beschäftigen wir uns mit Shootingstars<br />

wie Ennio Morricone oder John<br />

Williams ebenso sehr wie mit der Kunst<br />

der Live-Improvisation zu Stummfilmen<br />

oder der deutschen Filmmusikszene etwa<br />

mit Konstatin Wecker, Haindling oder<br />

Newcomern wie David Reichelt.<br />

Als Künstler stellen wir ihnen unter<br />

anderem die faszinierende schottische<br />

Schlagzeugerin Evelyn Glennie vor, die –<br />

fast ganz ertaubt – mit ihrem Körper zu<br />

hören gelernt hat, aber auch den französischen<br />

Cellisten Gautier Capuçon und den<br />

estnischen Dirigenten Paavo Järvi.<br />

Für unseren Lebensart-Teil lassen wir Sie<br />

diesmal von Geiger Matthias Well<br />

bekochen und entführen Sie in den Süden<br />

ins Design-Paradies Mailand und mit<br />

Sevilla ins Herz Andalusiens.<br />

Mit herzlichen Grüßen<br />

FOTOS TITEL: KRISTIAN SCHULLER / SONY CLASSICAL; BACHFEST LEIPZIG<br />

An dieser Stelle<br />

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In der Premium-Ausgabe finden Sie nicht nur doppelt so viel Inhalt: mehr Reportagen, Porträts, Interviews und<br />

Hintergründe aus der Welt der Klassik – in einer besonders hochwertigen Ausstattung –, sondern auch unsere<br />

crescendo Abo-CD. Sie ist eine exklusive Leistung unseres crescendo Premium-Abonnements. Premium-Abonnenten<br />

erhalten sechs Mal jährlich eine hochwertige CD mit Werken der in der aktuellen Ausgabe vorgestellten Künstler.<br />

Mittlerweile ist bereits die 70. CD in dieser crescendo Premium-Edition erschienen.<br />

Ihr Winfried Hanuschik<br />

ONLINE PREMIUM-SERVICES:<br />

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212403<br />

w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong> 3


P R O G R A M M<br />

Sir Simon Rattle<br />

An Imaginary Orchestral Journey<br />

11<br />

CORNELIUS OBONYA<br />

Der österreichische Schauspieler<br />

und ehemalige Salzburger<br />

„Jedermann“ verriet uns seine<br />

private Playlist.<br />

26<br />

LISA BATIASHVILI<br />

Sie war elf, als ihre Eltern<br />

Georgien verließen, um ihr in<br />

Deutschland eine bessere<br />

Zukunft zu ermöglichen.<br />

29<br />

DANIEL<br />

MÜLLER-SCHOTT<br />

Für sein aktuelles Album<br />

adaptierte der Cellist Werke, die<br />

ursprünglich für andere Instrumente<br />

geschrieben wurden.<br />

<br />

‘Bahnbrechendes Temperament’<br />

BachTrack<br />

Begleiten Sie Sir Simon Rattle auf<br />

der Reise zu seinen Lieblingswerken<br />

von Joseph Haydn.<br />

Für weitere Informationen, besuchen<br />

Sie alwaysmoving.lso.co.uk/aioj und<br />

begeben Sie sich auf Ihre eigene,<br />

imaginäre Reise mit dem Orchester.<br />

Ab 2. Februar im Handel<br />

LSO0808 | Hybrid SACD<br />

note1-music.com<br />

lsolive.co.uk<br />

STANDARDS<br />

03 PROLOG<br />

Der Herausgeber stellt<br />

die Ausgabe vor<br />

06 BLICKFANG<br />

Guggenheim Museum<br />

Bilbao<br />

08 OUVERTÜRE<br />

Dr. Goeths Kuriosa<br />

Die lustige Welt der<br />

Spielanweisungen<br />

Ein Anruf bei …<br />

Ricarda Fuss<br />

Ensemble<br />

Mit unseren Autoren<br />

hinter den Kulissen<br />

Klassik in Zahlen<br />

Playlist<br />

Cornelius Obonya<br />

28 MELDUNGEN<br />

Mariss Jansons, Nicholas<br />

Milton, Alexandre Desplat,<br />

Christian Thielemann<br />

35 IMPRESSUM<br />

42 RÄTSEL &<br />

LESERBRIEFE<br />

82 HOPE TRIFFT …<br />

Albrecht Mayer<br />

KÜNSTLER<br />

12 EIN KAFFEE MIT …<br />

Robert Menasse<br />

14 PAAVO JÄRVI<br />

Über Estland als Fenster zu<br />

Europa und die Kunst des<br />

Loslassens<br />

16 EVELYN GLENNIE<br />

Die fast ganz ertaubte<br />

Star-Schlagzeugerin hört<br />

mit ihrem Körper<br />

20 GAUTIER CAPUÇON<br />

Wenn er Cello spielt, wird<br />

jeder Muskel zum Spiegel<br />

der Emotion<br />

22 SONYA YONCHEVA<br />

Als Künstler braucht man<br />

heute ein dickes Fell!<br />

25 HIYOLI TOGAWA<br />

Der jungen Bratscherin<br />

geht es um Innerlichkeit<br />

und Ausdruckskraft<br />

26 LISA BATIASHVILI<br />

Sie spielt georgische Musik,<br />

damit die Menschen ihr<br />

Land kennenlernen<br />

HÖREN & SEHEN<br />

29 DIE WICHTIGSTEN<br />

EMPFEHLUNGEN DER<br />

REDAKTION<br />

30 ATTILAS AUSWAHL<br />

Top-Nachwuchs und<br />

Klassiker ganz neu<br />

38 UNERHÖRTES &<br />

NEU ENTDECKTES<br />

Gottfried von Einem<br />

40 BAGLAMA<br />

Die Mystik der türkischen<br />

Langhalslaute<br />

EXKLUSIV<br />

FÜR ABONNENTEN<br />

Hören Sie die Musik zu<br />

unseren Texten auf der<br />

crescendo Abo-CD –<br />

exklusiv für Abonnenten.<br />

Infos auf den Seiten 3 & 54<br />

FOTOS: NANCY HOROWITZ; SAMMY HART; UWE ARENS<br />

4 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


›Die kleinen<br />

Bassgiganten‹<br />

Audio Test 4/17<br />

52<br />

BACHFEST LEIPZIG<br />

Mit mehr als 160 Veranstaltungen<br />

greift das Festival tief<br />

in die Schatzkiste des<br />

barocken Großmeisters.<br />

55<br />

FILMMUSIK<br />

Mickey Mouse, Westernheld,<br />

Sternenkrieger und Massenmörder<br />

– so bekommen sie<br />

ihre Musik.<br />

73<br />

DESIGN-MEKKA<br />

MAILAND<br />

Surrealistische Wohnobjekte<br />

und Möbel-Ikonen aus den<br />

70er-Jahren im Herzen der<br />

Lombardei.<br />

ERLEBEN<br />

SCHWERPUNKT<br />

LEBENSART<br />

43 DIE WICHTIGSTEN<br />

TERMINE UND<br />

VERANSTALTUN-<br />

GEN IM HERBST<br />

55 FILMMUSIK<br />

Von der Kinoorgel der<br />

Stummfilmzeit bis zur<br />

Blockbuster-Sinfonie<br />

72 WEINKOLUMNE<br />

John Axelrod über den<br />

Rebensaft für echte<br />

Jedi-Ritter<br />

FOTOS: ANDREAS BITESNICH; FORNASETTI<br />

50 KURT WEILL FEST<br />

DESSAU<br />

„Weill auf die Bühne!“, er ist<br />

der musikalische Superheld<br />

des „kleinen Manns“<br />

52 BACHFEST<br />

LEIPZIG<br />

Der berühmte Thomaskantor<br />

hatte eine Liebe für<br />

opulente Zyklen<br />

53 FAUST FESTIVAL<br />

MÜNCHEN<br />

Über 500 Veranstaltungen<br />

– eine Stadt im<br />

Faust-Fieber!<br />

59 QUIZ<br />

Wie gut kennen Sie die<br />

Welt der Filmmusik?<br />

60 DAVID REICHELT<br />

Im Studio des Deutschen<br />

Filmmusikpreisträgers<br />

62 STUMMFILM MIT<br />

LIVEMUSIK<br />

Orgelimprovisation live<br />

zur Leinwand<br />

64 FLIMMERFIEBER<br />

Filmmusikkomponisten<br />

im Kurzinterview<br />

67 WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH …<br />

... die Musik im Film?<br />

68 GROSSES HÖRKINO<br />

Die aktuellsten Filmmusikalben<br />

und mehr<br />

70 KOMMENTAR<br />

Axel Brüggemann über<br />

den neuen Mut der<br />

Musikfilmwelt<br />

73 DESIGN-MEKKA<br />

MAILAND<br />

Gelebtes Stilbewusstsein<br />

im Hotel Gallia und bei<br />

Fornasetti<br />

76 STARS KOCHEN<br />

FÜR <strong>CRESCENDO</strong><br />

Geiger Matthias Well mit<br />

Saltimbocca<br />

78 SEVILLA<br />

Flamenco, Stierkampf und<br />

maurische Paläste mit<br />

Dirigent John Axelrod<br />

Made in<br />

Germany<br />

8/17<br />

EMPFEHLUNG<br />

KONZEPT/GRÖSSE<br />

›Traumlautsprecher, die nicht viel kosten …<br />

bassstark, erstaunlich viel Panorama<br />

für die kompakte Bauweise …<br />

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5<br />

Mehr Klangfaszination


O U V E R T Ü R E<br />

Strahlende<br />

Kurven<br />

2017 feierte das Guggenheim Museum<br />

Bilbao nicht nur seinen 20. Geburtstag,<br />

sondern räumte auch den Hauptpreis beim<br />

Europäischen Kulturmarken-Award ab. Zur Feier<br />

bespielten die Videokünstler von 59 Productions<br />

die berühmte, geschwungene Titanfassade<br />

des Kultgebäudes von Frank Gehry mit<br />

gigantischen Projektionen. 300.000 Besucher<br />

ließen sich von der Show<br />

„Reflections“ beeindrucken<br />

– kostenlos!<br />

6 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


7<br />

FOTO: GUGGENHEIM MUSEUM BILBAO


O U V E R T Ü R E<br />

Dr. Goeths Kuriosa<br />

DIE LUSTIGE WELT DER<br />

VORTRAGSBEZEICHNUNGEN<br />

Seit man Musik aufschreibt, erleichtern Vortragsbezeichnungen die Interpretation.<br />

Sie liefern zusätzliche Informationen über empfohlene Lautstärke<br />

(piano, forte), Geschwindigkeit (moderato, presto), Artikulation (staccato,<br />

legato) oder Spieltechnik (glissando, pizzicato). Im romantischen<br />

Überschwang des 19. Jahrhunderts wurden die Vortragsbezeichnungen<br />

immer länger und blumiger, etwa bei Richard Wagner.<br />

Diesen Trend nahm der französische Komponist Erik Satie auf die<br />

Schippe. Hier eine Auswahl seiner schönsten Spielanweisungen:<br />

➼ „Ändern Sie nicht Ihren Gesichtsausdruck.“<br />

(Les trois Valses distinguées)<br />

➼ „Erbleichen Sie in der Magengrube.“ (Ebd.)<br />

➼ „Seien Sie perplex.“ (Trois Poèmes d’amour)<br />

➼ „mit tränenerstickten Fingern“ (Ebd.)<br />

➼ „wie eine Nachtigall mit Zahnschmerzen“<br />

(Embryones desséchés)<br />

➼ „Benehmen Sie sich bitte: Ein Affe schaut Ihnen zu.“<br />

(Le Piège de Méduse)<br />

➼ „Denken Sie über sich selbst nach.“ (Six Gnossiennes)<br />

➼ „Gehen Sie nicht weg.“ (Ebd.)<br />

Und Paul Hindemith weist in seiner Solosonate für Bratsche an:<br />

➼ „Rasendes Zeitmaß. Wild.<br />

Tonschönheit ist Nebensache.“<br />

Als „Anmerkung für den Zuhörer und den Leser dieser Partitur“ notiert<br />

er zu seiner Kurzoper „Das Nusch-Nuschi“:<br />

ZITAT<br />

DES MONATS<br />

„ES SCHWINDEN<br />

JEDES KUMMERS FALTEN,<br />

SOLANG DES LIEDES<br />

ZAUBER WALTEN.“<br />

FRIEDRICH SCHILLER<br />

➼ „Folgende ,Choralfuge‘ … verdankt ihr Dasein lediglich<br />

einem unglücklichen Zufall: Sie fiel dem Komponisten<br />

ein. Sie bezweckt weiter nichts als dies: sich stilvoll in<br />

den Rahmen dieses Bildes zu fügen und allen ,Sachverständigen‘<br />

Gelegenheit zu geben, über die ungeheure<br />

Geschmacklosigkeit ihres Schöpfers zu bellen. Halleluja!<br />

– Das Stück muss in der Hauptsache von zwei Eunuchen<br />

mit ganz ungeheuer dicken nackten Bäuchen getanzt<br />

(gewackelt) werden“.<br />

Erwin Schulhoff widmet seine Ironien für Klavier vierhändig „allen<br />

Cholerikern“ und versieht seine Bassnachtigall für Kontrafagott mit<br />

einem dadaistischen Gedicht, in dem es heißt:<br />

➼ „Für Allgemeinverständlichkeit als Bekenntnis: Der göttliche<br />

Funke kann wie in einer Leberwurst auch in einem<br />

Kontrafagott vorhanden sein.“<br />

HÄTTEN SIE’S GEWUSST?<br />

Rollschuhe verdanken ihre Erfindung<br />

dem Theater! Um das<br />

Schlittschuhlaufen auf der Bühne<br />

zu imitieren, sollen in London<br />

bereits 1743 Rollschuhe<br />

eingesetzt worden sein. Um<br />

1760 wurden sie dann vom<br />

belgischen Instrumentenbauer<br />

und Geiger Jean-Joseph Merlin mit<br />

drei hintereinander montierten Laufrollen am<br />

Schuh perfektioniert. Bei einem Maskenfest spielte Merlin selbst<br />

rollschuhlaufend Geige – weil er weder bremsen noch Kurven<br />

fahren konnte, krachte er in eine Spiegelwand und verletzte sich<br />

und sein Instrument dabei schwer.<br />

FOTO: THE CHILDRENS MUSEUM OF INDIANAPOLIS<br />

8 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


O U V E R T Ü R E<br />

KLASSIK<br />

IN ZAHLEN<br />

135<br />

Vorstellungen spielten die New Yorker<br />

Philharmoniker im Jahr 2017. Damit sind<br />

sie laut Statistik des Portals Bachtrack<br />

das fleißigste Orchester der Welt.<br />

8.076<br />

Musiker kamen im Dezember 2017 im Seouler<br />

Gocheok Sky Dome zusammen, um neben<br />

koreanischen Werken Elgars Pomp and<br />

Circumstances zu spielen. Weltrekord für das<br />

größte Orchester!<br />

71 Mio.<br />

Australische Dollar (rund 47 Mio. Euro)<br />

kostete die Renovierung des berühmten<br />

Opernhauses in Sydney. Es wurde am<br />

7. <strong>Januar</strong> nach sechsmonatigem Umbau<br />

wiedereröffnet.<br />

212<br />

Mal wird der stampfende, dissonante Akkord<br />

am Anfang in Strawinskys<br />

„Le Sacre du Printemps“ wiederholt.<br />

NEWSTICKER<br />

Horn-Flashmob: Am 9.2. lädt das Festival Carnaval du Cor zum riesigen Horn-Flashmob auf den Münchner Marienplatz ein: Um 16.30 Uhr<br />

treffen sich Hornisten aller Art, um den Pilgerchor aus Tannhäuser und Der Mond ist aufgegangen zu musizieren. +++ #MeToo: In der öffentlichen<br />

Diskussion um sexuelle Übergriffe Prominenter geriet neben James Levine nun auch der Schweizer Dirigent Charles Dutoit in den Fokus: Nach<br />

Missbrauchsvorwürfen mehrerer Künstlerinnen trat Dutoit als Künstlerischer Direktor des Royal Philharmonic Orchestra zurück. +++ Zubin<br />

Mehta sagt ab: Wegen einer Schulteroperation muss der 81-jährige indische Star-Dirigent bis <strong>März</strong> pausieren. Seine Konzerte mit den Berliner<br />

Philharmonikern übernehmen in Berlin Bernard Haitink und beim Gastspiel im Leipziger Gewandhaus Vasily Petrenko. +++ Mariss Jansons ist<br />

nun auch eine Tulpe: Zum 75. Geburtstag des lettischen Dirigenten Mariss Jansons (siehe auch S. 28) benannten Blumenzüchter aus Lettland<br />

und den Niederlanden eine neue Tulpensorte nach ihm. Sie blüht in kräftigem Orange mit gelbem Rand.<br />

9


O U V E R T Ü R E<br />

Als Saxofonistin in Saudi-Arabien<br />

Ein Anruf bei Ricarda Fuss vom Arcis Saxophon Quartett,<br />

die sich als unverheiratete Frau auf eine Tournee nach Saudi-Arabien begab.<br />

FOTOS: PRIVAT<br />

Fast platzte die Tournee, weil<br />

Ricarda Fuss vom Arcis Saxophon<br />

Quartett eine alleinreisende Frau ist.<br />

crescendo: Frau Fuss, gerade kommen Sie<br />

von einer Tournee mit vier Konzerten in<br />

Saudi-Arabien zurück. Wie kam es dazu?<br />

Ricarda Fuss: Im Sommer hatten wir auf NDR<br />

Kultur einen kleinen Radiobeitrag. Der deutsche<br />

Generalkonsul in Tschidda stand – gerade<br />

auf Deutschlandbesuch – auf der Autobahn im<br />

Stau, hörte uns und war so begeistert, dass er<br />

uns sofort formlos auf Facebook anschrieb und<br />

zu Konzerten in Saudi-Arabien einlud.<br />

Wie aufwendig war es mit den Papieren?<br />

Für den Konsul war es ein Riesenaufwand, er<br />

musste mehrere Instanzen durchlaufen. Weil<br />

ich eine Frau und unverheiratet bin und somit<br />

keinen männlichen Vormund habe. Tourismus-Visa<br />

gibt es nicht. Wir mussten zur<br />

Botschaft in Berlin und haben erst wenige<br />

Stunden vorher Bescheid bekommen, dass es<br />

klappt. Fast wäre es schiefgegangen!<br />

Wie war es vor Ort?<br />

Am Flughafen wurde mir eine Abaya gebracht, ein bodenlanges islamisches<br />

Gewand. Das musste ich im öffentlichen Raum anziehen.<br />

Ein Kopftuch musste ich nicht tragen, das ist seit circa einem Jahr<br />

keine Pflicht mehr. Das Hotel- und Konzertpublikum war sehr international.<br />

Aber wir sind viel spazieren gegangen. Da fielen wir natürlich<br />

auf, da etwa 95 Prozent der Frauen vollverschleiert sind. Allein<br />

herumzulaufen hätte ich mich nicht getraut.<br />

Wissen Sie die Freiheit in Europa jetzt mehr zu schätzen?<br />

Nach einer Woche war ich total froh, wieder hier zu sein und meine<br />

Freiheit zu genießen. Obwohl ich das mit<br />

der Abaya anfangs nicht so schlimm fand, hat<br />

es mich irgendwann doch gestresst, immer<br />

gleich auszusehen und bei 30 Grad darunter<br />

zu schwitzen. Sich selbst morgens auszusuchen,<br />

was man trägt, ist Ausdruck der eigenen<br />

Persönlichkeit! Im Hotel war ein sehr schöner<br />

Pool- und Spa-Bereich – nur für Männer. Während<br />

die anderen am Pool lagen, musste ich im<br />

Hotelzimmer sitzen! Dennoch war es eine tolle<br />

Erfahrung, diese Kultur kennenzulernen.<br />

Schon in Deutschland sind Sie als Saxofonistin<br />

die Minderheit …<br />

Mir selbst fällt das gar nicht so auf. Wobei nach<br />

Konzerten regelmäßig Zuhörer – meistens ältere<br />

Herrschaften – kommen und fragen, wie<br />

ich als Frau die Kraft habe, so ins Saxofon zu<br />

blasen, was mit Geschlecht und Körperbau gar<br />

nichts zu tun hat. Aber in den Köpfen der Leute<br />

sind Blasinstrumente eher was für Männer.<br />

Auch als Ensemble, das Saxofon mehr in der klassischen Musik<br />

etablieren will, sind Sie Teil einer Minderheit …<br />

Ja, es gibt nur sehr wenige klassische Werke für Saxofonquartett.<br />

Nach wie vor wissen die Leute nicht, was sie in unseren Konzerten<br />

erwartet. Sie kommen mit falschen Erwartungen – Saxofon verbinden<br />

die meisten hauptsächlich mit Jazz – oder gar keinen. In jedem<br />

Fall ist es immer eine Überraschung … und wir haben nach dem<br />

Konzert noch nie eine negative Stimme dazu gehört! ■<br />

Infos zum Arcis Saxophon Quartett unter www.arcissaxophonquartett.de<br />

HINTER DER BÜHNE<br />

Die Welt von crescendo lebt von den Künstlern und Mitarbeitern,<br />

die sie mit Leben füllen. Deshalb der gewohnte Blick hinter die Kulissen der Produktion.<br />

GUIDO KRAWINKEL<br />

Guido Krawinkel schreibt über alles, was mit Musik zu tun hat. Dem Studium der<br />

Musikwissenschaften in Bonn folgten Tätigkeiten in der Tonträgerbranche, beim Radio<br />

und im Verlagswesen sowie eine Ausbildung zum nebenberuflichen Kirchenmusiker.<br />

Als freier Journalist arbeitet Guido Krawinkel für Zeitungen, Zeitschriften und<br />

Konzerthäuser, schreibt Rezensionen, CD-Booklets und Programmeinführungen und<br />

ist Mitglied in der Jury des Preises der Deutschen Schallplattenkritik. Der begeisterte<br />

Chorsänger hält es mit Loriot: Ein Leben ohne Chor ist möglich, aber sinnlos.<br />

DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Dorothea Walchshäusl ist Musikjournalistin und promovierte Politologin. Sie lebt und<br />

arbeitet in Passau. Den Mensch im Blick, die Musik im Ohr und das Gefühl in den<br />

Fingerspitzen, fasziniert die freie Autorin all das, was die Menschen im Kleinen wie im<br />

Großen bewegt und berührt.<br />

Für crescendo schreibt sie seit 2014 und erforscht in ihren Porträts und Reportagen mit<br />

Leidenschaft, warum sich Menschen mit Haut und Haar der Musik verschreiben.<br />

10 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


PLAYLIST<br />

Er war der Salzburger „Jedermann“ und tritt regelmäßig am Wiener Burgtheater<br />

auf. Uns verrät der österreichische Schauspieler Cornelius Obonya, welche Musik<br />

ihn privat berührt und inspiriert.<br />

FOTO: NANCY HOROWITZ<br />

1. Samuel Barber: Adagio for Strings<br />

Ich habe das Stück geschenkt bekommen, als ich zwölf Jahre alt war, und konnte überhaupt<br />

nichts damit anfangen: zu ernst, zu langsam. Dann wurde ich pubertär. Da hat’s dann eingeschlagen.<br />

Seitdem mein liebster Track fürs Gefühl! Es wurde direkt nach der Nachricht<br />

vom Tod des US-Präsidenten Theodore Roosevelt im Radio gespielt. Das hat den Ruhm<br />

des Stückes unendlich vermehrt . Und es passt: Ausdruck der großen Trauer nach dem<br />

Tod des Mannes, der Amerika durch den Krieg brachte.<br />

2. Leonard Bernstein: Ouvertüre zu „Candide“<br />

Ich mag Exaltiertheit, Tempo und die wunderbare Geschichte dahinter. Warum auch immer,<br />

aber ich höre es gerne bei der Vorstellung, durch eine Winterlandschaft zu fliegen.<br />

Den verrückten Klang, die kleinen Turbulenzen, die in mir ausgelöst werden, habe ich immer<br />

genossen und genieße sie noch immer.<br />

3. Eminem<br />

Eminem hat die harte Poesie, die diese Welt und die Zustände in ihr richtig beschreibt. Rap<br />

sollte als Lyrik anerkannt werden, er hätte es schon lange verdient. Und immer wieder ist<br />

es Eminem, der die Musik dazu schreibt, macht, spricht, die mein Herz höherschlagen lässt.<br />

4. Tom Waits: Chocolate Jesus<br />

Erst meine Frau hat mich auf Tom Waits gebracht. Ich kannte ihn vom Namen her und hatte<br />

immer begeistert über ihn reden gehört, hauptsächlich von Kollegen an der Schaubühne<br />

im Berlin der 90er. Aber Waits hatte bei mir nie gezündet. Dann kam meine Frau, und der<br />

Kopf ging auf für diese Art von Humor. Ganz besonders für dieses Stück, das dem internatsgeschädigten<br />

Mann gezeigt hat, was subversiver Witz wirklich ist. Tom Waits ist heilig.<br />

5. Ennio Morricone: Soundtrack zu<br />

„Es war einmal in Amerika“<br />

Einer der schönsten Filme, die jemals eine Leinwand geadelt haben.<br />

Und diese Musik beherrscht die Geschichte, die erzählt wird, das Jahrhundert,<br />

in dem sie spielt, und die Seele, in die dieser Film eindringt,<br />

wie ein kaltes Messer in warmes Fleisch. Sie begleitete mich durch<br />

diese Geschichte, durch die Menschen, die der Film beschreibt, durch<br />

alles. Sehnsucht nach Amerika, Abscheu vor Amerika, Liebe und Tod,<br />

Freude und Wollust in Amerika. Einmalig. Einzig. Ewig.<br />

Heinrich Heine, Robert Schumann: „Das lyrische Intermezzo“,<br />

Klemens Sander, Cornelius Obonya, Uta Sander (Ars Produktion)<br />

Track 8 & 9 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Dein Angesicht von Schumann & Sie saßen und tranken<br />

am Teetisch von Heine<br />

BEETHOVEN &<br />

SCHOSTAKOWITSCH<br />

DER ZYKLUS SÄMTLICHER SINFONIEN<br />

MIT DER DRESDNER PHILHARMONIE UND<br />

MICHAEL SANDERLING<br />

Mit den beiden „Erstlingen“, den Sinfonien<br />

Nr. 1 von Ludwig van Beethoven und<br />

Dmitri Schostakowitsch, legen Chefdirigent<br />

Michael Sanderling und die Dresdner<br />

Philharmonie nach der Veröffentlichung<br />

der beiden Sechsten sowie der Dritten von<br />

Beethoven und Zehnten von Schostakowitsch<br />

bereits die dritte CD der Gesamteinspielung<br />

aller Sinfonien beider Meister vor.<br />

Beethoven:<br />

Sinfonie Nr. 1 C-Dur op. 21<br />

Schostakowitsch:<br />

Sinfonie Nr. 1 f-Moll op. 10<br />

Michael Sanderling | Dirigent<br />

Dresdner Philharmonie<br />

11<br />

dresdnerphilharmonie.de


K Ü N S T L E R<br />

Auf einen Kaffee mit …<br />

ROBERT MENASSE<br />

VON DANIEL WINDHEUSER<br />

„MIT DER MUSIK VON SCHUBERT<br />

WEINE ICH MICH FREI“<br />

FOTO: ALEXANDER PROBST<br />

12 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Robert Menasse (*1954) ist ein österreichischer Schriftsteller<br />

und Essayist. Für seinen Europaroman „Die Hauptstadt“ wurde<br />

er 2017 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.<br />

crescendo: Herr Menasse, am Beginn Ihres neuen Romans<br />

„Die Hauptstadt“ wird eine Sau durch Brüssel getrieben.<br />

Was hat es mit diesem Tierchen auf sich?<br />

Robert Menasse: Dieses Tierchen ist metaphorischer Natur<br />

und deckt vom Glücksschwein bis zur Drecksau alles ab. Man<br />

kann von Gut bis Böse alles mit ihm in Beziehung setzen. Es<br />

kann als Schweinchen Schlau für Intelligenz stehen, ebenso<br />

wie es als Schimpfwort für politische Gegner genutzt werden<br />

kann. Zudem stimmen 98,8 Prozent seines Genmaterials mit<br />

dem des Menschen überein, was mich auf einer weiteren<br />

Ebene dazu gereizt hat, das Schwein im Prolog der „Hauptstadt“<br />

auftreten zu lassen, in dem die Leser zum ersten Mal<br />

den Protagonisten begegnen.<br />

Ich hatte zu dieser Szene sofort Musik im inneren Ohr –<br />

zum Beispiel Zirkusmelodien. Lassen Sie uns über den<br />

Stellenwert von Musik in Ihrem Leben sprechen.<br />

Ich bin natürlich ein großer Musikliebhaber, aber das allein ist<br />

ja eher uninteressant. Interessant in diesem Zusammenhang<br />

ist vielleicht eines: Ich bin, glaube ich, einer der ganz wenigen<br />

Autoren, die mit Musik schreiben. Ich sitze also nicht in<br />

einem stillen Raum und schreibe, sondern ich sitze in einem<br />

Raum, in dem ich Musik spiele<br />

oder Musik auflege, die in<br />

irgendeinem Zusammenhang<br />

steht mit dem, was ich schreibe.<br />

Die wähle ich mir als Soundtrack<br />

zu meiner Prosa aus.<br />

Sehr interessant!<br />

Ich weiß von vielen Kollegen,<br />

dass das extrem selten ist. Aber<br />

bei mir ist das, glaube ich, fast<br />

seit den Anfängen meines<br />

Schreibens ein Ritual. Und – ich<br />

nenne es tatsächlich auch so<br />

– das ist der Soundtrack, die<br />

Filmmusik zu dem, was sich bei<br />

mir im Kopf abspielt, was ich als<br />

Film sehe, wenn ich zu schreiben beginne. Und die moderne<br />

Technologie ist mir da auch sehr entgegengekommen, früher<br />

musste ich mir mühsam eine Platte auflegen.<br />

Heute machen Sie sich Playlists?<br />

Genau. Das ist sehr hilfreich. Auch die Einfachheit, mit der<br />

man viel größere Sammlungen anlegen kann, als es vorher mit<br />

Plattenkäufen möglich war. Ich arbeite also immer mit Musik,<br />

und dann habe ich noch eigene Playlists, um nach dem<br />

Schreiben wieder „runterzukommen“. Bei denen ich mich<br />

danach entspanne, ein Glas Wein trinke und einen Zigarillo<br />

rauche und meine Gedanken sozusagen auf den Wogen von<br />

bestimmten Musiktiteln verwehen lasse.<br />

In schriftstellerischem Kontext ist das wirklich exotisch.<br />

Andererseits aber total nachvollziehbar.<br />

Ja, und man darf nicht vergessen, dass ich in einer Zeit zu<br />

schreiben angefangen habe, in der ich auch leidenschaftlich<br />

Daniel Windheuser im Interview mit Robert Menasse.<br />

gern ins Kino gegangen bin; und ins Kino zu gehen noch<br />

allgemein eine größere Bedeutung hatte. Kinofilme sind auch<br />

Narrative und immer mit Musik verbunden.<br />

Haben Sie ein konkretes Beispiel? Was lief beim Verfassen<br />

Ihres Romans „Die Hauptstadt“, für den Sie gerade mit dem<br />

Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurden, für ein<br />

Soundtrack?<br />

Da könnte ich vieles nennen, auch dafür habe ich diverse<br />

Playlists gemacht. Besonders begleitet hat mich beim Schreiben<br />

der „Hauptstadt“ zum Beispiel die Gruppe Apocalyptica.<br />

Ach was?<br />

Das klingt jetzt dramatisch. Wenn Sie Apocalyptica nicht<br />

kennen, mag es zynisch scheinen, wenn ich die EU beschreibe<br />

und eine Erzählung verfasse über Menschen, die in diesem<br />

Kontext arbeiten, und das von einer Band dieses Namens<br />

begleitet wird.<br />

Mir ist die Band bekannt.<br />

Ah, schön. Jedenfalls eine verdammt gute finnische Gruppe,<br />

bestehend aus vier Cellisten. Das Cello ist überhaupt mein<br />

Lieblingsinstrument. Cello und Querflöte, davon habe ich<br />

ganze Sammlungen. Da können Sie nehmen, was Sie wollen,<br />

und liegen bei mir richtig.<br />

Außerdem – auch das klingt<br />

irgendwie komisch im Zusammenhang<br />

mit der Europäischen<br />

Union – habe ich die Band<br />

Element of Crime sehr zu<br />

schätzen gelernt.<br />

Oh, die mag ich auch sehr,<br />

zumindest die frühen Alben.<br />

Es ist erstaunlich, dass die<br />

großen, für mich sehr produktiven<br />

Soundtracks meines<br />

Denkens immer so martialische<br />

Titel haben. No Borders, No<br />

Nations beispielsweise noch.<br />

Vor allem in letzter Zeit<br />

begleitet mich solche Musik.<br />

Und nach dem Schreiben, gibt es dann einen wahrnehmbaren<br />

Unterschied in der Musik?<br />

Ja. Da lege ich mir meistens meine ganz alten – jetzt hätte ich<br />

fast „Schellacks“ gesagt – Vinylplatten auf. Ich habe einfach<br />

sehr schöne Aufnahmen, zum Beispiel von Bach. Für die<br />

Post-Schreib-Phase schätze ich auch Vivaldi sehr. Und ich<br />

habe ein großes „Problem“ mit einem Komponisten, der mich<br />

sehr berührt, aber den ich auf eine fast selbstzerstörerische<br />

Weise nur spiele, wenn ich gerade eine Krise<br />

habe und nicht schreiben kann – und zwar ist<br />

das Schubert, und mit dem weine ich mich<br />

dann frei.<br />

Robert Menasse: „Die Hauptstadt“ (Suhrkamp)<br />

■<br />

13


K Ü N S T L E R<br />

DIRIGENTEN SIND<br />

WIE ROTWEIN<br />

Über die Kunst des Reifens, die Verlockung Estlands und die Kraft<br />

musikalischer Brückenschläge – ein Gespräch mit Dirigent Paavo Järvi.<br />

VON BARBARA SCHULZ<br />

crescendo: Herr Järvi, Sie haben einmal gesagt, man müsse<br />

logisch an ein Werk herangehen. Ist das Ihre Art zu interpretieren?<br />

Paavo Järvi: Nicht unbedingt. Aber Musik hat eine innere Logik,<br />

die muss man verstehen. Natürlich gibt es nichts Langweiligeres als<br />

die pedantische, analytische Aufführung eines Werks. Und man<br />

kann es hören, wenn ein Dirigent die innere Logik eines Stücks<br />

nicht verstanden hat. Jeder Komponist schreibt ein Stück mit einer<br />

genauen inneren Logik im Kopf, das muss man als Dirigent<br />

wissen. Als Hörer nicht. Denn in der Aufführung selbst passiert<br />

das Gegenteil: Es soll natürlich und organisch sein und nicht<br />

akademisch.<br />

Sie haben ursprünglich Schlagzeug gelernt. Hilft das beim<br />

Dirigieren?<br />

Ja, Rhythmus ist das Wichtigste in der Musik überhaupt. Das gilt<br />

für alle Musiker. Damit meine ich nicht das klassische Taktschlagen,<br />

sondern dass man diesen inneren Sinn für Rhythmus im Blut<br />

haben muss. Ein Orchester, das rhythmisch nicht völlig klar ist,<br />

kann auch die Essenz von Musik nicht transportieren, egal, ob bei<br />

Wagner, Beethoven, Strawinsky oder in der Barockmusik.<br />

Noch ein Zitat von Ihnen: „Dirigenten werden mit den Jahren<br />

wie Rotwein immer besser“ …<br />

Definitiv. Dirigieren ist kein Job, es ist ein echter Beruf – im besten<br />

Sinne. Und Erfahrung ist essenziell! Es geht um Weisheit. Und für<br />

die muss man Erfahrungen und Fehler machen. Musikalische,<br />

vielleicht auch persönliche. Ein Beispiel: Bernard Haitink. Er<br />

macht nicht viel, nur sehr kleine, konzentrierte, fast minimalistische<br />

Bewegungen – und doch macht er alles. Er hat so viel<br />

Erfahrung, Weisheit und Wissen, wie man etwas formen und<br />

gestalten muss. Das hilft, die Dinge anders zu sehen. Ja, irgendwie<br />

ist es ein Beruf für die zweite Lebenshälfte.<br />

Und was ist mit Champagner?<br />

Je älter ich werde, umso notwendiger finde ich es in der Musik,<br />

Spaß zu haben, zu genießen, loszulassen – eines der schwersten<br />

Dinge überhaupt. Hat man ein Orchester vor sich und etwa 3.000<br />

Leute hinter sich, dann ist Loslassen ein ziemlich riskantes<br />

Geschäft. Es aber nicht zu tun, ist auch nicht der ultimative Weg zu<br />

„HAT MAN EIN ORCHESTER VOR<br />

UND 3.000 LEUTE HINTER SICH, IST LOSLASSEN<br />

EIN RISKANTES GESCHÄFT“<br />

einer guten Aufführung. So ist es ein persönlicher innerer Kampf,<br />

wie sehr man es kann und will. Natürlich auch eine Frage dessen,<br />

wie eng die Beziehung mit dem Orchester ist. Mit dem eigenen<br />

lässt man sich auf andere Risiken ein als mit einem, das man nicht<br />

kennt. Es ist eine komplett andere Art zu dirigieren.<br />

Was ist mit den nationalen Unterschieden von Orchestern?<br />

Es ist unmöglich, von der Gesellschaft, in der man lebt, nicht<br />

beeinflusst zu sein. Insofern besteht offensichtlich eine Beziehung<br />

zwischen der Tatsache, aus welcher Kultur das Orchester kommt<br />

und wie es funktioniert. Gleichzeitig gibt es natürlich sehr<br />

integrative und gemischte Orchester – ein Mikrokosmos, in dem<br />

ein ganz eigener Sound kreiert wird.<br />

Wie bei dem von Ihnen gegründeten Estonian Festival Orchestra …<br />

14 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Paavo Järvi mit seinem Estonian Festival Orchestra<br />

FOTOS: KAUPO KIKKAS<br />

Das Orchester ist einzigartig für mich, weil es ein Herzensprojekt<br />

ist: Ich bin Este, ich bin weggegangen aus Estland und wiedergekommen.<br />

Ich glaube, ich kann nützlich sein, um Estland und seine<br />

Musiker populärer zu machen. Estland ist so klein, aber seine<br />

geographische Lage ist fantastisch. So viele Menschen wollten dieses<br />

Stück Land haben. Wir waren besetzt von den Schweden, den<br />

Dänen, zweimal von den Russen, zweimal von den Deutschen.<br />

Jeder im finnischen Krieg wollte diesen Zugang zum baltischen<br />

Meer, dieses Fenster nach Europa. Und die estnische Geschichte ist<br />

eine europäische Geschichte, eng verbunden mit der unserer<br />

baltischen Nachbarn, mit Skandinavien, Russland und Deutschland.<br />

Auch der Ort des Festivals, Pärnu, hat eine Geschichte …<br />

Ich bin im russischen Teil Estlands aufgewachsen, mit einer<br />

ausgesprochen hohen Dichte an Musikern, die alle unter dem<br />

sowjetischen System litten. Viele von ihnen verbrachten ihre<br />

Sommer in der kleinen Stadt Pärnu, dem Spa Estlands. Dort traf<br />

man Oistrach, Rostropowitsch, Roschdestwenski, Gilels, Schostakowitsch.<br />

Ich dachte also, es wäre logisch, mit einem nicht-estnischen<br />

Album zu beginnen, zugleich aber mit etwas, das mit<br />

unserer Geschichte und diesem Ort zu tun hat. Und letztlich sind<br />

wir doch eine musikalische Organisation, die internationale<br />

Brücken bauen will. Wir haben Musiker von überall her. Das<br />

Orchester ist nicht limitiert auf Esten.<br />

Ab <strong>Januar</strong> 20<strong>18</strong> gehen Sie mit dem Orchester erstmals auf<br />

Tournee.<br />

20<strong>18</strong> ist ein ganz wichtiges Jahr, denn unsere Unabhängigkeit wird<br />

100 Jahre alt – so jung sind wir. Ein Meilenstein. Deshalb dachte<br />

ich, es sei die richtige Zeit, zum ersten Mal auf Tournee zu gehen<br />

und dieses Orchester vorzustellen. Der estnische Komponist<br />

Erkki-Sven Tüür hat seine neue Sinfonie für uns geschrieben, wir<br />

spielen Schostakowitsch und vieles mehr – es ist das erste Outing<br />

für unser Orchester.<br />

Daneben stehen auch Brahms, Sibelius und Pärt auf dem<br />

Programm.<br />

Als ich das Estonian Festival Orchestra gegründet habe, war mir<br />

sehr wichtig, dass es in seinem Repertoire nicht festgelegt ist.<br />

Natürlich werde ich gefragt, warum unser Fokus nicht auf estnischer<br />

Musik liegt. Aber es ist ja kein estnisches Orchester – es ist<br />

ein europäisches Orchester. Pärt, Sibelius, Schostakowitsch und<br />

Brahms zusammenzubringen, ist insofern sehr wahrhaftig.<br />

Der Spirit des Orchesters ist also Vielfalt?<br />

Genau das. Zugleich ist er von der Grundzügen her sehr idealistisch.<br />

Wir alle wissen, dass wir die Welt nicht verändern können.<br />

Aber wir können die Botschaft in die Welt hinaustragen, dass die<br />

Musik Brücken schlagen kann. Die Politiker aus aller Welt machen<br />

ihren Job im Moment nicht gerade gut. Und so ist es von uns eine<br />

symbolische Geste, unserem Bestreben angemessen Ausdruck zu<br />

verleihen, die Leute durch menschliche Qualitäten zu vereinen.<br />

Im Grunde nichts anderes als Barenboims Orchester des<br />

West-Östlichen Divans.<br />

Ja, die Botschaft ist: Vereinigung. Barenboim ist brillant, ein<br />

Vorbild für mich. Er hat den Mut und die Ausdauer, die Botschaft<br />

wirklich voranzutreiben und nicht nachzulassen.<br />

Es gibt so viele Plätze auf der Welt, wo es gut ist<br />

zu heilen.<br />

■<br />

Shostakovich: „Symphony No. 6, Sinfonietta“,<br />

Estonian Festival Orchestra, Paavo Järvi (Alpha)<br />

15


K Ü N S T L E R<br />

Zuhören hält Evelyn Glennie<br />

für die größte Herausforderung<br />

in unserem heutigen Leben<br />

FOTO: PHILIPP RATHMER<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


„ICH HABE MEINEN KÖRPER ALS<br />

RIESIGES OHR ENTDECKT“<br />

DIE<br />

HÖRMEISTERIN<br />

Seit ihrem zwölften Lebensjahr ist Evelyn Glennie nahezu taub.<br />

Dennoch hört kaum jemand intensiver als<br />

die schottische Schlagzeugerin – mit ihrem gesamten Körper!<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Absolute Stille gibt es nicht, davon ist Evelyn Glennie<br />

überzeugt. Die Welt ist für Glennie stattdessen ein Kosmos<br />

an Vibrationen, der wummert und raunt, zittert und bebt. Am<br />

liebsten wäre es der schottischen Schlagzeugerin, dieser Text würde<br />

ausschließlich ihre Musik behandeln: ihr meisterhaftes Spiel mit<br />

den Percussion-Instrumenten, das einem mit seiner schwirrenden<br />

Virtuosität den Atem raubt, oder jene magischen Momente, in<br />

denen die Marimba unter ihren wirbelnden Händen zu singen<br />

beginnt. Aber ein Artikel ausschließlich über ihre Musik wäre zu<br />

kurz gegriffen. Denn Evelyn Glennie ist seit ihrer Jugend weitgehend<br />

taub und ihre Biografie nicht nur die Geschichte einer herausragenden<br />

Musikerin, sondern auch eine faszinierende Studie darüber,<br />

was „Hören“ bedeutet.<br />

Evelyn Glennie kam 1965 im Nordosten Schottlands, nahe<br />

Aberdeen auf die Welt und wuchs auf einem Bauernhof auf. Früh<br />

entdeckte sie die Welt der Töne und Harmonien für sich, spielte<br />

Mundharmonika, später Klavier und Klarinette. Mit zwölf Jahren<br />

lernte sie im Schulorchester zum ersten Mal Percussion-Instrumente<br />

kennen und war wie gebannt. „Ich fand das unglaublich interessant:<br />

die unterschiedlichen Instrumente, die Vielfalt. Als ich<br />

dann mit dem Unterricht begonnen habe, war schnell klar: Die<br />

Chemie zwischen mir und dem Instrument ist perfekt“, erzählt Evelyn<br />

Glennie.<br />

Die lebensfrohe Frau mit den langen grauen Haaren und der<br />

prägnanten Stimme sitzt an einem Nachmittag im Dezember in<br />

ihrem Büro in London und blickt mit wachen Augen in die Kamera.<br />

Wüsste man nichts von ihrem Handicap, käme man kaum auf die<br />

Idee, dass Evelyn Glennie nurmehr über ein Hörvermögen von etwa<br />

20 Prozent verfügt. Das Interview findet via Skype statt, nur selten<br />

benötigt die Künstlerin Unterstützung durch ihre Agentin. Die<br />

meiste Zeit liest sie von den Lippen ab und antwortet mit reicher<br />

Gestik und in druckreifen Sätzen.<br />

17


K Ü N S T L E R<br />

Als die Schlagzeugerin das erste Mal mit Percussion in Kontakt<br />

kam, war ihr Hörsinn bereits stark beeinträchtigt. In den folgenden<br />

Jahren ging er immer mehr zurück. Anfangs stellte Evelyn Glennie<br />

die Musik immer lauter, um über ihre Hörgeräte noch möglichst<br />

viel von ihr zu erhaschen. Bis ihr Percussionlehrer sie eine völlig<br />

andere Wahrnehmung von Musik lehrte. Damals bat er Glennie,<br />

ihre Hörgeräte abzunehmen und<br />

die Hände auf die Wände des<br />

Unterrichtszimmers zu legen.<br />

Dann spielte er Pauke und Glennie<br />

sollte sich darauf konzentrieren,<br />

was sie fühlte. Nach und nach<br />

begann sie, die Musik an ihrem<br />

gesamten Körper zu empfinden –<br />

in den Beinen, dem Bauch, dem<br />

Nacken, vibrierend, pulsierend und<br />

unmittelbar. Für Evelyn Glennie<br />

war das ein Schlüsselmoment: „Ich<br />

habe mit einem Mal gemerkt: Ja,<br />

ich kann Klang wirklich spüren!<br />

Da habe ich verstanden, dass der<br />

wichtigste Teil des Klangs nicht der<br />

Anschlag ist, sondern die Resonanz.“<br />

Schien die Musik zuvor mit<br />

zunehmender Taubheit immer weiter<br />

von ihr wegzurücken, hatte<br />

Glennie mit einem Mal einen<br />

neuen, direkten Zugang zu ihr entdeckt.<br />

Bald legte sie ihre Hörgeräte<br />

ab und konzentrierte sich ganz auf<br />

das spürende Hören. Als wäre jede<br />

Pore auf Empfang gestellt, schulte<br />

sie sich in der Wahrnehmung der<br />

Resonanz von Klängen. „Ich habe<br />

meinen Körper als riesiges Ohr<br />

entdeckt“, schildert Glennie. Nie<br />

zweifelte sie daran, Schlagzeugerin<br />

werden zu können. „Wenn ich<br />

nicht hören könnte, könnte ich<br />

keine Musikerin sein“, bemerkt<br />

Glennie schlicht. Mehr gibt es dazu<br />

aus ihrer Sicht nicht zu sagen.<br />

Entsprechend vehement hat<br />

sich Glennie seit jeher gegen eine<br />

Vermarktung als taubes Wunderkind und bestaunenswerte Attraktion<br />

auf der Bühne gewehrt. Das beste Mittel gegen die Sensationsgier<br />

der Menge war und ist bis heute ihr Spiel: Direkt und spannungsvoll,<br />

ungemein energiegeladen und mit prickelnder Präzision<br />

erschafft Glennie an ihren Instrumenten ein farbenreiches Gesamtkunstwerk,<br />

das die Hörer sinnlich und rauschhaft in den Bann zieht.<br />

Erlebt man Glennie auf der Bühne, erübrigen sich alle Fragen und<br />

Zweifel und man begreift: Wer wirklich hören will, muss fühlen!<br />

Jene Musikerin, die ihre Karriere einst im schottischen Nordosten<br />

auf der Snare Drum begann und die in den 1980er-Jahren<br />

noch gegen einigen Widerstand an der Royal Academy of Music in<br />

London aufgenommen wurde, hat heute alles erreicht: Sie hat einen<br />

Grammy und zahlreiche weitere Preise gewonnen, wurde in den<br />

britischen Adelsstand erhoben und mit 15 Ehrendoktorwürden von<br />

britischen Universitäten geehrt. Sie besitzt eine riesige Sammlung<br />

mit über 2.000 Instrumenten und ist als erste Vollzeit-Solo-Percussionistin<br />

der Welt gefragter denn je. Als wagemutige Pionierin leitet<br />

Glennie bei all ihren Projekten, ob solistisch oder kammermusikalisch,<br />

ob in der Klassik oder im Jazz, die pure und sinnliche Freude<br />

am vibrierenden Klang. „Ich mag dieses Gefühl sehr: neugierig um<br />

„STILLE IST EINE FANTASTISCHE SACHE,<br />

DIE ALLE MÖGLICHEN EMOTIONEN IN<br />

SICH TRÄGT“<br />

die nächste Ecke zu gucken oder die nächste Tür zu öffnen und<br />

gespannt zu schauen, was sich dahinter verbirgt und was es alles für<br />

Möglichkeiten gibt.“ Vor Kurzem hat Glennie eine neue Tür in<br />

ihrem Leben geöffnet und zusammen mit dem Gitarristen Jon<br />

Hemmersam, dem Geiger Szilárd Mezei und dem Pianisten Michael<br />

Jefry Stevens das „Core-tet Project“ gestartet und ein Improvisationsalbum<br />

aufgenommen. Außer<br />

Hemmersam kannte Glennie vorher<br />

keinen der Musiker, und doch<br />

begann die Kraft der Musik von<br />

Beginn an zu wirken: „Wir haben<br />

uns einfach hingesetzt und angefangen“,<br />

erzählt Glennie. „Wir<br />

haben nichts diskutiert, wir haben<br />

einfach nur gespielt.“ Das Ergebnis<br />

ist ein experimentelles und vielfarbiges<br />

Album, das stilistische Grenzen<br />

spielerisch außer Kraft setzt.<br />

Mal wild und abenteuerlustig, mal<br />

zärtlich lauschend durchforsten die<br />

vier Musiker improvisatorische<br />

Welten und locken neue, nie zuvor<br />

gehörte Klänge hervor.<br />

Evelyn Glennie hat hörbar<br />

ihren eigenen Platz im Kosmos der<br />

Vibrationen gefunden. Längst sind<br />

es nicht mehr nur ihre einzigartige<br />

Präsenz im Spiel und ihre fesselnde<br />

Ausdruckskraft, die die Musikwelt<br />

bereichern. Vielmehr inspiriert<br />

Glennie mit ihrer umfassenden<br />

Musikalität und Sinnlichkeit dazu,<br />

das eigene Verständnis von Musik<br />

zu überdenken und scheinbar<br />

FOTO: PHILIPP RATHMER<br />

selbstverständliche Wahrnehmungsmuster<br />

infrage zu stellen.<br />

Wie nehmen wir Melodien, Harmonien<br />

und Rhythmen wirklich<br />

wahr? Welche Rolle spielen unsere<br />

Ohren? Und ab welchem Moment<br />

sprechen wir eigentlich von Musik?<br />

„Wenn wir zum Beispiel nur die<br />

erste Note von Beethovens 5. Sinfonie<br />

spielen – ist das nun Musik<br />

oder ist das Klang? Es ist immerhin die erste Note von Beethovens<br />

5. Sinfonie!“, gibt Evelyn Glennie zu bedenken und lacht. Für sie ist<br />

eine Unterscheidung irrelevant. Wirklich wichtig ist ihr das intensive,<br />

ganzheitliche Hören – jene menschliche Fähigkeit, die Musik<br />

erst möglich macht. Dabei geht es nicht nur um die Wahrnehmung<br />

von Tönen. „Die größte Herausforderung in unserem heutigen<br />

Leben ist es zuzuhören“, beobachtet Glennie. „Wir müssen einander<br />

zuhören lernen. Das heißt nicht zwingend, einem Klang zuzuhören,<br />

sondern präsent und achtsam zu sein und sich selbst und die anderen<br />

Menschen wirklich wahrzunehmen.“<br />

Und was hat es dabei mit der Stille auf sich? „Stille ist ein<br />

Klang“, sagt Evelyn Glennie, „und ich denke, man kann sich ihm<br />

annähern. Dieser Klang kann nervös sein oder einsam, friedvoll<br />

oder dunkel, traurig oder glücklich. Stille ist eine fantastische Sache,<br />

die alle möglichen Emotionen in sich trägt. Sie ist<br />

ein wichtiger Klang, den wir alle respektieren sollten.“<br />

■<br />

„The Core-tet Project“, Evelyn Glennie, Jon Hemmersam, Szilárd Mezei,<br />

Michael Jefry Stevens (Naxos)<br />

<strong>18</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


17.03.–21.04.<strong>18</strong><br />

internationales<br />

17.03.–21.04.<strong>18</strong><br />

musikfestival<br />

internationales<br />

musikfestival<br />

heidelberger frühling <strong>18</strong><br />

Jean-Guihen Queyras I Mahler Chamber Orchestra I Gabriela Montero I Sol Gabetta I Igor Levit I Steven Isserlis<br />

Marc-André Hamelin I Isabelle Faust I Georg Nigl I Sir András Schiff I Elisabeth Leonskaja I Irish Chamber Orchestra<br />

Francesco Tristano I Richard Galliano I Matthias Goerne I Markus Hinterhäuser I Anna Prohaska I Il Giardino Armonico<br />

David Fray I City of Birmingham Symphony Orchestra I Rudolf Buchbinder I Anna Stéphany I Mirga Gražinyte-Tyla ˙<br />

Mark Padmore I Sarah Maria Sun I Anna Lucia Richter I Isabelle Druet I Fazıl Say I Tara Erraught I Grigory Sokolov<br />

Goldmund Quartett I Armida Quartett I Iiro Rantala I Johannes Moser I Daniele Gatti I Thomas Hampson u.v.a.<br />

Gründungspartner:<br />

Kostenloses Programmbuch unter: Tel. 06221 - 584 00 12 oder www.heidelberger-fruehling.de<br />

Gründungspartner:<br />

20<strong>18</strong>_170914_RZ.indd 1 14.09.17 14:58


K Ü N S T L E R<br />

DER<br />

PRINZ EISENHERZ<br />

DES CELLOS<br />

Aus einem mittelalterlichen Ort in den<br />

französischen Alpen stammend, eroberte<br />

sich Gautier Capuçon die Begeisterung von<br />

Millionen von Zuhörern:<br />

unfehlbar, geradlinig, weltoffen und<br />

mit spektakulärer Expressivität.<br />

VON VERENA FISCHER-ZERNIN<br />

20 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


U<br />

FOTOS: FELIX BROEDE / WARNER CLASSICS<br />

nterm Eiffelturm haben sie eine Bühne aufgebaut, mit<br />

Sternchenhimmel und Mood-Beleuchtung. Das Orchester<br />

rollt einen Klangteppich aus, dann setzt der Cellist ein: strahlendes<br />

Lächeln, weiße Smokingjacke. Schon während er die ersten<br />

Töne von Massenets Méditation de Thaïs aufglühen lässt, schwenken<br />

die Menschen draußen auf dem Marsfeld ihre Handytaschenlampen,<br />

und als das Stück verlischt,<br />

bricht die Menge in Jubel aus wie bei<br />

einem Rockkonzert.<br />

Wenn sich ein klassischer Musiker<br />

für so ein populäres Format hergibt,<br />

kann er sich darauf gefasst machen, von<br />

den Vertretern einer elitären Kunstauffassung<br />

an den Pranger gestellt zu werden.<br />

Die Attribute sind schnell bei der<br />

Hand: oberflächlich, anbiedernd, unseriös.<br />

An Gautier Capuçon perlt so etwas<br />

ab. Auch abseits des Open-Air-Konzerts<br />

ist er sich nicht zu schade, das breite<br />

Publikum anzusprechen. Als Juror der<br />

französischen Fernsehshow „Prodiges“<br />

(„Wunderkinder“) erreicht er Millionen,<br />

da begleitet er schon mal eine kleine Ballerina<br />

mit dem berühmten Schwan von<br />

Saint-Saëns.<br />

Mögen die Puritaner auf ihn eindreschen,<br />

Capuçon ist als Interpret über<br />

den Verdacht einseitiger Seichtigkeit<br />

erhaben. Mit seinen 36 Jahren hat er alle<br />

Stationen absolviert, die es für eine Weltkarriere<br />

braucht. Er konzertiert mit<br />

Martha Argerich, dem Quatuor Ebène<br />

und den Wiener Philharmonikern. Seine<br />

Diskografie zeugt von seiner Liebe zur Kammermusik, es finden<br />

sich aber auch die Cellokonzerte von Haydn, Schostakowitsch und<br />

Lutosławski darin. Kurz, Capuçon kann es sich leisten, ein Album<br />

nur mit Lieblingsstücken herauszubringen. „Intuition“ erscheint im<br />

Februar und präsentiert gleichsam auf dem Silbertablett, dramaturgisch<br />

lose gefügt, lauter cellistische Pralinen: Salut d’amour von<br />

Elgar ist dabei und die Vocalise von Rachmaninow, der Schwan und<br />

Thaïs, aber auch Musik von Scott Joplin und Piazzolla.<br />

„Die Auswahl ist ganz und gar persönlich“, sagt Capuçon an<br />

einem Wintermorgen beim Interview in der Hamburger Speicherstadt,<br />

er kommt gerade aus Paris. „Ich habe schon jahrelang davon<br />

geträumt, eine Platte mit Charakterstücken zu machen und damit<br />

eine Geschichte zu erzählen – oder eigentlich mehrere Geschichten.<br />

Aus meiner Kindheit, meinen frühen Pariser Jahren mit meinem<br />

Lehrer Philippe Muller oder meiner Studentenzeit in Wien.“ Der<br />

zierliche Mann versinkt fast hinter dem riesigen Holztisch, doch<br />

wendet er sich seinem Gegenüber auf diese geschmeidige Weise zu,<br />

die in Deutschland das Etikett französischer Höflichkeit trägt. Alle<br />

paar Sekunden kämmt er sein kinnlanges schwarzes Haar mit den<br />

Fingern zurück zum Eisenherz-Haarhelm.<br />

Capuçons Biografie wirkt, als folge sie einem geheimen Bauplan.<br />

Der Mann mit dem Ritternamen und der Ritterfrisur stammt<br />

aus Chambéry in den Alpen, das im Mittelalter Sitz der Herzöge<br />

von Savoyen war. Geprägt haben ihn die Bergwelt und ein offenkundig<br />

glückliches Familienleben voller Musik. Als Gautier mit vier<br />

Jahren zum Cello griff, waren die zehn Jahre ältere Schwester Aude<br />

am Klavier und der fünf Jahre ältere Bruder Renaud an der Geige<br />

„WENN ICH SECHS STUNDEN<br />

GEÜBT HATTE, HAT MEINE<br />

MUTTER ANGEDEUTET,<br />

DASS ES AUCH NOCH MEHR<br />

HÄTTEN SEIN KÖNNEN“<br />

schon fortgeschritten. Ein stärkerer Antrieb für den Jüngsten lässt<br />

sich kaum denken. Aude gab das Klavierspielen später auf, die beiden<br />

Brüder jedoch entwickelten sich kometenhaft. „Meine Eltern<br />

haben uns nie gezwungen“, erzählt Capuçon, „aber wenn ich sechs<br />

Stunden geübt hatte, hat meine Mutter durchaus angedeutet, dass es<br />

auch noch mehr hätten sein können.“<br />

Hübsch, die Geschichte vom Brüder-Duo.<br />

Und dem Fortkommen dienlich.<br />

Ihr Paradestück ist das Doppelkonzert<br />

von Brahms, den Anschluss an den<br />

Älteren hat Gautier früh geschafft. An<br />

seine Lehrer erinnert er sich: „Sie haben<br />

sich enorm für mich eingesetzt. Statt<br />

mich nach ihrem Bild zu formen, haben<br />

sie mir geholfen, ich selbst zu werden.“<br />

Mit 14 Jahren wechselt er nach Paris zu<br />

Philippe Muller, mit 16 zieht er ganz in<br />

die Hauptstadt. „Das Studentenleben<br />

habe ich aber erst in Wien kennengelernt“,<br />

erzählt er. „Ich ging mit Freunden<br />

feiern und hörte Musik von Scott Joplin.“<br />

Sein Lehrer dort war Heinrich<br />

Schiff, wie Philippe Muller ein Schüler<br />

des legendären André Navarra, der mit<br />

seinem singenden Ton und einer spieltechnischen<br />

Beherrschung bis ins<br />

kleinste Detail Generationen von Cellisten<br />

geprägt hat.<br />

Vielleicht ist es kein Zufall, dass<br />

Capuçon sich beim Spielen ähnlich kreatürlich<br />

gibt wie einst der ungezähmte<br />

Heinrich Schiff. Seine Miene ist in einem<br />

Zustand der Dauerexpressivität. Er<br />

schnauft und stülpt die Lippen vor, er schickt dem Dirigenten flehentliche<br />

oder auch zornige Blicke, je nach Affekt. Andererseits<br />

überlässt er in der Musik selbst nichts dem Moment. Phrasierungen<br />

und Übergänge sind schlüssig, aber es ist zu hören, dass er jedes<br />

Detail bewusst setzt. Seine Palette reicht vom verhangenen Après un<br />

rêve von Fauré über das Flirren des Popper’schen Elfentanzes bis zu<br />

einem fast bruitistischen Zugriff bei Piazzollas Grand tango. Der<br />

Bogen kontrolliert die Saiten seines Goffriller-Cellos, ohne sie je<br />

freizulassen.<br />

Genauso unfehlbar ist seine Außendarstellung. Kein Skandal,<br />

nirgends. Stattdessen schwärmt er von seinen beiden Töchtern. Als<br />

ihn eine Fernsehjournalistin einmal fragte, wen er, wenn er es<br />

bestimmen könnte, auf einem Geldschein verewigen ließe, erwiderte<br />

er: „meine Frau“. Sogar dass er vor Jahren mit einem Burn-out<br />

zu kämpfen hatte, erzählt er leichthin – liegt so eine Krise länger<br />

zurück, ist sie nicht mehr karrieregefährdend, sondern interessant.<br />

Er habe sie allein durchgestanden, sagt Capuçon. Es habe sie niemand<br />

außer ihm selbst bemerkt. Er mache jetzt wieder Sport, achte<br />

auf seinen Schlaf und meditiere regelmäßig: „In der Rückschau ist<br />

es genial. Ich bin an meine Grenzen gekommen, aber diese Erfahrung<br />

hat es mir auf lange Sicht ermöglicht, noch weiterzugehen.“<br />

Ein Resultat dieser Transformation ist das<br />

Album „Intuition“. So nahtlos fügen sich die<br />

Dinge im Leben des Gautier Capuçon. ■<br />

„Intuition“, Gautier Capuçon (Erato)<br />

Termine: 17.3. Elmau, Schloss; 20.3. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

21


K Ü N S T L E R<br />

„VIELLEICHT IST MEIN<br />

ADRENALINSPIEGEL<br />

SEHR HOCH“<br />

AUF DER BÜHNE<br />

EXTREM,<br />

PRIVAT DISKRET<br />

Sopranistin Sonya Yoncheva über Medienrummel,<br />

einmalige Chancen<br />

und die zwei Leben einer Sängerin.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

Crescendo: „The Last Minute Sensation“ hat man Sie genannt …<br />

Sonya Yoncheva: Das ist lustig! Die Met rief mich 2014 in der<br />

Schweiz an, wo ich wohne, und fragte mich, ob ich gleich nach New York<br />

fliegen könne, um die Mimì in Puccinis La Bohème zu singen – nur einen<br />

Monat vor der Premiere und fünf Wochen nach der Geburt meines<br />

Kindes!<br />

Da gerät man doch erst einmal in Panik!<br />

Wenn die Met ruft, denkt man nicht zweimal nach. Ich wusste, ich habe<br />

nur diese eine Chance, die sich nie wieder ergeben wird. Und ich muss sie<br />

nutzen. Ich suchte nach dem Pass, ließ schnell einen für mein Baby<br />

ausstellen und studierte mitten in der Nacht die Partitur. Die eine oder<br />

andere Arie kannte ich, aber nicht die ganze Oper. Es half mir sehr, dass<br />

ich recht gut Klavier spielen kann.<br />

Die New York Times war begeistert von Ihrer Interpretation …<br />

Und ich bekam weitere Engagements. Man muss so etwas mögen und<br />

keine Angst haben. Vielleicht ist mein Adrenalinspiegel im Blut sehr<br />

hoch. Es ist sehr schwer, eine Rolle in so kurzer Zeit zu erlernen. Aber<br />

heute ist es oft so, das ist unser System, wir bekommen keine Zeit. Wir<br />

haben Konzerttourneen, Opernauftritte, Schallplattenproduktionen,<br />

FOTO: KRISTIAN SCHULLER / SONY CLASSICAL<br />

22 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


„ALS KÜNSTLER HAST DU<br />

ZWEI LEBEN,<br />

DIE PARALLEL LAUFEN,<br />

DAS AUF DER BÜHNE UND<br />

DAS WAHRE LEBEN“<br />

23


K Ü N S T L E R<br />

Proben. Und müssen zudem in Social Media, auf Twitter und<br />

Facebook präsent sein, wir haben PR-Verpflichtungen. Unser<br />

Leben ist kompliziert, und man muss tough, robust und gesund<br />

sein, um durchzuhalten, denn zugleich ist man sehr transparent<br />

geworden. Den Fans entgeht kein Detail aus deinem Leben. Man<br />

muss es also unbedingt wollen, und – sorry, das ist jetzt nicht<br />

jugendfrei – man muss „cuatro cojones“ haben, wie die Venezolaner<br />

sagen. Bewunderung in diesen Medien kann schnell in Hass<br />

umschlagen.<br />

Woher können Sie so gut Spanisch?<br />

Mein Mann ist Venezolaner. Er ist dort geboren, aber er kam mit<br />

etwa 20 in die Schweiz. Mit ihm spreche ich Französisch, während<br />

er mit unserem Sohn Spanisch spricht. Der ist jetzt zweieinhalb,<br />

und es ist so süß, wie er zwischen<br />

den Sprachen changiert.<br />

Wie sind Sie aufgewachsen?<br />

In Bulgarien, in Plowdiw. Eine<br />

sehr schöne, kleine, alte Stadt mit<br />

viel Geschichte. Die Römer waren<br />

da, es gibt einige Theater und ein<br />

antikes Stadion. Wir haben eine große musikalische Tradition.<br />

Mein Vater sang sehr schön, war aber kein Musiker.<br />

Ihr Bruder wurde ein regelrechter Popstar.<br />

Diese Geschichte ist erstaunlich, denn er wuchs so auf wie ich. Er<br />

spielte Klavier, Kontrabass, alle möglichen Instrumente. Und er<br />

sang. Eines Tages meldete meine Mutter ihn bei einer in Bulgarien<br />

sehr populären Casting-Show an. Mein Bruder gewann 2005 als<br />

17-Jähriger die Star Academy. Danach änderte sich sein ganzes<br />

Leben. Bulgarien ist nun mal kein großes Land. Plötzlich kannte<br />

man ihn überall. Und wir sahen ihn mehr im Fernsehen als zu<br />

Hause. Das war schon kurios! Es war einfach nicht mehr möglich,<br />

mit ihm auf der Straße zu gehen. Unmöglich. Alle Mädchen<br />

schrien nach ihm. Irgendwann entschied mein Bruder, damit<br />

aufzuhören, das Fach zu wechseln. Er singt heute auch an der Oper<br />

in Bulgarien.<br />

Würden Sie gerne ein Leben führen wie Ihr Bruder damals?<br />

Nein. Ich habe zwar mal Pop-Duette mit ihm gesungen, aber ich<br />

mag das diskrete Leben. Ich brauche eine gesunde Distanz zu<br />

diesem ganzen Zirkus. Ich würde dort zu viel Energie lassen, die<br />

ich brauche, um eine gute Sängerin zu sein.<br />

Sie waren Moderatorin in einer Musikshow im Fernsehen.<br />

Ja, das war nicht einfach für mich, denn eigentlich bin ich eher<br />

schüchtern. Doch wie gesagt denke ich mir immer, dass ich keine<br />

zweite Chance bekomme, und bin ins kalte Wasser gesprungen.<br />

Die Erfahrung half mir sehr. Ich lernte, mich auf der Bühne zu<br />

bewegen, die Angst vor der Angst zu verlieren und meine<br />

Bewegungen und den Ausdruck des Gesichts zu kontrollieren.<br />

Geformt wurden Sie von der Alten Musik.<br />

Ja, das war Schicksal. In Genf bei einer Masterclass von William<br />

Christie sang ich eine Alcina-Arie, habe sie einfach ausprobiert,<br />

obwohl ich mich mit diesem Repertoire eigentlich nicht beschäftigt<br />

hatte. In Bulgarien gibt es fast nur Verismo-Oper. Und<br />

Christie nahm mich. So konnte ich in seinem Jardin-des-Voix-<br />

Projekt schnell Praxis gewinnen. Ich lernte Flexibilität, Präzision,<br />

Disziplin beim Gestalten der Verzierungen und der Artikulation<br />

und Aussprache, die in der Barockmusik besonders wichtig sind.<br />

Sänger des 19.-Jahrhundert-Repertoires interessiert das oft<br />

weniger, weil sie immer den großen Bogen im Kopf haben. Es war<br />

eine wunderbare Schule, in die jeder Sänger gehen sollte, denn es<br />

hilft, spätere Fehler zu vermeiden.<br />

Dabei vergleicht man Sie mit Anna Netrebko, die Sie nicht nur<br />

als Mimì, sondern auch als Marguerite in Gounods Faust<br />

ersetzt haben.<br />

„DEN FANS ENTGEHT KEIN DETAIL<br />

AUS DEINEM LEBEN“<br />

Ich mag es nicht, wenn die Menschen immer eine Art Klon haben<br />

wollen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Man wird nicht als<br />

eigenständige Künstlerpersönlichkeit gesehen. Ich wollte selbst<br />

nie eine andere Sängerin imitieren. Nie. Natürlich höre ich, wie<br />

andere Sängerinnen bestimmte technische Dinge angehen. Die<br />

Persönlichkeit muss man selbst hineingeben. Anna, die ich sehr<br />

mag, ist ein anderer Typ als ich. Sie berührt auf andere Weise, mit<br />

ihrem Glamour, ihrem Auftritt, ihrer fantastischen Stimme, die<br />

eine einzigartige Strahlkraft hat.<br />

Sie malen gerne?<br />

Ich liebe es, Landschaften zu malen. Die Natur hat alles, alle<br />

Farben, das Kräftige wie das Zarte, Impressionistische.<br />

Wenn Sie Ihre Stimme malen müssten?<br />

Oh, das wäre lustig! Ich würde,<br />

glaube ich, alle Farben nehmen,<br />

die einander beißen. Als Künstlerin<br />

liebe ich die Extreme, als<br />

Mensch allerdings weniger. Als<br />

Künstlerin kann ich ebenso eine<br />

dramatische Frau sein wie eine<br />

zarte, zurückhaltende. Das ist das Großartige an unserem Beruf.<br />

Wir können das alles ausleben, ohne es zu müssen.<br />

Beeinflusst Ihre bulgarische Muttersprache Ihren Gesang?<br />

Ich glaube, dass die erste Sprache, die man als Kind lernt, immer<br />

eine Auswirkung auf die Vokalfärbung, die Intonation, die<br />

Modulation hat. Slawische Sprachen haben sehr viele Farben,<br />

haben einen orientalischen, einen griechischen, einen türkischen<br />

Touch. Dennoch hat mich die Sprache nicht gehindert, auch<br />

andere Sprachen zu erlernen.<br />

Inwiefern beeinflusst die heutige Casting-Politik der Opernhäuser<br />

Ihre Karriere?<br />

Das ist nicht einfach zu beantworten. Früher durfte ich keine<br />

Entscheidung treffen, jetzt habe ich mehr Freiheit. Früher war ich<br />

die junge Sonya, die frisch und sprudelnd zu sein hatte. Heute<br />

darf ich tiefgründiger sein, bin beteiligt an Entscheidungen,<br />

welche Produktion, welches Ensemble, kann mit Regisseuren<br />

sprechen. Das ist sehr wichtig. Nur so können wir wirklich gute<br />

Ergebnisse erzielen.<br />

Christie sagte zu Ihnen, Sie könnten alles singen. Wie wird<br />

man eine gute Sängerin?<br />

Disziplin, Fleiß, Neugier und die Fähigkeit, die Emotionen<br />

fokussieren zu können. Und das private Leben nicht mit dem<br />

Leben auf der Bühne zu verwechseln. Mein Vater starb, als ich auf<br />

der Bühne stand. Das war schwer für mich. Als Künstler hast du<br />

zwei Leben, die parallel laufen, das auf der Bühne und das wahre<br />

Leben. Mein Herz und meine Gedanken waren natürlich bei<br />

meiner Familie in diesem Moment. Aber nicht ich soll als<br />

Künstlerin auf der Bühne weinen, sondern die Menschen zum<br />

Weinen bringen. Das ist ein großer Unterschied, und viele<br />

verwechseln das.<br />

Und wie bleibt man eine gute Sängerin?<br />

Man muss eine Art Feeling entwickeln für das, was einem guttut.<br />

Im Moment habe ich das Gefühl, dass meine Stimme tiefer<br />

geworden ist, wärmer in der Mittellage. Danach muss ich die<br />

Rollen wählen. Und selbstbewusst Angebote ablehnen, die nicht zu<br />

mir passen. Das ist nicht einfach. Auch privat muss es stimmen.<br />

Denn nur eine glückliche Sängerin ist auch eine gute Sängerin.<br />

„The Verdi Album“, Sonya Yoncheva, Münchner Rundfunkorchester,<br />

Massimo Zanetti (Sony)<br />

Termine: 4.2. Genève (CH), Grand Théâtre;<br />

7.2. Dortmund, Konzerthaus<br />

■<br />

24 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


K Ü N S T L E R<br />

Newcomer<br />

Hiyoli Togawa<br />

FOTO: ANNE HORNEMANN<br />

EIN KLANG<br />

WIE SCHOKOLADE<br />

Für die junge Bratscherin Hiyoli Togawa ist das Spiel auf ihrem Instrument wie nach Hause zu<br />

kommen. Darüber hinaus tanzt und malt sie leidenschaftlich.<br />

VON CORINA KOLBE<br />

Über ihr Instrument spricht Hiyoli Togawa wie über einen<br />

guten Wein. „Der Klang der Bratsche hat etwas Urwüchsiges,<br />

Erdiges. Manchmal schmecke ich sogar Schokolade<br />

heraus.“ Das Musizieren führe sie mit allen Sinnen zur<br />

Natur zurück, selbst mitten in einer Großstadt. Neben Trommeln<br />

und Marimbas sitzen wir in dem geräumigen, schallgedämpften<br />

Studio in Berlin, das sie sich mit ihrem Ehemann, dem Schlagzeuger<br />

Alexej Gerassimez, teilt. „In dieser Stadt muss man sich ständig neu<br />

erfinden. Hier werden genau die Energien freigesetzt, die wir für<br />

unsere kreative Arbeit brauchen.“<br />

Togawa, die als Tochter eines Japaners und einer Australierin<br />

in Düsseldorf aufwuchs, entdeckte als Teenager ihre Leidenschaft<br />

für die Bratsche. Wenn die Eltern, beide professionelle Musiker,<br />

nicht zu Hause waren, holte sie heimlich ein Instrument ihres Vaters<br />

hervor. „Vorher hatte ich Geigenunterricht, der mich allerdings<br />

nicht besonders begeisterte. Als ich dann zum ersten Mal die Bratsche<br />

in die Hand nahm, hat mich der dunklere Klang der C-Saite<br />

sofort fasziniert. Ich erinnere mich noch genau an die Schwingungen,<br />

die plötzlich durch meinen Körper hindurchgingen.“<br />

An der Kölner Musikhochschule erhielt sie bei Rainer Moog<br />

und Antoine Tamestit den nötigen technischen Schliff, bevor sie<br />

ihre Studien in Belgien beim Artemis Quartett und anschließend<br />

bei Hariolf Schlichtig in München fortsetzte. Togawa tritt inzwischen<br />

als Solistin und Kammermusikerin in Europa und Asien auf,<br />

manchmal gemeinsam mit ihrem Mann, der als Percussionist ebenfalls<br />

international gefragt ist. Im vergangenen August hat sie in<br />

Lappland ein Solostück uraufgeführt, das der finnische Komponist<br />

Kalevi Aho für sie geschrieben hat. Beim Label Naxos erscheint im<br />

<strong>Januar</strong> ihr Debütalbum mit frühromantischen Viola-Sonaten von<br />

George Onslow und Felix Mendelssohn Bartholdy sowie sechs Nocturnes<br />

von Johann Wenzel Kalliwoda, die sie mit der Pianistin Lilit<br />

Grigoryan aufgenommen hat.<br />

„Das Klangspektrum der Bratsche vereint unterschiedliche<br />

Pole, die Höhen und Tiefen des Lebens. Immer wenn ich mein Instrument<br />

spiele, habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen“, sagt<br />

Togawa. „Auf diese Reise in mein eigenes Inneres möchte ich das<br />

Publikum mitnehmen. Dieser Wunsch gibt mir überhaupt erst den<br />

Antrieb dazu, in unserer Zeit Musik zu machen.“<br />

Einige Jahre lang musizierte die umtriebige Künstlerin im<br />

Quartett, bevor sie neue Herausforderungen suchte. „Allein schon<br />

wegen meiner multikulturellen Herkunft habe ich so viele unterschiedliche<br />

Seiten, dass mir die Kammermusik als Ausdrucksmittel<br />

nicht ausreicht.“ Nach dem Turniertanzen, dem sie sich früher<br />

intensiv widmete, spielt inzwischen die Malerei in ihrem Leben eine<br />

immer wichtigere Rolle. „Ein technisch anspruchsvolles Programm<br />

zu präsentieren, ist nicht alles. Die Zuhörer wollen vor allem erfahren,<br />

was uns als Musiker innerlich bewegt. Man muss echt sein“, ist<br />

sie überzeugt. „Ich könnte mir beispielsweise ein Projekt vorstellen,<br />

das Bogenstriche mit Pinselstrichen oder mit Tanz zusammenbringt.<br />

Auch das wäre ein Teil meines Ichs.“<br />

■<br />

Onslow, Mendelssohn, Kalliwoda: „Romantische Sonaten für Viola“,<br />

Hiyoli Togawa, Lilit Grigoryan (Naxos)<br />

Track 2 auf der crescendo Abo-CD: Violinsonate F-Dur op. 16, Nr. 1.<br />

II. Andante von Onslow<br />

25


K Ü N S T L E R<br />

ZAUBER UND<br />

MÄRCHEN<br />

„ES GIBT KEINEN<br />

SCHÖNEREN ORT ALS<br />

ZU HAUSE. UNSER LEBEN<br />

BEDEUTET, AUF REISEN<br />

ZU SEIN UND IN HOTELS<br />

ZU NÄCHTIGEN, OHNE<br />

UNS AN ETWAS BINDEN<br />

ZU KÖNNEN“<br />

FOTO: SAMMY HART<br />

26 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Als die Violinistin Lisa Batiashvili zwölf Jahre alt war, gaben ihre Eltern in Georgien<br />

alles auf, um ihr in Deutschland eine bessere Zukunft zu ermöglichen.<br />

Frau Batiashvili, Ihre Karriere als Violinistin gehört zu<br />

den beeindruckendsten der Gegenwart. 1979 in Tiflis<br />

geboren, 1995 als jüngste Teilnehmerin in der Geschichte<br />

Preisträgerin beim Internationalen Jean-Sibelius-Geigenwettbewerb,<br />

danach Konzerte in aller Welt mit den renommiertesten<br />

Orchestern. Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?<br />

Lisa Batiashvili: Da spielten mehrere Aspekte eine Rolle. Musik<br />

nahm bei meinen Eltern einen wichtigen Platz ein. Mein Vater ist<br />

Geiger und war mein erster Lehrer. Meine Mutter ist Pianistin. Die<br />

Leidenschaft für die Musik war mir angeboren. Als meine Eltern<br />

dann entschieden, Georgien zu verlassen, alles zurückzulassen<br />

– ihre Arbeit, ihre Freunde, ihre Namen – und ohne Sprachkenntnisse,<br />

ohne Arbeitsgarantie nach Deutschland zu gehen, gab mir<br />

das einen Schub. Ich war nicht einmal zwölf Jahre alt. Aber in<br />

diesem Augenblick rückten mir mein Leben, meine Aufgabe und<br />

meine Ziele deutlich ins Bewusstsein. Mir wurde klar, dass alles<br />

geschah, um mir eine gute Ausbildung und eine bessere Zukunft<br />

zu ermöglichen.<br />

Fühlten Sie sich unter Druck?<br />

Nein, ich spürte einfach nur Verantwortungsgefühl. Nach dem<br />

Zusammenbruch der Sowjetunion geriet Georgien in einen<br />

Bürgerkrieg und eine große Krise. Deutschland nahm mich<br />

damals auf wie ein eigenes Kind. Daraus wollte ich das Beste<br />

machen. Durch den Sibelius-Wettbewerb lernte ich die fantastischen<br />

finnischen Musiker kennen. Mit ihnen spielte ich meine<br />

ersten Konzerte. Sie ermöglichten es mir, in gemäßigtem Tempo<br />

weiterzukommen und Erfahrungen zu sammeln.<br />

Die Geige spielten Sie bereits mit zwei Jahren und standen mit<br />

vier Jahren auf der Bühne. Wie fanden Sie zu Ihrem Instrument?<br />

Mein Vater unterrichtete zu Hause Kinder. Die wollte ich nachahmen.<br />

Ich verbrachte aber auch viel Zeit damit, Klavier zu spielen,<br />

zu komponieren oder meinem Vater zuzuhören, wenn er mit<br />

seinem Quartett spielte.<br />

Zur georgischen Musik haben Sie nach wie vor enge Beziehungen.<br />

Was verbindet Sie mit ihr?<br />

Die georgische Musik bringt mir Kindheitsgefühle und Erfahrungen<br />

in Erinnerung. Sie besitzt eine eigene Persönlichkeit. Sie ist<br />

stark von der Volksmusik beeinflusst. Spielt man georgische<br />

Musik, erhält man direkten Zugang zur georgischen Natur. In den<br />

90er-Jahren war mein Land in Deutschland unbekannt. Wenn ich<br />

sagte, ich komme aus Georgien, hatte kaum jemand eine Ahnung,<br />

wo das liegt. Ich spiele georgische Musik, damit die Menschen<br />

mein Land kennenlernen.<br />

Auf Ihrem neuen Album „Visions of Prokofiev“ wenden Sie sich<br />

nun einem russischen Komponisten zu …<br />

Prokofjew ist für mich deshalb so faszinierend, weil ich in seiner<br />

Musik das Verlangen nach einem Zuhause spüre. Es gibt keinen<br />

schöneren Ort als zu Hause. Wir Musiker haben selten die<br />

Möglichkeit, es zu genießen. Unser Leben bedeutet, auf Reisen zu<br />

sein und in Hotels zu nächtigen, ohne uns an etwas binden zu<br />

können. Prokofjew war bei seinen Reisen immer auf der Suche<br />

nach einem Ort, an dem er sich zu Hause fühlte. Dadurch wurde<br />

seine Musik so persönlich und verträumt. Ich verbinde mit ihr<br />

Zauber und Märchen. Sie vermittelt eine unglaubliche und<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

zauberhafte Realität, seine Realität. Ich empfinde so viel Empathie<br />

und Sympathie für ihn.<br />

Sein Erstes Violinkonzert, das auf Ihrem Album mit dem<br />

Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin zu<br />

hören ist, haben Sie bereits mit 13 Jahren zum ersten Mal<br />

gespielt. Wie kam das?<br />

Mein Lehrer Mark Lubotsky war Schüler von David Oistrach<br />

gewesen. Schostakowitsch, Prokofjew, Schnittke waren das erste<br />

Repertoire, das er unterrichten wollte. Zu dieser Musik hatte er<br />

wahnsinnig viel zu sagen, und er erkannte, dass meine Natur mit<br />

ihr eine Harmonie findet. Prokofjews Musik ist so ausdrucksstark<br />

und theatralisch und besitzt so viele verschiedene Farben. Um das<br />

alles zu verstehen und wiederzugeben, muss man erst einmal<br />

erwachsen werden.<br />

Das Konzert wurde zu Ihrem „Markenzeichen“. Sie haben es oft<br />

gespielt, aber erst jetzt aufgenommen …<br />

Das war ein Herzensprojekt. Ich spielte beide Violinkonzerte<br />

Prokofjews mit dem Chamber Orchestra of Europe und Nézet-<br />

Séguin bereits im Konzert. Da fanden sich zwischen den Auftritten<br />

des Orchesters einige Aufnahmetage. Nézet-Séguin ist einer<br />

meiner allerliebsten Musiker. Diese Aufnahme ist das Zusammenspiel<br />

einer Musik, die ich liebe, und eines Dirigenten, zu dem ich<br />

eine besondere Verbindung habe.<br />

Prokofjew schrieb das Erste Violinkonzert 1917 in Paris, also<br />

während der Revolution. Das Zweite Violinkonzert, das ebenfalls<br />

auf dem Album ist, entstand 1935 in Madrid kurz vor seiner<br />

endgültigen Rückkehr in die Sowjetunion. Was unterscheidet<br />

die beiden Werke?<br />

Sie erzählen zwei verschiedene Geschichten von Prokofjew. Das Erste<br />

Violinkonzert ist leichter, feiner, impressionistisch. Es ist überirdische<br />

Musik. Am Ende des Stücks führt sie uns in den Himmel. Im ersten<br />

Satz des Zweiten Violinkonzerts spürt man dagegen die Erinnerung an<br />

den Krieg. Die Musik ist irdisch. Wir bewegen uns in einer neuen Ära<br />

von Prokofjews Leben und Schreiben.<br />

Tanz und Walzer aus den Balletten Romeo und Julia und<br />

Cinderella sowie der Große Marsch aus der Oper Die Liebe zu<br />

den drei Orangen wurden von Ihrem Vater arrangiert und<br />

ausgewählt. Begleitet er Ihre Karriere als Ratgeber?<br />

Als lieber Papa und guter Freund, bei dem ich mir Ratschläge hole.<br />

Er hat ja schon so viel gespielt. Schostakowitsch und viele große<br />

Komponisten kannte er persönlich und führte ihre Musik zum<br />

ersten Mal auf. Er ist ein Mensch, dem ich vertraue und der mich<br />

niemals damit belasten würde, seine Meinung zu äußern, wenn ich<br />

ihn nicht darum bitte.<br />

Welcher Komponist liegt Ihnen außerdem so am Herzen, dass<br />

Sie seine Musik aufnehmen wollen?<br />

Sehr beschäftigen mich Schubert, Schumann und Mozart. Ich<br />

möchte aber nicht nur klassische Musik aufnehmen. Für meine<br />

nächste Aufnahme suche ich etwas Ausgefallenes. Anders Hillborg<br />

schrieb mir ein Violinkonzert, das ich 2016<br />

spielte. Es ist fantastisch und vermittelt eine<br />

Atmosphäre, die an den Kosmos denken lässt. ■<br />

„Visions of Prokofiev“, Lisa Batiashvili, Yannick Nézet-Séguin, Chamber<br />

Orchestra of Europe (DG)<br />

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P E R S O N A L I E N<br />

MELDUNGEN<br />

Mariss Jansons<br />

Der 1943 im lettischen Riga geborene<br />

Jansons zählt unbestritten zu den<br />

bedeutendsten Dirigentenpersönlichkeiten<br />

weltweit. Im <strong>Januar</strong> feierte der<br />

Stardirigent seinen 75. Geburtstag.<br />

Nach seinem Studium am Konservatorium<br />

Leningrad setzte er 1969 seine<br />

Ausbildung in Wien und Salzburg fort.<br />

Nach Studien unter anderem bei Herbert<br />

von Karajan machte der legendäre<br />

russische Dirigent Jewgeni Mrawinski<br />

1973 den gerade 30-Jährigen zu seinem<br />

Assistenten. Der damalige Leiter der<br />

Leningrader Philharmoniker und große<br />

Orchestererzieher prägte Stil und<br />

Repertoire des jungen lettischen Dirigenten<br />

entscheidend. 1979 erreichte ihn<br />

der Ruf nach Oslo, seiner ersten festen<br />

Station im Westen. In den folgenden<br />

21 Jahren baute er das Osloer Symphonieorchester<br />

auf und formte es zu einem<br />

internationalen Spitzenorchester. 1997<br />

trat er zusätzlich die Nachfolge Lorin<br />

Maazels beim Pittsburgh Symphony<br />

Orchestra an. 2003 folgte Jansons Maazel<br />

als Chefdirigent des Symphonieorchesters<br />

des Bayerischen Rundfunks<br />

nach München – eine Position, für die<br />

sein Vertrag bis 2021 läuft. Als gefragter<br />

Gastdirigent hat Jansons in den vergangenen<br />

Jahren mit allen bedeutenden<br />

Orchestern der Welt zusammengearbeitet.<br />

In München etablierte er sich als<br />

erfolgreicher Kämpfer für einen neuen<br />

Konzertsaal, der nicht nur dem Symphonieorchester<br />

endlich ein akustisch<br />

erstklassiges Zuhause bieten, sondern<br />

sich auch als Attraktion für Publikum<br />

und Musikschaffende aus aller Welt<br />

erweisen soll. crescendo gratuliert zum<br />

75. Geburtstag und wünscht alles Gute<br />

für die Zukunft!<br />

Nicholas Milton<br />

Australier mit Così fan tutte sein Debüt<br />

an der Deutschen Oper Berlin und<br />

gestaltet mit La Bohème und Salome zwei<br />

große Produktionen in Saarbrücken.<br />

Alexandre<br />

Desplat<br />

Christian<br />

Thielemann<br />

Nicholas Milton wird zur Saison 20<strong>18</strong>/19<br />

der neue Chefdirigent des Göttinger<br />

Symphonie Orchesters. Im Alter von 19<br />

Jahren zum jüngsten Konzertmeister<br />

Australiens ernannt, begann Milton<br />

zunächst eine erfolgreiche Karriere als<br />

Solo-Violinist und Kammermusiker,<br />

bevor er sich ausschließlich dem Dirigieren<br />

widmete. Gast-Engagements führten<br />

ihn wiederholt an die Volksoper Wien,<br />

an die Komische Oper Berlin sowie u. a.<br />

nach Dortmund, Leipzig, München,<br />

Mainz, Linz, Innsbruck und Sydney. Vor<br />

etwa zehn Jahren dirigierte er erstmals<br />

das Göttinger Symphonie Orchester.<br />

„Wir können zusammen wunderbare<br />

Erlebnisse haben“, freut sich Milton<br />

schon auf die Zusammenarbeit. „Mit<br />

diesem Orchester kann ich wunderbar<br />

Musik gestalten. Diese Musiker wollen<br />

mit mir spielen, die wollen ihr Bestes<br />

geben.“ In der aktuellen Spielzeit gibt der<br />

Die Wiener Philharmoniker bieten<br />

ihrem Publikum zum Jahreswechsel<br />

jedes Jahr ein Programm aus dem reichen<br />

Repertoire der Strauß-Dynastie<br />

und deren Zeitgenossen. Christian Thielemann<br />

dirigiert 2019 erstmals das Neujahrskonzert<br />

der Wiener Philharmoniker.<br />

Seit 2000 dirigierte er die Wiener<br />

Philharmoniker regelmäßig bei den<br />

philharmonischen Abonnementkonzerten,<br />

Gastspielen und bei den Salzburger<br />

Festspielen. Der Vorstand der Wiener<br />

Philharmoniker, Daniel Froschauer,<br />

betont das künstlerische Vertrauen zwischen<br />

Dirigent und Orchester: „Das, was<br />

im Opernbereich seit Anbeginn perfekt<br />

funktioniert hat, nämlich das tiefe musikalische<br />

Einverständnis und Vertrauen,<br />

hat in der Folge auch im symphonischen<br />

Bereich große Früchte getragen. Aus<br />

diesem Grund bitten wir ihn am 1. Jänner<br />

2019 an das Pult des Neujahrskonzertes.“<br />

In Los Angeles wurden zum 75. Mal die<br />

Golden Globes verliehen. Der Preis für<br />

die beste Filmmusik erhielt der französische<br />

Komponist Alexandre Desplat<br />

für seinen Soundtrack zu Guillermo del<br />

Toros Shape of Water – das Flüstern des<br />

Wassers. Der 1961 in Paris geborene<br />

Desplat war siebenmal für seine Filmmusiken<br />

bei den Golden Globes nominiert,<br />

zweimal hat er dort bis jetzt<br />

gewonnen. Ebenfalls sieben Nominierungen<br />

gab es bei den Acadamy Awards.<br />

2015 gewann Desplat schließlich einen<br />

Oscar für den Soundtrack zu The Grand<br />

Budapest Hotel. In sein Portfolio gehören<br />

unter anderem die Musik zu The<br />

Queen, Der seltsame Fall des Benjamin<br />

Button, The Danish Girl und die Soundtracks<br />

zu den Harry-Potter-Verfilmungen.<br />

FOTOS: BAYERISCHER RUNDFUNK; MARCO KANY; EMBASSY FRANCE PHOTO<br />

28 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


HÖREN & SEHEN<br />

Die besten CDs, DVDs & Vinylplatten des Monats von Oper über Jazz bis Tanz<br />

Attila Csampais Auswahl (Seite 30)<br />

crescendo-Empfehlungen lesen und direkt kostenlos dabei anhören?<br />

Kein Problem: Auf www.crescendo.de finden Sie unsere Rezensionen mit direktem Link zum Anhören!<br />

Daniel Müller-Schott<br />

Wunderbar<br />

geklaut<br />

„Offen sein für die Musik jeder Epoche und<br />

deren Übertragung auf andere Instrumente“ ist<br />

das Credo des Cellisten Daniel Müller-Schott,<br />

der sich aktiv für die Erweiterung seines Repertoires<br />

einsetzt. Komponistengrößen wie Sir<br />

André Previn und Olli Mustonen widmeten ihm<br />

bereits ihre Werke. Für sein neues Album sah<br />

sich der Cellist zur Abwechslung aber im<br />

bereits existierenden Repertoire anderer<br />

Instrumente um. Das Violinkonzert in G-Dur von<br />

Joseph Haydn, aber auch das berühmte Adagio<br />

des Bach’schen E-Dur Violinkonzerts interpretiert<br />

Müller-Schott auf seinem Instrument neu<br />

und schwingt sich dabei agil in jede Höhe hinauf.<br />

Besonders sträflich wurde das Soloinstrument<br />

Cello jedoch von einem ignoriert: Mozart. So<br />

ist auf der Aufnahme neben dem Adagio für Violine<br />

und Orchester auch das Oboenkonzert des<br />

Komponisten zu finden – von Mozart selbst für<br />

Flöte bearbeitet, die Ecksätze von George Szell<br />

für den großen Cellisten Feuermann umgeschrieben.<br />

Das fehlende Adagio sowie die<br />

Kadenzen schrieb Müller-Schott selbst seinem<br />

Instrument auf den Leib. Mit romantisch angehauchtem<br />

Ton und herausragend präziser Technik<br />

beweist er dabei, dass er und sein Cello<br />

echte Alleskönner sind. SK<br />

SOLO<br />

Bach, Haydn, Mozart:<br />

„#CelloReimagined“,<br />

Daniel Müller-Schott,<br />

l’arte del mondo (Orfeo)<br />

Track 5 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Konzert für Violine und Orchester E-Dur Nr. 2 BWV 1042<br />

29<br />

FOTO: UWE ARENS


H Ö R E N & S E H E N<br />

Empfehlungen von Attila Csampai<br />

TOP-NACHWUCHS UND<br />

KLASSIKER GANZ NEU<br />

… bestimmen Attila Csampais Februar-Auswahl<br />

BEETHOVEN: KREUTZER SONATA;<br />

SCHUBERT: ARPEGGIONE SONATA<br />

Bruno Philippe, Tanguy de Williencourt<br />

(Harmonia Mundi)<br />

Track 6 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Nacht und Träume D. 827 von Schubert<br />

Man glaubt es kaum, aber es gibt sie noch, die<br />

qualifizierte Nachwuchsförderung durch die Schallplattenindustrie.<br />

Ein französisches Independent-Label geht mutig voran und<br />

schickt zwei einheimische Top-Talente ins Rennen: Cellist Bruno<br />

Philippe und Pianist Tanguy de Williencourt kombinieren Beethovens<br />

virtuose Kreutzer-Sonate mit Schuberts lyrischer Arpeggione-Sonate<br />

und bestehen die Prüfung grandios. Die Cello-Version<br />

der Violinsonate Beethovens wurde erst 1990 in einem Antiquariat<br />

wiederentdeckt: Carl Czerny schuf <strong>18</strong>22 eine exzellente Transkription,<br />

die den dramatischen Furor des Werks fast noch besser<br />

umsetzt. So liefern sich die beiden technisch perfekten Solisten<br />

einen packenden, jugendlich-ungestümen Dialog auf Augenhöhe,<br />

denn das eine Oktave tiefer spielende Cello ist dem Klavier hier ein<br />

ebenbürtiger, dunkel-sonorer Kontrahent. Bei der Schubert-<br />

Sonate, die eigentlich für eine große, harfenähnliche Gitarre komponiert<br />

wurde, übt sich Philippe aber in nobler, fast zärtlicher<br />

Zurückhaltung und gibt so dem arg strapazierten Opus seinen<br />

ursprünglichen liedhaft-innigen Charakter zurück: Von diesem<br />

großartigen, hochmusikalischen Duo wird man bestimmt noch<br />

hören.<br />

NICCOLÒ PAGANINI: 24 CAPRICES<br />

Augustin Hadelich (Warner)<br />

In den Staaten ist Augustin Hadelich längst<br />

kein Unbekannter mehr. Der 1984 in Italien<br />

geborene Sohn deutscher Eltern begann als<br />

Geigen-Wunderkind, erlitt mit 15 bei einem<br />

Unfall schwerste Verbrennungen, kämpfte sich<br />

zurück und gewann mit 22 den Violin-Wettbewerb von Indianapolis.<br />

Danach eroberte er schnell die Konzertsäle der USA und<br />

zuletzt auch Europas. Für sein Debütalbum bei Warner hat er sich<br />

für Paganinis 24 Capricen op. 1 entschieden, dem wohl schwierigsten<br />

und bizarrsten Etüden-Zyklus für Violine solo, der auch viele<br />

Komponisten beeinflusst und angeregt hat. Gleichwohl ist die<br />

Anzahl der Komplettaufnahmen überschaubar geblieben, und es<br />

überwiegt das etüdenhafte Ringen mit der unspielbaren Materie,<br />

sodass auch das Zuhören zur Qual werden kann. Nichts davon in<br />

Hadelichs neuer, lupenreiner, beängstigend perfekter Interpretation:<br />

Ich kenne keine Aufnahme, in der jemand diese 24 Dämonen<br />

so mühelos, so beschwingt, so einfühlsam und so musikalisch<br />

zwingend „gezähmt“ hätte, sodass aller Schrecken, alle Anstrengung,<br />

alles Etüdenhafte sich in arienhafte Anmut, in Schönheit<br />

und sanfte Trauer verwandeln. So wird auch die ganz besondere<br />

Magie, die damals von ihrem Urheber ausging, hier auf verführerische<br />

Weise wiederbelebt: ein Album mit hohem Suchtfaktor und<br />

ein Geiger mit Riesenpotenzial.<br />

FRÉDÉRIC CHOPIN: „GHOSTS“<br />

Nino Gvetadze (Challenge Classics)<br />

Track 7 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Walzer in A-Dur op. 34 Nr. 2<br />

„Ghosts“ nennt die aus Georgien stammende<br />

Pianistin Nino Gvetadze ihr neues Chopin-<br />

Album, in dessen Mittelpunkt ihre düsternachdenkliche<br />

Deutung der Préludes des polnischen Klavierrevolutionärs<br />

steht: Sie beschwört auf ihrem erstaunlich dunkel klingenden<br />

Steinway-D-Flügel die Geister der Vergangenheit und<br />

deutet diese 24 enigmatischen Miniaturen als Traumbilder der<br />

Nacht, als poetische Reflexionen über die unausweichliche Existenz<br />

des Todes. Damit entwirft die in Amsterdam lebende Pianistin<br />

die dunkle Gegenwelt etwa zu der jugendlich ungestümen,<br />

lebendig pulsierenden Referenzeinspielung Ivo Pogorelichs aus<br />

dem Jahr 1989, die entschieden allen Todesgedanken trotzte.<br />

Auch Gvetadze erzählt uns eine zusammenhängende Geschichte,<br />

setzt 24-mal die Schönheit des Gedankens und das Drama der<br />

Verzweiflung gegen das drohende Nichts. Doch sie entlockt diesen<br />

„Vorspielen“ eine tiefe spirituelle Kraft, die sofort auch den Hörer<br />

bannt und ihn die eigentliche tragische Größe dieser Nachtstücke<br />

erleben lässt. Ob Chopin damit schon früh ein schmerzliches<br />

Resümee seines kurzen Lebens ziehen wollte, wie sie im Booklet<br />

meint, ist dennoch fraglich: Dass diese Aphorismen aber die<br />

Essenz seines Schaffens und seiner musikalischen Weltsicht darstellen,<br />

das unterstreicht diese fesselnde Einspielung auf besondere<br />

Weise.<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

30 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


FRANZ SCHUBERT: SYMPHONIES NOS. 2 & 5<br />

Antwerp Symphony Orchestra, Philippe Herreweghe (PHI)<br />

Bis heute hält sich der Vorwurf, Schuberts frühe Sinfonien seien<br />

„nur“ gekonnte Nachbildungen der Werke seiner großen Vorgänger<br />

Haydn und Mozart, und im Grunde nichts Eigenes. Bis heute<br />

gelten nur die Unvollendete und die Große C-Dur als bedeutende<br />

Meisterwerke. Jetzt hat Philippe Herreweghe, der Feingeist unter<br />

den großen Pionieren des Originalklangs, sich die Zweite und die Fünfte vorgenommen<br />

und beide B-Dur-Arbeiten des Teenagers Schubert mit dem Antwerp Symphony<br />

Orchestra so zärtlich und feurig wiederbelebt, dass man sich fast fremdschämen<br />

möchte für die dummen Vorurteile früherer Generationen. Natürlich spürt man in<br />

beiden Werken den starken Einfluss seiner erklärten Vorbilder. Doch bahnt sich<br />

schon im Kopfsatz der Zweiten Sinfonie Schuberts ganz eigener, lyrisch sich ausbreitender,<br />

flächiger Satzbau seinen eigenen Weg, der durch Herreweghes drängenden,<br />

aber immer wunderbar transparenten und jugendlich pulsierenden Klangfluss einen<br />

ganz eigenen Charakter gewinnt und fast ungetrübte Aufbruchsstimmung verbreitet:<br />

So glückt dem 19-jährigen Schubert im Andante der Fünften Sinfonie einer der<br />

schönsten, innigsten Sätze seines gesamten Schaffens, ein einzigartiges Juwel musikalischer<br />

Schönheit. Herreweghe weiß das, trägt aber auch hier nicht zu dick auf,<br />

bleibt nobel, warmherzig und empfindsam.<br />

FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY:<br />

STRING SYMPHONIES VOL. 2<br />

L’Orfeo Barockorchester, Michi Gaigg (cpo)<br />

Es besteht kein Zweifel, dass Felix Mendelssohn zu den größten<br />

Junggenies der Musikgeschichte zählt: Seine ersten zwölf Streichersinfonien,<br />

die er zwischen seinem 11. und 13. Lebensjahr<br />

schuf, sind das beste Beispiel für sein unglaubliches Talent. Jetzt<br />

hat das in Linz beheimatete L’Orfeo Barockorchester, das sich auf historischen Instrumenten<br />

bislang auf die Musik des Spätbarock und der Klassik konzentrierte, die<br />

zweite Folge der Mendelssohn’schen Jugendsinfonien vorgelegt. Und wie schon beim<br />

ersten, 2015 erschienenen Album, besticht das nur aus 16 Streichern (plus einem Fortepiano)<br />

bestehende Kammerensemble auch diesmal durch seinen trocken-geschärften,<br />

ungemein prägnanten Musizierstil, der totale Transparenz mit sehr flotten<br />

Tempi kombiniert. So rücken statt frühromantischer Heimeligkeit mehr die historischen<br />

Wurzeln dieser Jugendarbeiten – also Bach’scher Kontrapunkt und vorklassischer<br />

Sturm-und-Drang-Furor – in den Vordergrund. Mit warmen, satten Sounds<br />

hat Michi Gaiggs ausgeschlafene Truppe wenig im Sinn, sie verströmen eher den<br />

rauen, aber herzlichen Charme von rigorosen Aufklärern, die hier die unterschiedlichen<br />

Einflusssphären eines solchen Junggenies und die revolutionären Umbrüche<br />

jener unruhigen Zeit deutlich machen wollen.<br />

TCHAIKOVSKY: SYMPHONY NO. 6<br />

„PATHÉTIQUE“<br />

MusicAeterna, Teodor Currentzis (Sony)<br />

Unter den jüngeren Dirigenten ist der Grieche Teodor Currentzis<br />

derzeit der mit Abstand aufregendste: In kurzer Zeit machte er<br />

das im fernen Ural liegende Opernhaus von Perm zu einem neuen<br />

Zentrum visionärer Theaterarbeit, und seine Studioproduktionen<br />

der drei Da-Ponte-Opern Mozarts wurden weltweit als neue Referenzen gefeiert.<br />

Jetzt greift der designierte neue Chef des SWR Symphonieorchesters auch nach sinfonischen<br />

Ehren. Mit seinem MusicAeterna Orchester hat er sich gleich das größte<br />

Juwel russischer Sinfonik vorgenommen, Tschaikowskys genialische, von Todesahnungen<br />

durchwirkte Sechste Sinfonie, von der es unzählige gute Einspielungen gibt.<br />

Dennoch schafft es der 45-jährige Exzentriker, dieses nationale Heiligtum komplett<br />

neu zu vermessen und ihm seine wahre erschütternde Größe zurückzugeben, indem<br />

er mit rigoroser Detailgenauigkeit und extremer Dynamik dessen wahre Seelenabgründe<br />

freilegt, jenseits allen vordergründigen Pathos. Allein seine wunderbar pulsierende<br />

Piano- und Pianissimokultur zu Beginn der Sinfonie ist beispiellos, und die<br />

Zusammenbrüche in der Durchführung entladen ein unerhörtes Verzweiflungspotenzial.<br />

Diese tiefe innere Tragik des Werks findet ihren bitteren Ausgang im düsteren<br />

Schluss-Adagio, das Currentzis als vergeblichen Todeskampf deutet. Nach diesem<br />

schonungslosen Selbstbekenntnis versteht jeder, warum Tschaikowsky nur<br />

wenige Tage nach der Uraufführung die Welt verließ.<br />

31


H Ö R E N & S E H E N<br />

SOLO<br />

Frank Peter Zimmermann<br />

Im Banne Bachs<br />

Die mehrsätzige Musik Johann Sebastian Bachs stellt den Interpreten<br />

vor enorme Herausforderungen. Einerseits muss der Künstler die verschiedensten<br />

Affekte vermitteln, die von Freudentänzen bis zu Klagegesängen<br />

auch sämtliche Zwischennuancen enthalten können. Weiterhin<br />

ist die kompositorische Struktur neben der geforderten Virtuosität<br />

und Klarheit im Ausdruck stets so transparent, dass dem Zuhörer<br />

nicht das kleinste Detail entgeht, weder intonatorische Unsauberkeiten<br />

noch Unstimmigkeiten im Ensemblespiel. Um Schwierigkeiten<br />

dieser Art brauchen sich weder Frank Peter Zimmermann noch die<br />

Berliner Barock Solisten Sorgen zu machen. Die Einspielung der Violinkonzerte<br />

überzeugt durch künstlerische Präzision, virtuose Leichtigkeit<br />

und Hingabe im Ausdruck. Mit seinem zarten, schlanken und<br />

lebendigen Klang gelingt es Zimmermann, die Zuhörer von Anfang an<br />

in seinen Bann zu ziehen. US<br />

Johann Sebastian Bach: „Violinkonzerte“,<br />

Frank Peter Zimmermann, Serge Zimmermann,<br />

Berliner Barock Solisten (Hänssler)<br />

Track 3 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Konzert in d-Moll BWV 1052. III. Allegro<br />

Als neuer Abonnent erhalten<br />

Sie diese CD (siehe S. 54)<br />

ORCHES-<br />

TER<br />

Peter Racine Fricker<br />

Großmeister der<br />

Originalität<br />

Der junge Peter Racine Fricker (1920–90) galt in<br />

den 1950er-Jahren neben Britten und Tippett als<br />

Englands interessantester Symphoniker. Stilistisch<br />

stammt der Seiber-Schüler kaum aus der<br />

britischen Tradition, sondern erweist sich als<br />

höchst origineller Weiterentwickler des Expressionismus<br />

solcher Meister wie Bartók, Berg oder<br />

Blacher. Handwerklich ein Großmeister mit fantastischer<br />

Beherrschung des Orchesters und der<br />

Fähigkeit, große Formzusammenhänge in unorthodoxer<br />

Weise zu schaffen, wird er hier mit<br />

Rundfunkmitschnitten der zwischen 1948 und<br />

1966 entstandenen Sinfonien Nr. 1–4 sowie zwei<br />

kürzeren Werken vorgestellt (Nr. 3 und 4 erstmals<br />

auf Tonträger). Als Symphoniker können<br />

ihm in seiner Zeit in England allenfalls Robert<br />

Simpson, Bernard Stevens und Havergal Brian<br />

zur Seite gestellt werden, und wer Bartók,<br />

Schos takowitsch, Karl Amadeus Hartmann oder<br />

Dutilleux liebt, sollte<br />

hier unbedingt<br />

zugreifen. CS<br />

Peter Racine Fricker:<br />

„Symphonies 1–4“, Bryden<br />

Thomson, Albert Rosen,<br />

BBC Northern Symphony<br />

Orchestra (Lyrita)<br />

FOTO: HARALD HOFFMANN<br />

Wilhelm Furtwängler<br />

Sensationsfund<br />

Am 26. August 1953 stand Wilhelm Furtwängler in Luzern zum letzten Mal am Pult<br />

des Schweizerischen Festspielorchesters. Der Mitschnitt von Robert Schumanns tragisch<br />

düsterer Manfred-Ouvertüre galt lange Zeit als verschollen, bevor er zufällig in<br />

einem Archiv entdeckt wurde. Beim Label Audite ist er jetzt erstmals auf Tonträger<br />

erschienen. Das Album enthält außerdem Liveaufnahmen der am selben Abend aufgeführten<br />

Schumann-Sinfonie Nr. 4 und der Eroica von Ludwig van Beethoven. Letztere<br />

Werke wurden zum ersten Mal auf Basis der originalen Rundfunkbänder editiert;<br />

für bisherige Veröffentlichungen war ein privater Mitschnitt auf Kassette verwendet<br />

worden. Furtwängler näherte sich der Musik aus einer inneren Dringlichkeit<br />

heraus, die beim Anhören dieser Aufnahmen spürbar wird.<br />

Im Adagio-Satz der Schumann-Sinfonie beispielsweise brodeln<br />

Emotionen, die nie in übertriebenes Pathos münden. Ein<br />

empfehlenswertes Album, nicht nur für Furtwängler-Fans. CK<br />

Schumann: „Manfred Overture & Symphony No. 4“, Beethoven: „Symphony No. 3<br />

Eroica“, Wilhelm Furtwängler, Swiss Festival Orchestra (Audite)<br />

Münchner Philharmoniker<br />

Apotheose der<br />

Weltverlorenheit<br />

Die zweite Folge der Münchner Philharmoniker beim<br />

eigenen Label mit Konzertmitschnitten unter Sergiu<br />

Celibidache (nach den unübertrefflichen Aufnahmen<br />

von Schuberts Unvollendeter und Dvořáks Sinfonie<br />

Aus der Neuen Welt) überrascht mit Gustav Mahler.<br />

Und tatsächlich sind die Kindertotenlieder das einzige<br />

Werk Mahlers, das Celibidache aufgeführt hat. Mit<br />

Brigitte Fassbaender wird alles in feinster Weise ausgestaltet,<br />

die Tragödie entfaltet sich in erschütternder<br />

Weise als Apotheose der Weltverlorenheit,<br />

es wird ein unentrinnbarer Spannungsbogen zelebriert.<br />

Richard Strauss’ Tod und Verklärung erfährt in<br />

der prachtvoll durchgehörten, hellwach ausbalancierten<br />

und aufgrund kammermusikalisch geschulter,<br />

kontrapunktisch und harmonisch bewusst artikulierender<br />

Sanglichkeit eine rundherum stimmige und<br />

fesselnde Referenzaufführung.<br />

CS<br />

Mahler: „Kindertotenlieder“ & Strauss:<br />

„Tod und Verklärung“, Sergiu Celibidache,<br />

Münchner Philharmoniker<br />

(MPHIL)<br />

32 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


ORCHES-<br />

TER<br />

Göteborgs Symfoniker<br />

Edelmut<br />

statt Muskelspiel<br />

Seit 2013 ist Kent Nagano neben seinen Tätigkeiten als Generalmusikdirektor<br />

in Hamburg und Orchesterchef in Montréal auch Erster<br />

Gastdirigent der Göteborger Symphoniker, des schwedischen Nationalorchesters.<br />

Ungewöhnlich sauber und detailverliebt durchleuchtet<br />

er hier mit den Göteborgern die Partitur von Strauss’ Heldenleben, als<br />

wäre es große Kammermusik, und erzielt dabei auch berückend weiche<br />

Pianoklänge. Nagano will keinen musikalischen Superhero-Blockbuster<br />

mit neuesten Spezialeffekten inszenieren, sondern liebt eher<br />

den nüchternen, präzisen Zugriff: Was er am Monumentalen spart,<br />

investiert er in Genauigkeit. Des Helden Walstatt klingt deshalb nicht<br />

wie ein Oktoberfest-Walkürengetümmel, sondern vergleichsweise<br />

schlank und elastisch. Konzertmeisterin Sara Trobäck verwandelt<br />

sogar die Sottisen des großen Violinsolos noch in klangvolle<br />

Geschmeidigkeit. Ganz ähnlich auch Naganos Absichten mit Tod und<br />

Verklärung: Noblesse am Sterbebett. WW<br />

Richard Strauss: „Ein Heldenleben“, „Tod und Verklärung“,<br />

Göteborgs Symfoniker, Kent Nagano (Farao)<br />

Track 1 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Tod und Verklärung op. 24. I. Largo<br />

Sarah Wegener und Götz Payer<br />

Meeresluft,<br />

Wasserwelt<br />

Was für die Deutschen der Wald ist, das ist für die Briten das Meer –<br />

und von diesem haben sich die Sopranistin Sarah Wegener und der<br />

Pianist Götz Payer zu einem Liedprogramm inspirieren lassen. Sie<br />

präsentieren Lieder von englischen und nordischen Komponisten,<br />

aber auch aus der Feder von Schubert, Brahms und Strauss. Denn<br />

nicht nur vom Wald haben sich die deutschen Dichter faszinieren lassen,<br />

sondern auch von Seen, Flüssen und eben dem Meer. Leider verrät<br />

nur der Album-Titel „… into the deepest Sea!“ die nasse Gemeinsamkeit,<br />

die Liedtexte sind nicht abgedruckt. Schade! Denn dem<br />

Meer möchte man gerne nachspüren,<br />

lesend und hörend ja<br />

sowieso. Eine Stärke der Aufnahme<br />

ist es, im Zweifelsfall<br />

ohne dieses Motto auszukommen<br />

– durch geglückte<br />

Interpretation und den geradezu<br />

nahtlosen Zusammenschluss<br />

von ausdrucksvoller<br />

Stimme und farbenreichem<br />

Klavier. UH<br />

Schubert, Brahms, Sibelius u. a.:<br />

„… into the deepest Sea!“,<br />

Sarah Wegener, Götz Payer (CAvi)<br />

Track 10 auf der crescendo<br />

Abo-CD: Solveigs Sang op. 23<br />

Nr. 19 von Grieg<br />

LIED<br />

FOTO: SIMON DAVID TSCHAN<br />

33


H Ö R E N & S E H E N<br />

Minguet Quartett<br />

Glutvoll<br />

Es gibt Gerüchte, die sind einfach nicht aus der Welt zu<br />

schaffen, auch wenn sie alles andere als zutreffend sind. Im<br />

Falle des österreichischen Erzromantikers Robert Fuchs war<br />

es ein Bonmot seines Komponistenkollegen Josef Hellmesberger,<br />

der den letzten Satz von Fuchs’ Fünfter Serenade mit<br />

den Worten „Fuchs, die hast du ganz gestohlen“ kommentierte,<br />

obwohl das Werk als Hommage an den „Walzerkönig“<br />

gedacht war und alles andere als ein Plagiat ist. Der<br />

Nachwelt waren solche Feinheiten egal, der Ruf schien<br />

zementiert, zumal Fuchs auch noch gut mit Johannes Brahms<br />

befreundet war und gerne als dessen Epigone tituliert<br />

wurde. Die Einspielung der ersten vier Streichquartette<br />

durch das Minguet Quartett könnte daran vielleicht etwas<br />

ändern, denn die vier Musiker plädieren so glutvoll und überzeugend<br />

für diesen Komponisten,<br />

dass man sich ihrem Spiel einfach<br />

nicht zu entziehen vermag. Auf die<br />

Fortsetzung darf man getrost<br />

gespannt sein. GK<br />

Robert Fuchs: „Complete String Quartets“,<br />

Minguet Quartet (MDG)<br />

SOLO<br />

Daniel Hope<br />

Grandioser Fabulierer<br />

Mozart als Tableau vivant. Hope spielt nicht, er malt. Einem Vermeer<br />

gleich setzt er Lichtpunkte, die dem Vertrauten das Unvertraute<br />

zurückschenken. Wo bei anderen Interpretationen Mozarts<br />

in der Routine allzu häufiger Wiederholung alle Farbenflut verebbt,<br />

zaubert Hope ungeahnte Nuancen. Als brillanter Fabulierer begibt<br />

er sich im Zwiegespräch mit dem kongenialen Zürcher Kammerorchester<br />

auf wundersame Reise zu Mozarts Drittem Violinkonzert. Es<br />

ist eine Reise durch die Zeit, die – neben Gluck, Salomon und<br />

Mysliveček – Mozart das gleichfalls arienhafte Violinkonzert Hob.<br />

VIIa:4 Haydns gegenüberstellt. Wissend, dass Mozarts letztes Violinkonzert<br />

KV 219 in ein Alla turca mündet, wird das Alla turca seiner Klaviersonate<br />

in der Bearbeitung für Violine zur<br />

perfekten Zugabe dieses Albums. Hope ist in<br />

seiner fluoreszierender Leichtigkeit einfach<br />

grandios! SELL<br />

„Journey to Mozart“, Daniel Hope, Zurich Chamber<br />

Orchestra (Deutsche Grammophon)<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

Er ist ein begehrter Klarinettist und heftig akklamiert als Gewandhauskomponist.<br />

Dort repräsentiert Jörg Widmann am gleichen Ort<br />

wie einstmals Robert Schumann die musikalische Gegenwart. Das<br />

war der Anlass zur Gegenüberstellung der Weltersteinspielung von<br />

Widmanns eigenen fünf Stücken im Märchenton mit den musikalischen<br />

Märchenbildern und -erzählungen des Romantikers. Tabea<br />

Zimmermann, Dénes Várjon und der selbst mitspielende Komponist<br />

nähern sich den Kostbarkeiten dieser liebevollen Edition mit verträumter<br />

Gelassenheit. Diese Idyllen in ungewöhnlicher Besetzung<br />

sind ein lyrischer Kampf der Poesie gegen die Prosa des Alltags. Jörg<br />

Widmann verbirgt in seinen fünf Sätzen, dass es ihm weniger um echte<br />

Tabea Zimmermann, Jörg Widmann, Dénes Várjon<br />

Märchen aus unsicheren Zeiten<br />

Märchen als um Muster früheren Erzählguts geht. Schumann dagegen,<br />

der zur Entstehungszeit mit seiner Legendenoper Genoveva rang,<br />

bannte intellektuelle Sehnsucht nach dem Wunderbaren in musikalische<br />

Sätze mit Fantasiepotenzial: Salonkultur zwischen Brüder<br />

Grimm und Ludwig Richter. DIP<br />

„Es war einmal ... Märchenerzählungen von Robert Schumann und Jörg Widmann“,<br />

Tabea Zimmermann, Jörg Widmann, Dénes Várjon (myrios classics)<br />

Track 4 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Märchenerzählungen für Klarinette, Viola und Klavier op. 132.<br />

III. Ruhiges Tempo mit zartem Ausdruck<br />

FOTO: FRANK ROSSBACH<br />

34 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


SOLO<br />

Martin Helmchen<br />

Analytisch, präzise, klug<br />

Erbaut sind sie fast aus dem<br />

Nichts: aus einem kleinen Walzer<br />

des eitlen und nicht allzu seriösen<br />

Verlegers namens Anton Diabelli.<br />

Der hatte <strong>18</strong>19 alle namhaften<br />

„vaterländischen“ Komponisten<br />

gebeten, ihm eine Variation<br />

darauf zu komponieren. Franz<br />

Schubert lieferte brav eine Variante<br />

wie auch der erst zwölfjährige<br />

Franz Liszt. <strong>18</strong>23 folgte Beethoven,<br />

eher lustlos, anfangs<br />

wollte ihn der „Schusterfleck“<br />

nicht inspirieren. Doch dann war<br />

es um ihn geschehen – und Diabelli<br />

zahlte gut. 33 Variationen<br />

entstanden, einer „der größten<br />

Berge, die man als Pianist erklimmen<br />

kann“, sagt Martin Helmchen.<br />

Klug und analytisch sind<br />

seine Ausführungen im Booklet<br />

wie auch seine Interpretation.<br />

Beethovens systematische Zerlegung,<br />

ja regelrechte Skelettierung<br />

von Diabellis munterem Tanz<br />

folgt Helmchen mit absoluter<br />

Konsequenz und Präzision.<br />

Gleichzeitig gelingt es ihm,<br />

Gegensätzliches und Gemeinsames<br />

unter einem Bogen zu vereinen<br />

– eine unglaubliche Verausgabung<br />

seiner introvertierten<br />

Künstlerpersönlichkeit. TPR<br />

Paul Armin Edelmann<br />

Schuberts Liebesgeschichten<br />

Der künstlerische Ansatz, den Bariton Paul Armin Edelmann bei seinem<br />

„Schubert Album“ verfolgt, könnte überzeugender nicht sein: Als<br />

„Erzähler“ möchte er uns die Geschichten nahebringen, die der Komponist<br />

in seinen Liedern festgehalten hat. Und dabei das, was wir<br />

hören, fühlen oder assoziieren, uns überlassen. Abgesehen von dieser<br />

überaus klugen, im besten Sinne uneitlen Haltung hat Edelmann eine<br />

großartige Stimme, wie geschaffen für das Lied und dessen feine Nuancen.<br />

Die meist bewegten Geschichten, die er für das Album ausgewählt<br />

hat, kreisen um Liebe und Liebesleid (so etwa Bei dir allein oder An mein<br />

Herz) – aber auch Prometheus und der rätselhafte Leiermann aus der<br />

Winterreise sind dabei. Ein fesselnder Querschnitt durch Schuberts<br />

Liedschaffen – hörenswert auch für all jene, die<br />

ihren Lieblingsinterpreten eigentlich schon<br />

gefunden haben. JH<br />

FOTO: GIORGIA BERTAZZI<br />

Ludwig van Beethoven: „Diabelli Variations“, Martin Helmchen<br />

(Alpha)<br />

LIED<br />

IMPRESSUM<br />

VERLAG<br />

Port Media GmbH, Rindermarkt 6, 80331 München<br />

Telefon: +49-(0)89-74 15 09-0, Fax: -11<br />

info@crescendo.de, www.crescendo.de<br />

Port Media ist Mitglied im Verband Deutscher Zeitschriftenverleger<br />

und im AKS Arbeitskreis Kultursponsoring<br />

HERAUSGEBER<br />

Winfried Hanuschik | hanuschik@crescendo.de<br />

VERLAGSLEITUNG<br />

Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

ART DIRECTOR<br />

Stefan Steitz<br />

REDAKTIONSLEITUNG<br />

Dr. Maria Goeth (MG)<br />

REDAKTION „ERLEBEN“<br />

Ruth Renée Reif (RR)<br />

SCHLUSSREDAKTION<br />

Maike Zürcher<br />

KOLUMNISTEN<br />

John Axelrod, Axel Brüggemann, Attila Csampai (AC),<br />

Daniel Hope, Christoph Schlüren (CS), Stefan Sell (SELL)<br />

MITARBEITER DIESER AUSGABE<br />

Roland H. Dippel (DIP), Verena Fischer-Zernin (VFZ), Malve Gradinger (GRA), Ute Elena<br />

Hamm (UH), Julia Hartel (JH), Sina Kleinedler (SK), Katherina Knees (KK), Corina Kolbe<br />

(CK), Guido Krawinkel (GK), Jens Laurson (JL), Arno Lücker (AL), Anna Mareis (AM),<br />

Teresa Pieschacón Raphael (TPR), Alexander Rapp (LXR), Antoinette Schmelter-Kaiser<br />

(ASK), Barbara Schulz (BS), Uta Swora (US), Mario Vogt (MV), Dorothea Walchshäusl<br />

(DW), Walter Weidringer (WW), Daniel Windheuser (WIN)<br />

VERLAGSREPRÄSENTANTEN<br />

Tonträger: Petra Lettenmeier | lettenmeier@crescendo.de<br />

Kulturbetriebe: Cornelia Engelhard | engelhard@crescendo.de<br />

Touristik & Marke: Heinz Mannsdorff | mannsdorff@crescendo.de<br />

Verlage: Hanspeter Reiter | reiter@crescendo.de<br />

AUFTRAGSMANAGEMENT<br />

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Nr. 21 vom 09.09.2017<br />

DRUCK<br />

Westermann Druck, Georg-Westermann-Allee 66, 38104 Braunschweig<br />

VERTRIEB<br />

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crescendo ist im Zeitschriftenhandel, bei Opern- und Konzert häusern, im Kartenvorkauf<br />

und im Hifi- und Tonträgerhandel erhältlich. Copyright für alle Bei träge bei Port Media<br />

GmbH. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung des Verfassers, nicht<br />

unbedingt die der Redaktion wieder. Nachdruck und Vervielfältigung, auch auszugsweise,<br />

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und Fotos wird keine Gewähr übernommen.<br />

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Festspiel-Guide“ und zusätzlich sechs exklusive heftbegleitende Premium-CDs und kostet<br />

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Verbreitete Auflage:<br />

76.295 (lt. IVW-Meldung 1I/2017)<br />

ISSN: 1436-5529<br />

geprüfte Auflage<br />

(TEIL-)BEILAGEN / BEIHEFTER:<br />

Gewandhaus Leipzig<br />

Zeitverlag<br />

„The Schubert Album“, Paul Armin Edelmann, Charles Spencer<br />

(Capriccio)<br />

Track 11 auf der crescendo Abo-CD:<br />

Greisengesang op. 60 Nr. 1 D 778<br />

DAS NÄCHSTE <strong>CRESCENDO</strong><br />

ERSCHEINT AM 16. MÄRZ 20<strong>18</strong>.<br />

crescendo<br />

unterstützt<br />

35


H Ö R E N & S E H E N<br />

FOTO: WIENER STAATSBALLETT, ASHLEY TAYLOR<br />

TANZ<br />

Rudolf Nurejew<br />

Tanzbesessen<br />

So viel Tanz war nie! Natürlich wird in allen Don-Quixote-Versionen zu Ludwig Minkus’<br />

gezielt ballettbestimmter Musik herzhaft viel getanzt. Aber Rudolf Nurejew<br />

hielt sich 1966 in seiner Fassung für das damalige Wiener Staatsopernballett nicht<br />

nur eng an die Petipa-Urfassung von <strong>18</strong>69/71. Bei allem, von ihm auch bestens<br />

bedienten, Komödien-Humor um den skurrilen „Don Q.“ und seinen Sancho Pansa,<br />

lebte Nurejew hier seine Tanzbesessenheit voll aus. Ob das Liebesgeplänkel<br />

zwischen Kitri und Basil – in Weltklasseformat von Maria Yakovleva und Denys<br />

Cherevychko dargeboten –, ob Seguidillas und Fandangos oder hochklassische<br />

Dryaden-Königin mit Gefolge: Alle Solo-Variationen, die zahlreichen Pas de deux<br />

bis zu den Pas de cinq und sogar die großen Ensembles sind geradezu<br />

schwindelerregend kompliziert-schrittdicht in der Fußarbeit gestaltet,<br />

dabei so tänzerisch beweglich im Oberkörper, dass man Manuel Legris’<br />

geschliffen tanzendem, von Dirigent Kevin Rhodes temperamentvoll angefeuerten<br />

Wiener Staatsballett nur dankbar sein kann, dieses Nurejew-<br />

Vermächtnis so sorgsam zu pflegen. GRA<br />

Ludwig Minkus: „Don Quixote“, Rudolf Nureyev, Wiener Staatsballett (Cmajor)<br />

BAROCK<br />

Dorothee Mields<br />

Gefühlsfülle<br />

Ob Liebe oder Hass, ob Trauer oder Furcht: Die Sprache<br />

der Musik vermag jedes noch so menschliche Gefühl auf<br />

ihre eigene Art und Weise in Szene zu setzen. Das Album<br />

„La dolce vita“ würdigt mit Claudio Monteverdi einen<br />

wahren Meister der musikalischen Affektdarstellung. Mal<br />

begleitet vom Basso continuo, mal von obligaten Streichern<br />

und Bläsern erweckt Sopranistin Dorothee Mields<br />

weltliche wie geistliche Madrigale des venezianischen<br />

Komponisten zum Leben. Zusammen mit der faszinierend<br />

transparent und vital aufspielenden Lautten Compagney –<br />

Leitung Wolfgang Katschner – schwelgt Mields in einem<br />

intensiven Kosmos der Emotionen. Mal glückstrunken, mal<br />

schmerzvoll, mal verführerisch, mal verzweifelt gelingt der<br />

Sängerin mit virtuoser Leichtigkeit und betörender<br />

Wärme im Klang eine beeindruckende musikalische Huldigung<br />

von nichts Geringerem als<br />

dem Leben selbst in seiner ganzen<br />

emotionalen Fülle. DW<br />

Claudio Monteverdi: „La dolce vita“,<br />

Dorothee Mields, Lautten Compagney,<br />

Wolfgang Katschner (dhm)<br />

Christian Thielemann<br />

Mit Sammlerwert<br />

Ja, Karajan war auch Opernregisseur. 1967 zeigte er seine Walküre bei den allerersten<br />

Salzburger Osterfestspielen. Christian Thielemann, profunder Wagnerianer,<br />

Anbeter des Gestrigen und einst Karajan-Assistent, lud die Regisseurin Vera<br />

Nemirova fünfzig Jahre danach ein, Karajans „Vision“ von damals im nachgebauten<br />

Bühnenbild von Günther Schneider-Siemssen an Ort und Stelle zu reanimieren.<br />

Das Resultat: Eine pomadige post-mortem-Allianz von Leni Riefenstahl und<br />

Wolfgang Wagner, zu der Nemirovas Regie so gut passt wie Erwachsene auf<br />

einen Kinderspielplatz. Thielemanns Staatskapelle bietet dagegen einen nussigen<br />

Wagner-Klang. Aus dem souveränen Sänger-Ensemble bebt<br />

Vitalij Kowaljow als Schmerzensmann Wotan heraus. Die Bildtiefenschärfe<br />

dürfte brillanter sein, der Sound von Orchester<br />

und Solisten rückt dem Hörer allerdings wohlig auf die Pelle.<br />

Eine DVD mit ganz merkwürdigem „Sammlerwert“. AL<br />

Richard Wagner: „Die Walküre“, Christian Thielemann, Staatskapelle Dresden,<br />

Vera Nemirova (C Major)<br />

Martha Argerich<br />

Argentinische Klaviermagierin<br />

Unter den unzähligen Aufnahmen der beiden Konzerte von Chopin<br />

gibt es nur wenige, die einen vom ersten Klaviereinsatz an so fesseln und elektrisieren<br />

wie die, die Martha Argerich mit ihrem Ex-Ehemann Charles Dutoit 1998 in<br />

Montréal zu wahren Vulkanausbrüchen der Leidenschaft verdichtete! Dagegen<br />

wirken fast alle männlichen Konkurrenten wie zahme Weicheier. Damit unterstrich<br />

die argentinische Klavierhexe ein weiteres Mal ihre Fähigkeit, das wirkliche<br />

emotionale Potenzial dieser beiden Jugendwerke so deutlich und entschieden in<br />

flammende Klangrede zu verwandeln, dass neben aller Schönheit auch das Seelendrama<br />

und das revolutionäre Pathos beider Konzerte den Hörer durchfluten. Hier<br />

agiert eine Totalmusikerin, ein echtes Orakel, die entschieden den Ton, die Richtung<br />

vorgibt und Orchester wie Dirigenten in ihren<br />

Bann zieht. Nach diesem Feuerwerk der<br />

gebündelten Leidenschaft ist man ein anderer,<br />

und deshalb sollte sich jeder Vinyl-Freak<br />

das tadellos gepresste Doppelalbum nicht<br />

entgehen lassen. AC<br />

Chopin: „Piano Concertos Nos. 1 & 2“, Martha Argerich,<br />

Charles Dutoit, Orchestre Symphonique de Montréal (Warner)<br />

OPER<br />

FOTO: OFS FORSTER<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


SOLO<br />

Emmanuel Tjeknavorian<br />

Eleganz, Temperament<br />

und Virtuosität<br />

Ein wahrlich virtuoses Programm für Violine solo hat Emmanuel Tjeknavorian<br />

für sein Debütalbum zusammengestellt. Neben erwartbarem<br />

Repertoire wie Bachs Chaconne oder Ysaÿes Fünfter Sonate bringt der<br />

22-jährige Österreicher mit armenischen Wurzeln auch ein Werk seines<br />

Landsmanns Christoph Ehrenfellner (*1975) zu Gehör, das Elemente<br />

der spätromantisch-virtuosen Tonsprache mit alpenländischer<br />

Volksmusik kombiniert. Tjeknavorian meistert diese enorm fordernden<br />

Stücke absolut souverän. Bei manchen Geigern zerfällt die<br />

Bach-Chaconne in lauter einzelne Episoden, Tjeknavorian spielt sie wie<br />

aus einem Guss, mit schlankem biegsamen Ton, tänzerischer Eleganz<br />

und profundem strukturellen Verständnis.<br />

Groß und romantisch interpretiert er Prokofjews<br />

Sonate, stupend brillant die aberwitzig<br />

schwierige Letzte Rose von Heinrich Wilhelm<br />

Ernst. Ein beeindruckendes Debüt, das neugierig<br />

macht auf mehr. MV<br />

„Solo“, Emmanuel Tjeknavorian (Sony)<br />

FOTO: UWE ARENS<br />

Nicolai<br />

Lugansky<br />

© Jean-Baptiste Millot<br />

KAMMER-<br />

MUSIK<br />

Ensemble Raro<br />

Es rappelt im Ethnokarton<br />

Wer Komponisten wie Ahmed Saygun, Béla Bartók oder George<br />

Enescu in die Ethnoschublade der Musik des 20. Jahrhunderts stecken<br />

will, darf das getrost – wenn es den Einstieg in ihre Musik erleichtert.<br />

Die Zuordnung stimmt im Großen und Ganzen, und wo sie beengt,<br />

bricht die Musik schon von selbst aus. Die Erste Rumänische Rhapsodie<br />

von George Enescu fühlt sich hörbar wohl in dieser Schublade: Die<br />

Musik fliegt nur so dahin – ein Zigeunermusik-Imitat, das einen vom<br />

Hocker reißt und in dieser Klavierquartettfassung von Thomas Wally<br />

noch authentischer und direkter erscheint als in Enescus Orchesterversion.<br />

Intimere, nachdenklichere Töne werden in Enescus angespannt-romantischer<br />

Dritten Violinsonate und Bartóks Miniatur Ein<br />

Abend am Lande angestimmt. In den von Gilles Apap und Diana Ketler<br />

ganz großartig gespielten Bartók’schen Rumänischen Volkstänzen dominiert<br />

die Lyrik – bis auf die zwei furiosen,<br />

gewitzten und gewürzten Schlusssätze. Träumerisch-schön<br />

post-Brahmsisch rundet die<br />

Nocturne Ville d’Avrayen für Klavierquartett das<br />

Programm ab. JL<br />

George Enescu, Béla Bartók: „Rhapsodie Roumaine“,<br />

Ensemble Raro, Gilles Apap, Diana Ketler (Solo Musica)<br />

Sergej RACHMANINOW<br />

24 Preludien<br />

Rachmaninow hat das Genre der Preludien mit seiner<br />

grenzenlosen musikalischen Erfindung und seinen<br />

furchterregenden technischen Anforderungen zum<br />

höchsten Grad an Perfektion erhoben. In seiner<br />

ersten Aufnahme für harmonia mundi meistert<br />

Nikolai Lugansky die Herausforderung glänzend und<br />

bietet ein Programm der schönsten Werke in seinem<br />

Repertoire. Ein Höhepunkt pianistischer Zauberei!<br />

HMM 902339<br />

37<br />

harmoniamundi.com


H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

MUSIK-WELTBÜRGER<br />

Opernruhm, politischer Widerstand und musikalische Vielfalt –<br />

zum 100. Geburtstag von Gottfried von Einem.<br />

Am 24. Februar wäre er 100 Jahre alt geworden: Gottfried<br />

von Einem ist zwar ein geläufiger Name in der klassischen<br />

Moderne, doch wer kennt seine Musik? Allenfalls<br />

einige seiner Opern, allesamt rauschende Premierenerfolge,<br />

tauchen weiterhin auf den Spielplänen auf: Dantons Tod<br />

nach Büchner, Der Prozess nach Kafka oder Der Besuch der alten<br />

Dame nach Dürrenmatt. Dantons Tod, 1947 das erste Bühnenwerk<br />

überhaupt, das bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde,<br />

war lange Zeit die erfolgreichste Oper der Nachkriegszeit.<br />

Von Einem, 19<strong>18</strong> in Bern geboren, wuchs in Schleswig-Holstein<br />

auf und machte während des Dritten<br />

Reichs die ersten Schritte an die<br />

Öffentlichkeit. Als Korrepetitor unter<br />

Heinz Tietjen lernte er in Berlin<br />

zunächst das Opernhandwerk von der<br />

Pike auf, bevor er ab 1941 bei Boris Blacher,<br />

jenem großen Meister der inneren<br />

Emigration, privat Komposition studierte.<br />

Blacher vermittelte ihm nicht nur<br />

strukturelle Ausrichtung innerhalb des<br />

Metiers, sondern endlich auch eine klare<br />

ethisch-politische Orientierung. Man<br />

hörte gemeinsam die „Feindsender“<br />

und bewegte sich in Widerstandskreisen.<br />

Von Einems Mutter spielte virtuos<br />

auf der Klaviatur der Hochfinanz und<br />

Politik und bezahlte dafür zunächst – als<br />

„Mata Hari“ des Dritten Reichs verdächtigt<br />

– mit Gestapo-Haft und einem<br />

Todesurteil in Paris in Abwesenheit,<br />

nach dem Krieg dann mit langjähriger<br />

Gottfried von Einem<br />

Haft in Frankreich, bevor der Freispruch erfolgte. Bis zum Ende<br />

ihres Lebens leugnete sie, dass Gottfried von Einems leiblicher Vater<br />

der ungarische Graf László Hunyady war, der auf einer gemeinsamen<br />

Großwildjagd in Ägypten von einem Löwen zerrissen wurde.<br />

Nach dem Krieg war Gottfried von Einem Direktoriumsmitglied<br />

der Salzburger Festspiele und läutete dort eine neue Ära zeitgenössischer<br />

Musik ein. Wir verdanken ihm aber auch, dass Furtwängler<br />

Don Giovanni und Othello dirigierte. Er wehrte sich letztlich<br />

erfolglos gegen die totale Machtübernahme Karajans und des<br />

hedonistischen Kommerzialismus, da man ihn aus dem Direktorium<br />

warf, nachdem er sich für den „Kommunisten“ Bertolt Brecht<br />

eingesetzt und diesem einen österreichischen Pass verschafft hatte.<br />

Auch sein Plan, Brecht einen „Salzburger Totentanz“ als Ersatz für<br />

Hofmannsthals Jedermann schreiben zu lassen, wurde ausgehebelt.<br />

Doch umso steiler war in den 1950er-Jahren sein Aufstieg als Komponist,<br />

dessen Werke Dirigenten wie Karajan, Kubelík, Keilberth,<br />

Solti, Böhm, Sawallisch oder Mehta aus der Taufe hoben.<br />

Im Laufe der 1960er-Jahre wurde die Kritik von Seiten der<br />

Avantgardisten immer lauter. Man warf ihm – wie Schostakowitsch<br />

oder Britten – Rückständigkeit vor. Von Einem kümmerte sich nicht<br />

um Neider und Gegner und polemisierte<br />

gegen den Dilettantismus der dogmatischen<br />

Serialisten und Postserialisten. Jenseits seiner<br />

höchst wirkungsvollen Opern und der<br />

beiden kraftvollen Kantaten Stundenlied<br />

und An die Nachgeborenen schuf er großartige<br />

Orchesterwerke in einem extrem breit<br />

gefächerten, in seiner Gegenwärtigkeit,<br />

innig empfundenen Sanglichkeit und subtilen<br />

architektonischen Meisterschaft unverkennbar<br />

persönlichen Ausdrucksspektrum.<br />

Darunter sind neben vier Sinfonien Werke<br />

wie der Bruckner-Dialog oder die Orchestermusik<br />

op. 9 mit ihren wilden Kaskaden hervorzuheben.<br />

Seine knapp geformten Lieder<br />

sind wunderbar, und als Höhepunkte<br />

möchte ich seine fünf Streichquartette nennen.<br />

Gottfried von Einem war einer der<br />

feinsten Komponisten seines Jahrhunderts.<br />

Er starb 1996 in seiner niederösterreichischen<br />

Wahlheimat Oberdürnbach und<br />

wurde postum für die unerschrockene Rettung eines jüdischen Kollegen<br />

vor den Nazi-Schergen in Yad Vashem als „Gerechter der<br />

Völker“ verewigt. Die ernsthafte Beschäftigung mit dem zeitlosen<br />

Schaffen dieses musikalischen Weltbürgers,<br />

dessen mystische Oper Jesu Hochzeit von den<br />

Inquisitoren der katholischen Kirche diffamiert<br />

wurde, ist überfällig.<br />

n<br />

Gottfried von Einem: „Philadelphia Symphonie“,<br />

Wiener Philharmoniker, Franz Welser-Möst (Orfeo)<br />

FOTO: WERNER NEUMEISTER<br />

38 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Hiromi & Edmar Castaneda<br />

Explosive Saitenspiele<br />

Die japanische Pianistin Hiromi zählt seit 15 Jahren zu den aufregendsten Virtuosinnen<br />

des Fusion-Jazz-Rock: In ihrem rasanten Spiel verdichten sich alle<br />

großen Jazz-Pianisten von Art Tatum bis Chick Corea, und ihre stilistische<br />

Vielfalt ist einfach berauschend. Ihr neuestes Album enthält den Mitschnitt<br />

ihres ersten Auftritts mit dem ähnlich explosiven kolumbianischen Harfenisten<br />

Edmar Castaneda beim Jazz-Festival in Montreal im Juni 2017. Diese<br />

exotische Kombination von wesensverwandten Saiten-Instrumenten birgt für<br />

zwei solche Hexenmeister ein völlig neues Experimentierfeld für fantastische<br />

Dialoge und unerhörte Klangmischungen. Höhepunkt des Albums ist eine<br />

30-minütige Suite, in der die beiden in schönster impressionistischer Lautmalerei<br />

die Naturkräfte beschwören: Luftschwingungen,<br />

grunzende Erdhügel und perlende Wasserspiele<br />

münden in einen vulkanischen Feuertanz, der uns<br />

nach Südamerika entführt und mit Piazzollas Libertango<br />

seinen befreienden Abschluss findet: ein elektrisierendes<br />

Album. AC<br />

JAZZ<br />

Hiromi & Edmar Castaneda: „Live in Montreal“ (Telarc)<br />

Oscar Peterson in memoriam<br />

Liebeserklärungen an Oscar<br />

Oscar Peterson war neben Art Tatum der bedeutendste Jazz- Pianist des 20.<br />

Jahrhunderts: Als „Maharadja der Tasten“ prägte er über sechs Jahrzehnte das<br />

virtuose Klavierspiel und beeinflusst durch seine unzähligen Aufnahmen bis<br />

heute alle nachfolgenden Pianisten-Generationen. Zu seinem zehnten Todestag<br />

hat seine Witwe Kelly nun einen illustren Kreis von klavierspielenden<br />

Peterson-Verehrern zu sich nach Kanada eingeladen und sie gebeten, über<br />

ausgewählte Kompositionen ihres Mannes zu improvisieren. Im Lauf eines Jahres<br />

folgten 14 Top-Pianisten ihrem Ruf und hinterließen 37 Liebeserklärungen<br />

an Oscar, die jetzt in einer audiophilen 3-CD-Edition erschienen sind. Neben<br />

Altmeistern wie Monty Alexander, Kenny Baron, Ramsey Lewis und Chick<br />

Corea ließen sich auch jüngere Piano-Cracks wie Benny Green, Gerald Clayton,<br />

Justin Kauflin oder Japans Klavierhexe Hiromi vom Zauber von Oscars<br />

eigenem Bösendorfer-Flügel inspirieren und erweckten dabei auch unveröffentlichte<br />

Titel Petersons zu neuem Leben. Herauskam eine wunderbare, in<br />

jedem Moment tief empfundene, von purer Seelenenergie<br />

durchflutete Hommage von lauter Großmeistern<br />

an ihr hochverehrtes Idol und eines der bewegendsten<br />

Klavieralben der letzten Jahre. AC<br />

„Oscar, with Love – 14 Pianisten spielen Oscar Peterson“<br />

(Two Lions Records)<br />

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky<br />

Mann aus Porzellan<br />

Aktuelle<br />

NEUHEITEN<br />

bei Sony Classical<br />

Sonya Yoncheva | Das Verdi Album<br />

Erhältlich ab 02.02.<strong>18</strong><br />

www.sonyayoncheva.com<br />

Anita Rachvelishvili<br />

Erhältlich ab 02.03.<strong>18</strong><br />

www.anitarachvelishvili.com<br />

Nuria Rial | Vocalise<br />

Einmal mehr beweist<br />

die ECHO Klassik<br />

Preisträgerin auf ihrem<br />

neuen Album mit Verdi-<br />

Arien, über welche<br />

Ausnahmestimme sie<br />

verfügt. Begleitet wird<br />

sie vom Münchner<br />

Rundfunkorchester.<br />

Die junge Mezzosopranistin<br />

gilt als<br />

derzeit beste Carmen.<br />

Auf ihrem ersten Album<br />

präsentiert sie Arien aus<br />

Carmen, Il Trovatore,<br />

Cavalleria Rusticana,<br />

Don Carlos u.a., begleitet<br />

vom Orchestra Sinfonica<br />

Nazionale della Rai.<br />

Um Tschaikowskys Leben als elektrisierende Geschichte zu erzählen, muss<br />

nichts hinzugefügt werden: Zwischen Überempfindlichkeit und Angstzuständen,<br />

unglücklicher homosexueller Liebe und quälendem Heimweh, Lampenfieber<br />

und Menschenscheu irrt er – emotional ein „Mann aus Porzellan“ –<br />

rastlos durch ein Russland zwischen Cholera und Zarenkritik. Der BR setzt<br />

mit Tschaikowsky nun seine Reihe von Hörbiografien berühmter Komponisten<br />

fort. Autor Jörg Handstein hat ein packendes Hörbuch von großer<br />

Informationsdichte geschaffen, durchweg gut gelesen etwa von Tatort-Kommissar<br />

Udo Wachtveitl oder Schauspieler Stefan Wilkening. Die unzähligen<br />

kurzen Musikbeispiele machen gewaltig Lust auf Tschaikowsky-Musik im<br />

Ganzen, ein Verlangen, das auf der vierten und letzten CD der Box sogleich<br />

gestillt wird: Sie enthält die berühmte, neun Tage vor Tschaikowskys Tod vollendete<br />

Sinfonie Nr. 6 „Pathétique“ und das wenig<br />

bekannte Chorwerk Die Nachtigall – natürlich „hauseigen“<br />

gesungen und gespielt vom Chor und Symphonieorchester<br />

des Bayerischen Rundfunks unter<br />

Mariss Jansons. MG<br />

Erhältlich ab 09.02.<strong>18</strong><br />

www.nuriarial.com<br />

Nuria Rial und die<br />

8 Cellisten des<br />

Sinfonieorchesters<br />

Basel haben Werke von<br />

Piazzolla, Villa-Lobos,<br />

Casals und Vivancos<br />

eingespielt.<br />

HÖR-<br />

BUCH<br />

„Tschaikowsky. Der Wille zum Glück. Eine Hörbiografie von Jörg<br />

Handstein“, Udo Wachtveitl, Stefan Wilkening (BR Klassik)<br />

39<br />

www.sonyclassical.de<br />

www.facebook.com/sonyclassical


A K U S T I K<br />

WIE AUS<br />

TAUSENDUNDEINER NACHT<br />

Mystik, Religion und kulturelle Identität – die türkische Langhalslaute Bağlama hat nicht nur<br />

einen faszinierenden orientalischen Klang, sondern auch frappierende Symbolkraft.<br />

VON ALEXANDER RAPP<br />

FOTO: ALEXANDER RAPP<br />

Taner Akyol<br />

gehört zu den<br />

besten Spielern<br />

der türkischen<br />

Langhalslaute<br />

Bağlama<br />

40 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


In einem Studio in Berlin Kreuzberg arbeitet Taner Akyol. Auf<br />

seinem Schoß ruht eine Bağlama, die typische anatolische Langhalslaute.<br />

Taner Akyol ist nicht nur einer der besten<br />

Bağlamaspieler, sondern auch mehrfach ausgezeichneter Komponist,<br />

dessen Kinderoper Ali Baba und die vierzig Räuber 2012<br />

mit großem Erfolg an der Komischen Oper Berlin uraufgeführt<br />

wurde. 2017 spielte er in der Berliner Philharmonie mit seinem<br />

Trio zusammen mit dem legendären türkischen Pianisten Fazıl<br />

Say, der mit der Sängerin Serenad Bağcan seine Vertonungen türkischer<br />

Gedichte aufführte. Der Klang von Taner Akyols Instrument<br />

evoziert unvermeidlich orientalische Bilder aus Tausendundeiner<br />

Nacht. Dabei ist die Bağlama das wichtigste Begleitinstrument<br />

in der klassischen Musik des<br />

osmanischen Hofes und der türkischen<br />

und zentralasiatischen Volksmusik<br />

von Anatolien über Armenien<br />

und Aserbaidschan bis in den Iran.<br />

Für die Turkvölker, deren identitätsstiftende<br />

Traditionen mündlich<br />

überliefert und weitergegeben werden,<br />

ist die Bağlama vom Begleitinstrument,<br />

zu dem die traditionellen<br />

Geschichten und Gedichte gesungen<br />

werden, selbst zum Symbol für ihre<br />

Identität geworden. Der Klang der<br />

Bağlama ist im gesellschaftlichen<br />

Leben vieler Menschen bis heute präsent.<br />

Vor allem für die Aleviten, bei<br />

denen die Feier des Gottesdienstes<br />

nicht in der Moschee, sondern im<br />

Kreis der Familie vollzogen wird, ist<br />

die Bağlama als zentrales Element<br />

des Gottesdienstes und anderer Rituale<br />

selbst Teil der Familie. In Taner<br />

Akyols Studio hängt ein fast lebensgroßes<br />

Foto zweier Männer aus dem<br />

Jahr 1938. Sie halten sich an der Hand,<br />

Vater und Sohn. Kurz nach der Aufnahme<br />

verschwanden sie im Massaker<br />

von Dersim, getötet oder vertrieben.<br />

Solche Geschichten gibt es in<br />

vielen alevitischen Familien, und sie werden durch die traditionellen<br />

Lieder lebendig gehalten. Gerade in Deutschland, dem wichtigsten<br />

Exilland für viele Anatolier, hat deren Volksmusik eine<br />

besondere Aktualität. Der Klang der Bağlama steht somit auch für<br />

eine Parallelkultur. Viele Aleviten anatolischer Abstammung, die<br />

in Deutschland aufgewachsen sind, haben die Heimat und Kultur<br />

ihrer Eltern und Großeltern aus den alten Liedern kennengelernt.<br />

Wie bei vielen Volksmusiken gibt es auch für die Volksmusik<br />

der Turkvölker so gut wie keine schriftlichen Quellen. Erst in den<br />

letzten 30 bis 40 Jahren haben einige Musiker und Wissenschaftler<br />

begonnen, die Lieder aufzuschreiben und dazu Notationen entwickelt,<br />

die die Besonderheiten der Musik und der Spielweise der<br />

Bağlama wiedergeben und auch für Musiker nachvollziehbar<br />

machen, die nicht mit dieser Musiktradition vertraut sind.<br />

Die Lieder stammen von sogenannten Âşık, die je nach sozialer<br />

Lage verschiedene Aufgaben haben. Sie fungieren als Bewahrer<br />

und Übermittler der Tradition, Unterhalter und politische oder<br />

religiöse Führer. In der Ausübung all dieser Funktionen ist der<br />

Klang der Bağlama gegenwärtig, was dem Instrument eine Reihe<br />

von Beinamen eingebracht hat: Weggefährte, Waffe, Koran mit<br />

Saiten. Die Wichtigkeit des Instruments zeigt sich besonders in<br />

BAĞLAMA<br />

Die Bağlama ist die mittelgroße einer Gruppe<br />

von als Saz bezeichneten Langhalslauten, die vom<br />

Balkan bis nach Afghanistan verbreitet sind, insbesondere<br />

in der Türkei und in der armenischen,<br />

iranischen, kurdischen, aserbaidschanischen und<br />

afghanischen Musik. Die Bağlama hat sechs bis<br />

sieben Saiten, die in drei „Chöre“ zusammengefasst<br />

sind.<br />

seiner Bezeichnung als Saz, was im Persischen einfach Instrument<br />

bedeutet. In der alevitischen Denkweise enthält Musik viele Elemente<br />

aus der Zahlenmystik und der religiösen Symbolik. Das<br />

zeigt sich zum einen in der Anzahl der Saiten: Viele Bağlama sind<br />

mit drei Chören zu je vier Saiten bespannt, ein Symbol für die<br />

zwölf Nachfahren des Propheten Ali, der wichtigsten religiösen<br />

Autorität der Schiiten und Aleviten. Die Symbolik reicht so weit,<br />

dass die Bağlama den Propheten Ali selbst verkörpert, wobei der<br />

Resonanzkörper ihn selbst und der Hals sein Schwert darstellt.<br />

Bereits in vorislamischer Zeit war die Kopuz, der Vorläufer der<br />

Bağlama, ein herausragendes Instrument der Turkvölker. Vorläufer<br />

der Kopuz verbreiteten sich im vierten Jahrhundert vor Christus<br />

aus dem damaligen Turkestan<br />

über China in weitere von Turkvölkern<br />

besiedelte Gebiete. Aus diesem<br />

Instrument, das einen Korpus aus<br />

Leder hatte, mit Darmsaiten bespannt<br />

war und ohne Bünde gespielt wurde,<br />

entwickelte sich im 17. Jahrhundert<br />

die Bağlama. Der Name, der „gebunden“<br />

bedeutet, leitet sich wahrscheinlich<br />

davon ab, dass das Instrument<br />

mit der Einführung von Stahlsaiten<br />

und einem Holzkorpus auch mit<br />

durch Angelschnur befestigten Bünden<br />

versehen wurde. Die Bağlama<br />

besteht aus einem halbbirnenförmigen<br />

Korpus, einem langen Hals und<br />

FOTO: TANER AKYOL<br />

dem Wirbelkasten. Sie wird in verschiedenen<br />

Größen hergestellt, die<br />

jeweils einen eigenen Namen haben:<br />

die kleine Cura, die Standardform<br />

Bağlama und die große Meydan Sazı.<br />

In neuerer Zeit werden auch<br />

Bassbağlamas gebaut, um Ensemblemusik<br />

nach westlichem Vorbild spielen<br />

zu können. Die Bağlama ist meistens<br />

mit dreichörigen Stahlsaiten<br />

bezogen. Die Anzahl der Saiten variiert<br />

dabei je nach Stimmung und<br />

Größe des Instruments. Sie wird entweder<br />

mit einem Plektrum gespielt oder mit den Fingern nach der<br />

Şelpe-Spielweise gezupft.<br />

Der besondere Klangcharakter des Instruments und der<br />

damit gespielten Musik kommt neben der Bauart und Spielweise<br />

der Bağlama vor allem von den besonderen Tonskalen, auf denen<br />

diese Musik beruht. Die zur Verfügung stehenden Intervalle dieser<br />

Skalen sind feiner unterteilt als das Tonmaterial der westlichen<br />

Musik, sie entsprechen ungefähr Vierteltönen. Die klassische<br />

osmanische Kunstmusik, die an den Höfen entstand, kennt 600<br />

dieser sogenannten Maqam-Skalen. In der Volksmusik kommen<br />

nur sechs solcher Skalen zum Einsatz.<br />

Heute nimmt sich eine Generation jüngerer Komponisten,<br />

teilweise türkischstämmig, aber auch immer mehr westliche, der<br />

Bağlama an und komponiert für dieses Instrument. Die Bedingung<br />

eines Kompositionswettbewerbs, der 2008 von der Zeitgenössischen<br />

Musikstiftung Brandenburg ausgeschrieben wurde,<br />

war die Verwendung der Bağlama als Soloinstrument. Seit 2015 ist<br />

eine Teilnahme bei „Jugend musiziert“ mit diesem Instrument<br />

möglich, und seit 2016 gibt es die Möglichkeit zum Studium der<br />

Bağlama als Hauptinstrument für Lehramt an der Universität der<br />

Künste Berlin.<br />

■<br />

41


R Ä T S E L<br />

GEWINNSPIEL<br />

Wer verbirgt sich hinter diesem Text?<br />

KARAJANMANIE<br />

Im Dezember verlosten wir über<br />

crescendo-Facebook eine große Karajan-Box<br />

(Gewinner: Eric Dietenmeier, München).<br />

Völlig überwältigt haben uns die mehreren hundert<br />

Leserkommentare dazu, was sie persönlich mit<br />

Karajan verbinden. Ob im Positiven oder Negativen,<br />

dieser Mann hat eine ganze Generation von Musikliebhabern<br />

begleitet und geprägt!<br />

„Trotz<br />

meiner<br />

riesigen<br />

Erfolge gibt<br />

es über<br />

manches<br />

auch geteilte<br />

Meinungen“<br />

In Italien geboren, kam ich nach meinem Trompeten- und Chormusikstudium<br />

als Musikassistent zum Rundfunk. Als Theaterkomponist<br />

arrangierte ich Musik und dirigierte Bands und Orchester. Ich brauchte<br />

Geld und dachte, Filmmusik zu schreiben wäre eine gute Idee. Aber ich<br />

bewarb mich bei niemandem in der Filmindustrie. Ich dachte: „Ein Filmemacher<br />

muss mich bitten, weil er glaubt, dass das, was ich schreibe,<br />

gut ist.“ Und so geschah es, dass ein Regisseur mich ansprach, dann<br />

noch einer, noch einer und so weiter. Denn meine Musik war anders als<br />

diese traditionell sinfonischen Kompositionen aus Hollywood. Bei mir<br />

riefen Eulen, heulten Kojoten, erklangen Maultrommeln, Pfiffe und<br />

Schreie. Mein Stil galt als ungewöhnlich innovativ, sodass sich viele<br />

andere Komponisten an mir orientierten, Metallica, Andrea Bocelli<br />

und Bruce Springsteen meine Musik coverten und ich Hitparadenerfolge<br />

feiern durfte. Besonders mit meinem Freund aus Kindertagen<br />

verband mich eine außergewöhnliche Zusammenarbeit. Unsere Filme<br />

wurden ein Erfolg, denn er verstand, dass Filmmusik Raum braucht,<br />

um sich entfalten zu können. „Der Film muss der Musik diese Zeit<br />

geben, um sich zu entwickeln.“ Ich schrieb Kammermusik, Kantaten,<br />

Messen und natürlich die Soundtracks zu über 500 Filmen, gewann<br />

diverse Preise für mein Schaffen und wurde mit dem Ehren-Oscar für<br />

mein Lebenswerk ausgezeichnet. Wenn man sich durch die Filme blättert,<br />

an denen ich gearbeitet habe, sieht man, dass ich ein Spezialist für<br />

Western, Liebesfilme, politische Filme, Actionfilme, Horrorfilme und<br />

so weiter bin. Mit anderen Worten: Ich bin gar kein Spezialist, weil ich<br />

alles gemacht habe. Ich bin ein Musikspezialist.<br />

■<br />

RÄTSEL LÖSEN UND<br />

JOHN WILLIAMS GEWINNEN!<br />

Was ist hier gesucht? Wenn Sie die Antwort kennen,<br />

dann schreiben Sie Ihre Lösung unter dem Stichwort<br />

„Alltags-Rätsel“ an die crescendo- Redaktion,<br />

Rindermarkt 6, 80331 München oder per E-Mail an<br />

gewinnspiel@crescendo.de. Unter den richtigen<br />

Einsendungen verlosen wir die CD-Box „John Williams, Conductor.<br />

20 Complete Albums” (Sony). Einsendeschluss ist der 01.03.20<strong>18</strong>.<br />

Die Gewinnerin unseres letzten Alltagsrätsels ist Monika Schedelmann,<br />

Oberbibrach. Die Lösung war „Gioachino Rossini“.<br />

crescendo-Herausgeber Winfried Hanuschik<br />

mit der gewichtigen Box des „Anstoßes“<br />

Ulli H. Als Kind habe ich ihn Beethoven dirigieren sehen. Habe<br />

immer Gänsehaut, wenn ich es wieder höre.<br />

Giuseppe S. Die Musik wurde von Italienern erfunden, Karajan<br />

hat sie verewigt.<br />

Karsten S. Ich kann mich an ein Interview mit Herrn von Karajan<br />

erinnern (1988?). Er war und wirkte alt. Man sah ihm seine<br />

Schmerzen an. Aber diese jungen Augen und Emotionalität, als<br />

er über das Neujahrskonzert 1987 sprach. Das hat mich unendlich<br />

berührt und hat ihn mir in einem völlig neuen Licht dargestellt.<br />

Ein großer Maestro mit allen Facetten. Aber im Grunde<br />

scheu und verletzlich, unendlich diszipliniert und willensstark.<br />

Ein Mensch und großartiger Musiker.<br />

Ursula S. Von meinem ersten Gehalt habe ich damals Beethovens<br />

Sinfonien gekauft. Wenn ich eine Schallplatte aus der Kassette<br />

nahm, sagte meine Mutter oft: „Das machst du feierlich.“<br />

Carsten K. ... Ein Altnazi, der nie zu seinem schändlichen Benehmen<br />

vor 1945 gestanden hat ... Ein Lackaffe, den die Branche<br />

viel zu lange zur unangreifbaren Ikone hochstilisiert hat, weil<br />

sich mit seinem Namen viel Geld verdienen ließ – und offenbar<br />

leider immer noch lässt.<br />

Nicole F. ... Ich habe ein großes Faible für diesen exzentrischen,<br />

charmanten, überheblichen Mann. Diese Haare, diese schnarrende<br />

Stimme!<br />

Irini S. Mit Karajan verbinde ich das totalitäre Moment der<br />

Schönheit ... Wenn ich seitdem seine Aufnahmen höre, kriege<br />

ich Gänsehaut, denn dann sehe ich das Orchester vor mir, wie es<br />

fast schon Wunder vollbringt, weil er/sie will und es vor allem<br />

kann – und vorne steht dieser Mensch, der sagt: „Ein Orchester<br />

hat keinen Klang, den macht der Dirigent.“<br />

42 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


ERLEBEN<br />

Die wichtigsten Termine und Veranstaltungen im Februar und <strong>März</strong> im Überblick (ab Seite 44)<br />

Kurt Weill Fest Dessau: Bettlerkönig, Kabarett und das wilde Berlin der 20er-Jahre (S. 50)<br />

Bachfest Leipzig: Der Festival-Gigant rund um den berühmten Thomaskantor (Seite S. 52)<br />

16. Februar bis 27. Mai, Frankfurt am Main<br />

VOM GRAFFITISPRAYER ZUM STAR<br />

DER KUNSTWELT – BASQUIAT<br />

„Verkaufen Sie Ihre Werke immer noch für einen Dollar?“,<br />

sollen die Worte gewesen sein, mit denen Andy Warhol am<br />

4. Oktober 1982 Jean-Michel Basquiat in seinem Atelier zu<br />

empfangen geruhte. Als triumphales Dokument der lange herbeigesehnten<br />

Verbindung malte Basquiat „Dos Cabezas“, ein<br />

Porträt von Warhol und sich selbst. Noch in derselben Nacht<br />

überbrachte es Basquiats Assistent dem verehrten Übervater.<br />

Basquiat wurde 1960 im New Yorker Stadtteil Brooklyn geboren.<br />

Sein Aufstieg zu einem der bedeutendsten Künstler<br />

des 20. Jahrhunderts verlief beispiellos. Vom Graffitisprayer,<br />

der in SoHo und im East Village seine mit „SAMO“ bezeichneten<br />

Sprüche hinterließ, avancierte er zum gefeierten Star der<br />

Jean-Michel Basquiat:<br />

„Dos Cabezas“, 1982<br />

Kunstwelt. Sein Leben, angetrieben von dem Verlangen nach<br />

Anerkennung und gemartert von Selbstzweifeln, war kurz.<br />

In seiner kaum ein Jahrzehnt währenden Karriere formte<br />

er aus Abstraktion und figürlichem Malen, Einflüssen afrikanischer<br />

Kunst und französischer Lyrik einen einzigartigen Stil.<br />

Mit beißender Kritik wandte er sich in seinem Werk gegen<br />

Machtstrukturen, Rassismus und Ausgrenzung. 1988 starb er<br />

an einer Überdosis Drogen. Anlässlich der 30. Wiederkehr<br />

seines Todes zeigt die Ausstellung „Boom for Real“ über<br />

100 seiner Gemälde, Zeichnungen, Notizbücher und Objekte<br />

sowie Filme, Fotografien, Musik und Archivmaterial.<br />

Frankfurt am Main, Schirn Kunsthalle, www.schirn.de<br />

FOTO: PRIVATE COLLECTION, © VG BILD-KUNST BONN, 20<strong>18</strong> &AMP; THE ESTATE OF JEAN-MICHEL BASQUIAT. LICENSED BY ARTESTAR, NEW YORK<br />

43


E R L E B E N<br />

Februar/<strong>März</strong> 20<strong>18</strong><br />

DIE WICHTIGSTEN<br />

VERANSTALTUNGEN AUF<br />

EINEN BLICK<br />

Ihr persönlicher Navigator für Premieren, Konzerte und Festivals<br />

PREMIEREN<br />

17.1. BERLIN KOMISCHE OPER<br />

Blaubart / J. Offenbach<br />

2.2. BERN (CH) KONZERTTHEATER<br />

The Medium / G. Menotti<br />

2.2. COBURG LANDESTHEATER<br />

Die Geschichte vom Soldaten /<br />

I. Strawinsky<br />

3.2. AUGSBURG THEATER<br />

Prima Donna / R. Wainwright<br />

3.2. CHEMNITZ THEATER<br />

Das Rheingold / R. Wagner<br />

3.2. DRESDEN STAATSOPERETTE<br />

Frau Luna / P. Lincke<br />

3.2. LINZ (AT) LANDESTHEATER<br />

Fausts Verdammnis / H. Berlioz<br />

3.2. TRIER THEATER<br />

Die heimliche Ehe / C. Cimarosa<br />

3.2. COBURG LANDESTHEATER<br />

La Cenerentola / G. Rossini<br />

4.2. WIESBADEN STAATSTHEATER<br />

Jeptha / G. F. Händel<br />

4.2. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS<br />

Idomeneo / W. A. Mozart<br />

8.2. BASEL (CH) THEATER<br />

Die Dreigroschenoper / K. Weill<br />

8.2. ULM THEATER<br />

Elektra / R. Strauss<br />

9.2. GERA GROSSES HAUS<br />

Die Entführung aus dem Serail /<br />

W. A. Mozart<br />

10.2. BERLIN STAATSOPER<br />

Sommertag / N. Brass<br />

10.2. GERA BÜHNE AM PARK<br />

Weiße Rose / U. Zimmermann<br />

10.2. KASSEL STAATSTHEATER<br />

Jenufa / L. Janáček<br />

10.2. PFORZHEIM THEATER<br />

Endstation Sehnsucht / A. Previn<br />

11.2. BERLIN STAATSOPER<br />

Tristan und Isolde / R. Wagner<br />

11.2. KARLSRUHE STAATSTHEATER<br />

Roméo et Juliette / C. Gounod<br />

16.2. BERLIN STAATSBALLETT<br />

Don Quixote / L. Minkus<br />

16.2. KARLSRUHE STAATSTHEATER<br />

Alcina / G. F. Händel<br />

16.2. WIEN (AT) THEATER<br />

Saul / G. F. Händel<br />

4. <strong>März</strong> Beginn des Vorverkaufs, Berlin<br />

ABSCHIED<br />

SIR SIMON RATTLE<br />

„Die Geschichte Simon Rattles und der Berliner Philharmoniker<br />

begann an einem trüben, nasskalten Herbsttag 1987“, erzählt die<br />

Orchesterchronik. Sie berichtet von seinem Debüt mit Mahlers<br />

Sechster Sinfonie. Und sie verrät auch, dass er damals lieber Mahlers<br />

unvollendete Zehnte dirigiert hätte. Die aber durfte er erst<br />

1996 und 1999 aufführen, und da war von einem „spirituellen Gemeinschaftserlebnis“<br />

und „stehenden Ovationen“ die Rede. Einige<br />

Wochen zuvor – am 23. Juni 1999 – war er als neuer Chefdirigent<br />

bekanntgegeben worden. Die Abstimmung war eine „Niederlage<br />

für die Traditionalisten“. Denn Rattle stand für Erneuerung.<br />

„Die Zeiten ändern sich, die Menschen ändern sich, also sollte es<br />

die Musik auch tun“, lautete seine Devise. Sie wurde zum Hauptmotiv<br />

seiner Arbeit. Die Chance, den nächsten Teil seines Lebens<br />

mit dieser unvergleichlichen Gruppe von Virtuosen zu verbringen,<br />

sei, so Rattle damals, eine aufregende Aussicht. Vieles geschah in<br />

jenen Jahren: Rattle etablierte ein Education-Programm, das dem<br />

Orchester Preise und Ehrungen bescherte. 2007 – im Jahr ihres<br />

125-jährigen Bestehens – wurden das Orchester und Rattle zu<br />

Internationalen UNICEF-Botschaftern ernannt. Im Sommer endet<br />

Rattles Amtszeit. Abermals mit Mahlers Sechster nimmt er am<br />

19. und 20. Juni seinen Abschied. Die Konzerte werden in der<br />

Digital Concert Hall übertragen, und das Konzert am 20. Juni ist<br />

im Kino zu sehen.<br />

Berlin, Philharmonie, 19. und 20.6., www.berliner-philharmoniker.de<br />

FOTO: MONIKA RITTERSHAUS<br />

17.2. BRAUNSCHWEIG<br />

STAATSTHEATER La clemenza di Tito /<br />

W. A. Mozart<br />

17.2. NÜRNBERG STAATSTHEATER<br />

Idomeneo / W. A. Mozart<br />

<strong>18</strong>.2. HALLE OPER<br />

Die Dreigroschenoper / K. Weill<br />

21.2. BERLIN DEUTSCHE OPER<br />

L‘Arlesiana / F. Cilea<br />

23.2. MEININGEN STAATSTHEATER<br />

Carmina Burana / C. Orff<br />

24.2. BREMEN THEATER<br />

Wahlverwandtschaften / T. Kürstner<br />

24.2. COTTBUS STAATSTHEATER<br />

Don Giovanni / W. A. Mozart<br />

24.2. ESSEN THEATER<br />

Hans Heiling / H. Marschner<br />

24.2. KÖLN OPER<br />

Der Kaiser von Atlantis oder die Todverweigerung<br />

/ V. Ullmann<br />

24.2. MÜNSTER STAATSTHEATER<br />

Angels in America / P. Eötvös<br />

24.2. WIEN (AT) STAATSOPER<br />

Ariodante / G. F. Händel<br />

25.2. FRANKFURT OPER<br />

L‘Africaine / G. Meyerbeer<br />

1.3. ERFURT THEATER<br />

La Calisto / F. Cavalli<br />

2.3. DESSAU<br />

ANHALTISCHES THEATER<br />

Die Dreigroschenoper / K. Weill<br />

3.3. GIESSEN STADTTHEATER<br />

La forza del destino / G. Verdi<br />

3.3. KOBLENZ THEATER<br />

Das schlaue Füchslein / L. Janáček<br />

3.3. LÜNEBURG THEATER<br />

Carmen / G. Bizet<br />

3.3. WUPPERTAL OPERNHAUS<br />

Julietta / B. Martinů<br />

3.3. GRAZ (AT) OPER<br />

Ariane et Barbe-Bleue / P. Dukas<br />

4.3. BERLIN STAATSOPER<br />

Salome / R. Strauss<br />

4.3. KÖLN OPER<br />

Manon / J. Massenet<br />

4.3. ZÜRICH (CH) OPERNHAUS<br />

Lunea / H. Holliger<br />

8.3. OSNABRÜCK THEATER<br />

Apollo und Hyacinth / W. A. Mozart<br />

9.3. BASEL (CH) THEATER<br />

Der Goldkäfer / D. Fujikura<br />

44 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


FOTOS: JENS GERBER; JONAS WERNER-HOHENSEE; UWE ARENS; DEBORAH FEINGOLD / SONY; KARTAL KARAGEDIK; ROMAN NOVITZKY; THILO BEU; FERNANDO MARCOS; FRANKFURT CARICATURA-MUSEUM; MARKUS RÄBER; TOBIAS SCHULT;<br />

CHRISTIAN DOPPELGATZ; BUNDESJUGENDORCHESTER<br />

10. Februar<br />

HAMBURG DIE ARABISCHE PRINZESSIN<br />

Nichts will Jamil, der Sohn eines armen Fischers,<br />

lernen. Alle Lehrer verzweifeln an ihm.<br />

Mit seiner Schönheit und seiner lieblichen Stimme<br />

aber erobert er das Herz der Prinzessin<br />

Amirah. Sie spürt ein solches Verlangen nach<br />

ihm, dass sie beschließt, ihn, koste es, was es<br />

wolle, zu einem Prinzen zu machen und zum<br />

Mann zu nehmen. Paula Fünfeck schrieb das Libretto. Anna-Sophie Brüning<br />

schuf mit Musik des <strong>18</strong>26 verstorbenen Komponisten Juan Crisóstomo<br />

de Arriaga und arabischen Klängen ein Opernpasticcio. Die Uraufführung<br />

erfolgte 2009 in Ramallah. Jetzt ist das Stück auf der Opera<br />

Stabile, der kleinen Bühne der Hamburger Staatsoper, unter der musikalischen<br />

Leitung von Wolf Tobias Maximilian Müller und in der Regie von<br />

Anja Bötcher-Krietsch zu sehen. Narea Son aus dem Opernstudio spielt<br />

die Prinzessin. Als Jamal steht ihr Sascha Emanuel Kramer zur Seite.<br />

Hamburg, Staatsoper, 10. (Premiere), 11., 13., 14., 16., 17., <strong>18</strong>., 20., 21., 23., 24.,<br />

25., 27. und 28.2., www.jung-staatsoper.de<br />

19. bis 24. <strong>März</strong><br />

FREIBURG I. BREISGAU EMIL GILELS FESTIVAL<br />

Kein russisches Phänomen, sondern „ein Weltphänomen“<br />

nennt Grigory Sokolov den Pianisten<br />

Emil Gilels. 1916 in Odessa geboren, gilt er<br />

als einer der bedeutendsten Pianisten des<br />

20. Jahrhunderts. Seine Aufnahmen von Beethoven,<br />

Brahms und Prokofjew sind Meilensteine<br />

pianistischer Interpretationskunst. Sein Leben<br />

jedoch war aufs Engste verflochten mit dem mörderischen Regime Stalins.<br />

Bereits mit 16 Jahren erregte er die Aufmerksamkeit des Diktators,<br />

als er beim neugegründeten sowjetischen Musikwettbewerb unerwartet<br />

den ersten Preis gewann. Sein jüdischer Vorname Schmuel wurde zu<br />

Emil, und er stieg auf zum Repräsentanten der neuen sowjetischen<br />

Kunst. Auf der Potsdamer Konferenz 1945 drängte Stalin ihn, vor den<br />

versammelten Staatsoberhäuptern Chopins Polonaise „Militaire“ op. 40<br />

Nr. 1 zu spielen. Als sowjetischer Künstler tourte er, bewacht von KGB-<br />

Agenten, durch die USA. Im Verlauf der 50er-Jahre, als Chruschtschow<br />

die Verbrechen Stalins offenlegte, suchte er sich vom Regime zurückzuziehen.<br />

Man erfuhr wenig über sein Leben. Ungeklärt bleibt auch, ob es<br />

tatsächlich eine verpfuschte Injektion im Kreml-Krankenhaus war, die<br />

ihn im Alter von 69 Jahren sterben ließ. Zu seinem Andenken rief sein<br />

Schüler Felix Gottlieb 2012 ein alle zwei Jahre stattfindendes Festival ins<br />

Leben. Drei weltbekannte Pianisten spielen zur Erinnerung an Gilels:<br />

Grigory Sokolov, Yefim Bronfman (Foto) und Jewgeni Kissin.<br />

Freiburg im Breisgau, Hochschule für Musik, festival.emilgilelsfoundation.net<br />

17. <strong>März</strong><br />

MÜNCHEN PORTRÄT GEORGES APERGHIS<br />

„Es ist kompliziert zu verstehen, warum man<br />

für jemand Bestimmten schreibt“, sagt Georges<br />

Aperghis. Intermezzi schrieb er 2016 dem Ensemble<br />

Musikfabrik „auf den Leib“. Mit jedem<br />

Musiker und jeder Musikerin traf er sich einzeln<br />

und fragte, wie er oder sie sich in das Werk einbringen<br />

wolle. Diese Vorgehensweise halte ihn<br />

davon ab, ein rein abstraktes Stück zu schreiben. Er sei immer auf der Suche<br />

nach Zufällen, und am interessantesten sei es für ihn dort, wo seine<br />

künstlerischen Problemstellungen mit dem zusammenträfen, was die<br />

Musiker ihm anböten. Den Titel des Werks versteht er wörtlich: Er habe<br />

keinen Plan außer der Form und folge der Idee der Zwischenspiele: „Es<br />

ist eine Klammer, die sich öffnet, innerhalb derer sich eine andere Klammer<br />

öffnet, die sich wieder schließt und so weiter ...“ In einem Porträtkonzert<br />

der musica viva bringt das Ensemble Musikfabrik das Werk nun<br />

zur Uraufführung.<br />

München, Funkhaus des Bayerischen Rundfunks, www.br-musica-viva.de<br />

10.3. BASEL (CH) THEATER<br />

Der Spieler / S. Prokofjew<br />

10.3. DARMSTADT STAATSTHEATER<br />

Die Sache von Makropulos / L. Janáček<br />

10.3. DORTMUND THEATER<br />

Nabucco / G. Verdi<br />

10.3. FREIBURG THEATER<br />

Angels in America / P. Eötvös<br />

10.3. KIEL THEATER<br />

Götterdämmerung / R. Wagner<br />

10.3. COBURG LANDESTHEATER<br />

Pinocchio / P. Valtinoni<br />

10.3. GRAZ (AT) OPER<br />

Candide / L. Bernstein<br />

11.3. BONN THEATER<br />

Echnaton / P. Glass<br />

11.3. HAMBURG STAATSOPER<br />

Messa da Requiem / G. Verdi<br />

11.3. WIESBADEN STAATSTHEATER<br />

Arabella / R. Strauss<br />

15.3. MÜNCHEN GÄRTNERPLATZ-<br />

THEATER Weiße Rose / U. Zimmermann<br />

16.3. BRAUNSCHWEIG<br />

STAATSTHEATER Elektra / R. Strauss<br />

16.3. LÜBECK THEATER<br />

Die tödliche Blume / S. Sciarrino<br />

16.3. WIEN (AT) THEATER<br />

Der Besuch der alten Dame / G. v. Einem<br />

16.3. HEIDELBERG THEATER<br />

Faust / C. Gounod<br />

17.3. HOF THEATER<br />

Alcina / G. F. Händel<br />

17.3. LEIPZIG OPER<br />

Tannhäuser / R. Wagner<br />

17.3. MAINZ STAATSTHEATER<br />

Don Carlo / G. Verdi<br />

17.3. NÜRNBERG STAATSTHEATER<br />

Die Soldaten / B. Zimmermann<br />

24.3. KAISERSLAUTERN<br />

14. Februar 20<strong>18</strong><br />

John Dowland<br />

Shakespeare in Love<br />

Paula Murrihy (Mezzosopran)<br />

Eamonn Bonner (Tenor)<br />

Eamonn Sweeney (Laute)<br />

15. April 20<strong>18</strong><br />

Bratsche und Gesang<br />

Und ein Etwas strahlt aus Ihnen<br />

Christiane Karg (Sopran)<br />

Antoine Tamestit (Viola)<br />

Malcolm Martineau (Klavier)<br />

www.kunstklang-feuchtwangen.de<br />

Kartentelefon 09852 904 44<br />

PFALZTHEATER<br />

Das Leben eines Wüstlings /<br />

I. Strawinsky<br />

25.3. MANNHEIM<br />

NATIONALTHEATER<br />

Pelléas und Mélisande / C. Debussy<br />

KÜNSTLER<br />

IVETA APKALNA<br />

17.2. Berlin, Konzerthaus<br />

AVI AVITAL<br />

1.3. Waiblingen, Bürgerzentrum<br />

7.3. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

10.3. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

16.3. Dortmund, Konzerthaus<br />

JOHN AXELROD<br />

17.,<strong>18</strong>.3. Essen, Philharmonie<br />

DANIEL BARENBOIM<br />

11., 15., <strong>18</strong>., 25.2., 3., 11., <strong>18</strong>.3.<br />

Berlin, Staatsoper<br />

23., 24.2. Berlin, Philharmonie<br />

4.3. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

LISA BATIASHVILI<br />

1., 2., 3.2. München, Gasteig<br />

3.4. Wien (AT), Musikverein<br />

GAUTIER CAPUÇON<br />

17.3. Elmau, Schloss<br />

20.3. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

DIANA DAMRAU<br />

2.2. Baden-Baden, Festspielhaus<br />

4.2. München, Philharmonie<br />

6.2. Berlin, Philharmonie<br />

8.2. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

45


E R L E B E N<br />

22. Februar, Köln<br />

ENERGIEN KÖRPERLICHER NÄHE<br />

Richard Siegal: „BoD“<br />

FOTO: RAY DEMSKI<br />

Dem zeitgenössischen Tanz ein neues Gesicht zu geben – das ist das<br />

Bestreben des Choreografen Richard Siegal. Mit Künstlern aus unterschiedlichen<br />

Disziplinen arbeitet er zusammen und nimmt neue<br />

Trends im Tanz und in der elektronischen Musik ebenso auf wie in der<br />

Mode oder im Industriedesign. „On Body“ betitelt er den dreiteiligen<br />

Abend, den er mit seiner 2016 ins Leben gerufenen Kompanie Ballet<br />

of Difference erarbeitet. Zur Uraufführung kommt Ballet 2.0<strong>18</strong>. Siegal<br />

spürt darin den Energien nach, die durch körperliche Nähe und den<br />

Klang der menschlichen Stimme freigesetzt werden. Die Tänzer schaffen<br />

auf der Bühne einen Raum der Intimität. Im Idealfall lösen sie eine<br />

Resonanz beim Publikum aus und beziehen es in das unmittelbare Erleben<br />

ein. Zur Eröffnung gibt es eine Wiederaufführung von Unitxt, in<br />

dem Siegal 2013 klassische Ballettelemente wie Spitzentanz oder Symmetrie<br />

analysiert und zerlegt. Den Abschluss bildet BoD aus dem Jahr<br />

2017. Siegal bringt darin die Körpersprachen verschiedener Ethnien<br />

und Sozialisierungen zum Abbild einer kulturell reichen und verschiedenartigen<br />

Gegenwart zusammen. In den aufblasbaren Kostümen der<br />

New Yorker Modedesignerin Becca McCharen rotieren die Tänzer<br />

über die Bühne. Nach den Aufführungen in Köln begibt Siegal sich mit<br />

seiner Kompanie auf Tournee nach München, Ludwigsburg, Ludwigshafen<br />

und Karlsruhe.<br />

Köln, Schauspiel, 22. (Premiere), 23. und 24.2., www.schauspiel.koeln<br />

10.2. Frankfurt, Alte Oper<br />

12.2. Wien (AT), Musikverein<br />

<strong>18</strong>.2. Essen, Philharmonie<br />

ISABELLE FAUST<br />

26.2. Bonn, Arithmeum<br />

28.2. Lörrach, Burghof<br />

1.3. Berlin, Philharmonie<br />

24.3. Heidelberg, Kongresshaus<br />

FREIBURGER<br />

BAROCK-ORCHESTER<br />

4.3. Köln, Philharmonie<br />

5.3. Stuttgart, Liederhalle<br />

6.3. Freiburg, Konzerthaus<br />

7.3. Berlin, Philharmonie<br />

NINO GVETATSZE<br />

22.2. Schwäbisch Hall, Neubausaal<br />

HILARY HAHN<br />

2., 3., 4.2. Zürich (CH), Tonhalle Maag<br />

11.3. Essen, Philharmonie<br />

12.3. Berlin, Konzerthaus<br />

15.3. Wien (AT), Konzerthaus<br />

17.3. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

<strong>18</strong>.3. Hannover, Congress Centrum<br />

19.3. München, Philharmonie<br />

MARTIN HELMCHEN<br />

13.2. Berlin, Philharmonie<br />

DANIEL HOPE<br />

1.2. Berlin, Konzerthaus<br />

20.2. Elmau, Schloss<br />

21.2. München, Prinzregententheater<br />

22.2. Braunschweig, Stadthalle<br />

23.2. Hannover, NDR Sendesaal<br />

24.2. Düsseldorf, Tonhalle<br />

25.2. Bielefeld, Oetkerhalle<br />

26.2. Berlin, Konzerthaus<br />

27.2. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

28.2. Zürich (CH), ZKO Haus<br />

ALBRECHT MAYER<br />

2.2. Mannheim, Rosengarten<br />

25.2. Friedrichshafen,<br />

Graf Zeppelin Haus<br />

ANDREAS OTTENSAMER<br />

3.3. Potsdam, Nikolaisaal<br />

4.3. Kiel, Schloss<br />

5.3. Berlin, Philharmonie<br />

20.3. Dortmund, Konzerthaus<br />

LAUTTEN COMPAGNEY<br />

1.2. Villingen-Schwenningen,<br />

Franziskaner Konzerthaus<br />

4., 5.2. Fulda, Schlosstheater<br />

27.2. Kleve, Stadthalle<br />

7.3. Berlin, Dom<br />

8.3. Kassel, Staatstheater<br />

10.3. Wien (AT), Musikverein<br />

SOL GABETTA<br />

12.3. München, Philharmonie<br />

13.3. Berlin, Philharmonie<br />

<strong>18</strong>.3. Heidelberg, Kongresshaus<br />

19.3. Köln, Philharmonie<br />

MATTHIAS GOERNE<br />

16.2. Wien (AT), Konzerthaus<br />

<strong>18</strong>.2. Aachen, Krönungssaal<br />

1.3. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

8.3. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

IGOR LEVIT<br />

25.2. München, Prinzregententheater<br />

28.2. Innsbruck (AT), Congress Center<br />

7.3. Regensburg, Audimax<br />

PAAVO JÄRVI<br />

15., 16., 17.3. Bremen, Die Glocke<br />

19., 20.3. Wien (AT), Musikverein<br />

30., 31.3. Bremen, Dom<br />

SIMONE KERMES<br />

11.3. Coesfeld, Theater<br />

14.3. München, Prinzregententheater<br />

XAVIER DE MAISTRE<br />

4.2. München, Prinzregententheater<br />

27.2. Berlin, Pierre Boulez Saal<br />

28.2. Ludwigshafen, Feierabendhaus<br />

46 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


FOTOS: JENS GERBER; JONAS WERNER-HOHENSEE; UWE ARENS; DEBORAH FEINGOLD / SONY; KARTAL KARAGEDIK; ROMAN NOVITZKY; THILO BEU; FERNANDO MARCOS; FRANKFURT CARICATURA-MUSEUM; MARKUS RÄBER; TOBIAS SCHULT;<br />

CHRISTIAN DOPPELGATZ; BUNDESJUGENDORCHESTER<br />

<strong>18</strong>. Februar bis 23. <strong>März</strong><br />

LEIPZIG GEWANDHAUSORCHESTER<br />

„Meine Träume wurden wahr.“ Mit diesem Satz<br />

beschrieb Andris Nelsons seine Berufung zum<br />

21. Gewandhauskapellmeister. Begeistert äußerte<br />

er sich über die große Tradition und den<br />

besonderen Klang des Orchesters, das zu den<br />

ältesten der Welt zählt. Seine Amtseinführung<br />

feiert er mit vier Festwochen rund um den<br />

275. Geburtstag des Orchesters. Elf Konzerte dirigiert er mit fünf verschiedenen<br />

Programmen. Am 11. <strong>März</strong>, als 1743 das erste Konzert stattfand,<br />

dirigiert er Bruckners Siebte Sinfonie sowie ein neues Werk von Jörg<br />

Widmann. Umrahmt werden die Festwochen von zwei Gastspielen:<br />

einem Konzert der Berliner Philharmoniker unter Zubin Mehta und<br />

einem der Wiener Philharmoniker unter Daniel Barenboim.<br />

Leipzig, Gewandhaus, www.gewandhausorchester.de<br />

10. und 11. Februar<br />

BERLIN PYGMALION<br />

Der Bildhauer Pygmalion verliebt sich in seine<br />

Statue. Die Barockzeit liebte mythologische<br />

Themen auf der Bühne. Jean-Philippe Rameau<br />

gestaltete aus dem antiken Mythos einen Tanzakt.<br />

Die von Amor zum Leben erweckte Statue<br />

beginnt zu tanzen: Menuett, Gavotte, Chaconne,<br />

Passepied, Rigaudon und Sarabande. Das<br />

Ensemble Akademie für Alte Musik widmet sich dem Stück in zwei Sonderkonzerten.<br />

Rameaus Musik zeichnet sich durch eine dichte, farbenvolle<br />

Instrumentation sowie eine an Harmonien reiche Klangsprache aus.<br />

Tenor Cyril Auvity singt die Partie von Amor, die der Statue übernimmt<br />

Deborah Cachet. Am Pult steht Paul Agnew.<br />

Berlin, St.-Elisabeth-Kirche, www.akamus.de<br />

23. <strong>März</strong><br />

STUTTGART DIE FANTASTISCHEN FÜNF<br />

Als Abschiedsgeschenk für den scheidenden<br />

Ballettintendanten Reid Anderson versteht sich<br />

dieser Ballettabend. In den über zwei Jahrzehnten<br />

seiner Intendanz brachte er über 60<br />

Choreografien zur Uraufführung. „Die fantastischen<br />

Fünf“ vermittelt einen Eindruck von der<br />

choreografischen Vielfalt seiner Amtszeit und<br />

versammelt jene Künstler, die ihm besonders am Herzen liegen: Marco<br />

Goecke, den er 2005 zum Haus-Choreografen des Stuttgarter Balletts<br />

ernannte, Katarzyna Kozielska, Louis Stiens, Roman Nowitzky und Fabio<br />

Adorisio. Designierter Nachfolger Andersons ist Tamas Detrich, der bereits<br />

seit 2004 als sein Stellvertreter agiert.<br />

Stuttgart, Schauspielhaus, 23. (Premiere) und 28.3., 10., 21., 25. und 29.4. sowie<br />

17.7., www.stuttgarter-ballett.de<br />

24. <strong>März</strong> bis 2. April<br />

BADEN-BADEN OSTERFESTSPIELE<br />

Die Kurstadt im Schwarzwald feiert. Ensembles<br />

der Berliner Philharmoniker und das Bundesjugendorchester<br />

laden mit Béla Bartóks Tanzspiel<br />

Der holzgeschnitzte Prinz zu einem Musikfest.<br />

Bei den 6. Osterfestspielen mit den Berliner<br />

Philharmonikern wird die ganze Stadt zur<br />

Bühne. Ins Festspielhaus kommen die Mezzosopranistin<br />

Elīna Garanča mit Liedern von Strauss, Berg und Ravel, Bariton<br />

Gerald Finley mit Schubert sowie der Pianist Krystian Zimerman und<br />

die Geigerin Vilde Frang. Zur Eröffnung steht Wagners Parsifal auf dem<br />

Programm. Dieter Dorn inszeniert mit Stephen Gould in der Titelrolle<br />

und Evelyn Herlitzius als Kundry. Am Pult steht Sir Simon Rattle.<br />

Baden-Baden, verschiedene Spielorte, www.festspielhaus.de<br />

BAYREUTHER<br />

24. OSTERFESTIVAL<br />

MIT<br />

Eröffnungskonzert,<br />

Matineen,<br />

Symphoniekonzert,<br />

Orgelkonzert,<br />

Jazz & Festivalbrunch<br />

WEITERE INFORMATIONEN UNTER<br />

www.osterfestival.de<br />

Tickets bei den örtlichen Vorverkaufsstellen<br />

und online unter www.eventim.de<br />

11. <strong>März</strong><br />

BONN ECHNATON<br />

30. <strong>März</strong> bis<br />

8. April 20<strong>18</strong><br />

Ostersonntag, 1. April, 20 Uhr<br />

SYMPHONIE<br />

KONZERT<br />

Ordenskirche St. Georgen<br />

BAYREUTHER<br />

OSTERFESTIVAL<br />

BAYREUTHER<br />

OSTERFESTIVAL<br />

Neue Blickwinkel eröffnen – das erwartet man<br />

von Inszenierungen, die Künstler aus anderen<br />

Bereichen vornehmen. Laura Scozzi arbeitete<br />

als Choreografin, ehe sie mit ihren Regiearbeiten<br />

für Furore sorgte. Mit Echnaton widmet<br />

sie sich dem dritten Teil von Philip Glass’<br />

Operntrilogie, die mit Einstein und Gandhi drei<br />

Leitbilder aus Naturwissenschaft, Politik und Religion porträtiert. Echnaton<br />

interessiert Glass als Begründer des Monotheismus im 14. Jahrhundert<br />

v. Chr. Der Pharao der <strong>18</strong>. Dynastie und Gatte von Nofretete verehrte<br />

die Sonnenscheibe Aton. In altägyptischer Ikonografie erscheint er<br />

als Hermaphrodit, und seine Partie wird von dem Countertenor Benno<br />

Schachtner gesungen. Als Nofretete steht Susanne Blattert auf der Bühne.<br />

Für die Gesangstexte stützt Glass sich auf altägyptische sowie hebräische<br />

Quellen, um auf die Verbindung zur jüdisch-christlichen Tradition<br />

hinzuweisen. Die musikalische Leitung liegt in den Händen von Stephan<br />

Zilias.<br />

Bonn, Oper, 11. (Premiere), 16. und 23.3, 12., 21. und 29.4., 9., 13. und 31.5.<br />

sowie 14., 20. und 28.6., www.theater-bonn.de<br />

16. bis 25. <strong>März</strong><br />

BERLIN MAERZMUSIK<br />

„Ich möchte ihnen ein Gesicht geben, nicht nur<br />

den ertrunkenen Körpern an Europas Küsten,<br />

sondern auch den Lebenden, die, ohne Identität<br />

nicht länger als lebend erkennbar, durch Europa<br />

wandern“, erläutert Georges Aperghis seine<br />

neue Komposition migrants. Mit Texten aus<br />

Joseph Conrads Erzählung Herz der Finsternis<br />

und von heute Geflüchteten hat er drei Interludien zu Leoš Janáčeks Tagebuch<br />

eines Verschollenen geschrieben. Die beiden Sopranistinnen Agata<br />

Zubel und Christina Daletska sowie das Streicherensemble Resonanz unter<br />

Emilio Pomàrico bringen sie zur Uraufführung. Als Festival für Zeitfragen<br />

versammelt MaerzMusik unter der Leitung von Berno Odo Polzer<br />

Musikkünstler, die Zeit auch als politische Kategorie verstehen, als eine<br />

Erfindung im Dienste weltanschaulicher und wirtschaftlicher Interessen.<br />

Berlin, verschiedene Spielorte, www.berlinerfestspiele.de<br />

11. <strong>März</strong><br />

MÜNCHEN LES VÊPRES SICILIENNES<br />

Er ist der neue Star der Theaterwelt: Antú Romero<br />

Nunes, 1983 in Tübingen geboren und<br />

ausgebildet an der Hochschule für Schauspielkunst<br />

„Ernst Busch“ in Berlin. Seine Arbeiten<br />

wurden zu Theaterfestivals eingeladen, und Intendanten<br />

aus dem ganzen Land wollen ihn an<br />

47


E R L E B E N<br />

23. <strong>März</strong>, Dessau<br />

DAS BILDNIS<br />

DES DORIAN GRAY<br />

Elisa Gogou<br />

„Ich liebe meine Tänzer. Sie haben etwas in sich, etwas Göttliches,<br />

etwas, das sie treibt“, beschreibt Choreograf Tomasz Kajdański seine<br />

Arbeit. Er habe eine Idee, eine Vision. Die versuche er den Tänzern<br />

zu vermitteln und sie mitzunehmen, sodass gemeinsame Ideen<br />

und Bewegungen entstünden. Es sei wie bei einem bunten Glasfenster:<br />

„Die Form der einzelnen Glasscheiben ist vorgegeben. Aber<br />

es ist das Licht, das sie lebendig macht. Die Tänzer bringen das Licht<br />

in die Inszenierung.“ Kajdański erzählt Geschichten in seinen Balletten.<br />

Mit seiner neuen Arbeit wendet er sich Oscar Wilde zu. Dessen<br />

Roman inspirierte bereits Waclaw Orlikowsky zu einem Ballett.<br />

Lord Henry Wotton, der das Leben selbst zum Kunstwerk stilisieren<br />

möchte, verführt den faszinierend schönen Dorian Gray zum<br />

rücksichtslosen Ausleben seiner Jugend. Für die Erfüllung des Wunsches,<br />

statt seiner möge das Bildnis altern, das Basil Hallward von<br />

ihm gemalt hat, gibt Dorian Gray seine Seele. So wird das Bild zum<br />

„Spiegel seiner Seele“ und trägt „die Bürde seiner Schande“. In diesem<br />

Spannungsfeld von Ästhetizismus und mystischem Symbolismus<br />

entwickelt Kajdański seine Choreografie. Für die Musik, dirigiert<br />

von Elisa Gogou, wählte er Alexander Skrjabin, der mit seinen ekstatischen,<br />

rauschhaften Klängen die Welt verändern wollte.<br />

Dessau, Anhaltisches Theater, 23. (Premiere), und 31.3., 7. und 22.4. sowie<br />

26.5. und 17.6., www.anhaltisches-theater.de<br />

ihre Bühnen holen. Für Verdis Oper Les vêpres siciliennes kommt er nach<br />

München. Seine Arbeitsweise beschreibt er als offenen Prozess. Die<br />

Darsteller sollten sein Konzept verstehen, aber auch ihre Vorstellungen<br />

einbringen. Er biete nur eine Spielwiese, „und dann spinnt das Kollektiv“.<br />

Zu seinem Münchner Kollektiv gehören Carmen Giannattasio in der Rolle<br />

der Hélène, Helena Zubanovich als ihre Vertraute Ninetta, Bryan Hymel<br />

als Henri und George Petean als Guy de Montfort. Die Musikalische<br />

Leitung hat Omer Meir Wellber.<br />

München, Bayerische Staatsoper, 11. (Premiere), 15., <strong>18</strong>., 22. und 25.3.<br />

sowie 26. und 27.7., www.staatsoper.de<br />

16. Februar<br />

BERLIN DON QUIXOTE<br />

Choreograf Víctor Ullate beeindruckt mit seinen<br />

Neuinterpretationen von Ballett-Klassikern.<br />

Als Hauptinterpret von Maurice Béjart<br />

ließ er sich von dessen Nachschöpfungen und<br />

Erneuerungen inspirieren. Eine Lehre fürs Leben<br />

habe er aus der Zusammenarbeit gewonnen.<br />

Nacho Duato, der Intendant des Staatsballetts<br />

Berlin, der diesen Sommer – verärgert über die Politik – vorzeitig<br />

Berlin verlässt, beauftragte ihn, eine Neudeutung des Klassikers Don Quixote<br />

zur Musik von Ludwig Minkus zu erarbeiten. Minkus komponierte<br />

die Musik für das Bolschoi-Theater und den Choreografen Marius Petipa.<br />

FOTO: CLAUDIA HEYSEL<br />

Dessen Fassung, die im 20. Jahrhundert rekonstruiert wurde, blieb bis<br />

heute eine Ikone. Für Ullate ist sie die historische Folie, vor der seine Interpretation<br />

sich entfaltet. Als Liebespaar Kitri und Basil tanzen Polina<br />

Semionova und Marian Walter sowie alternativ Iana Salenko und Dinu<br />

Tamazlacaru. Im Graben leitet Robert Reimer das Orchester der Deutschen<br />

Oper Berlin.<br />

Berlin, Deutsche Oper, 16. (Premiere), <strong>18</strong>. und 22.2., www.staatsballett-berlin.de<br />

23. Februar bis 29. Juli<br />

MÜNCHEN FAUST-FESTIVAL<br />

Noch ein Jahr vor seinem Tod schrieb Goethe in<br />

einem Brief über den Faust, dass das Ganze „ein<br />

offenbares Rätsel bleibe, die Menschen fort und<br />

fort ergötze und ihnen zu schaffen mache“. Sein<br />

Leben lang hatte ihn der Stoff beschäftigt, dem<br />

er bereits als Kind in einem Puppenspiel begegnet<br />

war. Das Faust-Festival präsentiert fünf Monate<br />

lang Veranstaltungen zum Thema „Faust“. In Konzerten, Theaterund<br />

Tanzvorstellungen, Filmvorführungen und Ausstellungen zeigen Mitwirkende<br />

ihre Projekte. „Du bist Faust“ ist der Titel einer Ausstellung in<br />

der Kunsthalle. Unzählige Künstler befeuerte die Dichtung zu eigenen<br />

Schöpfungen. Gezeigt werden rund 150 Gemälde, Grafiken, Skulpturen,<br />

Fotografien, Vertonungen und Filme. Der Ausstellungsparcours folgt<br />

dem Aufbau des Dramas und führt durch die Handlung. Zu Faust II gibt es<br />

die Illustrationszyklen von Max Slevogt, Franz Stassen und Max Beckmann<br />

zu sehen.<br />

München, Kunsthalle, www.kunsthalle-muenchen.de<br />

10. bis 25. <strong>März</strong><br />

KÖLN FEST FÜR ALTE MUSIK<br />

Vor 400 Jahren tötete der Dreißigjährige Krieg<br />

massenhaft Menschen und verwüstete Städte<br />

und Landschaften. Das Kölner Fest befasst sich<br />

in 16 konzertanten und inszenierten Programmen<br />

mit dem Trauma des Krieges. Dame Emma<br />

Kirkby wirkt zum Auftakt mit an einer szenischen<br />

Aufführung der grotesken Oper Cupid<br />

and Death aus dem London des 17. Jahrhunderts. Die Sängerin Cora<br />

Schmeiser und das Ensemble Exquisite Noyse beschwören unheilverkündende<br />

Himmelserscheinungen. Blockflötistin Dorothee Oberlinger und<br />

Countertenor Dmitry Sinkovsky träumen sich nach Arkadien. Und das<br />

Ensemble Sanstierce besingt in mittelalterlichen Liedern die Stadt Jerusalem<br />

und malt sich ein friedliches Zusammenleben aller drei Religionen<br />

aus. Wie auch Liebe zum Krieg werden kann, beschreibt Petrarca in<br />

einem Sonett. Monteverdi vertonte es, und das Ensemble Voces Suaves<br />

trägt es mit anderen Madrigalen vor.<br />

Köln, verschiedene Spielorte, www.zamus.de<br />

28. Februar<br />

LUDWIGSHAFEN<br />

XAVIER DE MAISTRE UND LUCERO TENA<br />

Zwei geniale Virtuosen haben einander gefunden.<br />

Nach einem Auftritt in Madrid begegnete der<br />

Harfenist Xavier de Maistre der Kastagnetten-<br />

Spielerin Lucero Tena. Begeistert von ihrer Persönlichkeit<br />

und ihrem Temperament, schlug er ihr<br />

vor, gemeinsam aufzutreten. Tena war eine berühmte<br />

Flamencotänzerin. Nach Beendigung ihrer<br />

Tanzkarriere widmete sie sich ganz den Kastagnetten und erarbeitete ein<br />

Repertoire. Spanische Komponisten wie Enrique Granados, Isaac Albéniz,<br />

Manuel de Falla und Francisco Tárrega bestimmen die gemeinsame musikalische<br />

Reise „Serenata Española“. De Maistre zeigt in seinem Spiel das gesamte<br />

klangliche Spektrum der Harfe mit allen seinen Farben. Die Harfe habe<br />

orchestrale Dimensionen, bekräftigt er. „Man kann einen breiten und vollen<br />

Ton bilden, diese ätherischen Klänge erzeugen, die man so gut kennt, oder<br />

die Harfe rhythmisch wie ein Schlaginstrument spielen.“<br />

Ludwigshafen, BASF-Feierabendhaus, www.basf.de/kultur<br />

48 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


22. Februar, Frankfurt am Main<br />

A WINTERY SPRING<br />

FOTOS: JENS GERBER; JONAS WERNER-HOHENSEE; UWE ARENS; DEBORAH FEINGOLD / SONY; KARTAL KARAGEDIK; ROMAN NOVITZKY; THILO BEU; FERNANDO MARCOS; FRANKFURT CARICATURA-MUSEUM; MARKUS RÄBER; TOBIAS SCHULT;<br />

CHRISTIAN DOPPELGATZ; BUNDESJUGENDORCHESTER; BEATRICE WAULIN / SONY CLASSICAL<br />

Der libanesische Schriftsteller Khalil Gibran habe bereits vor 100<br />

Jahren einen „Arabischen Frühling“ vorausgesagt, betont der Komponist<br />

Saed Haddad. Seine Aphorismen arrangierte er zu dem dramatischen<br />

Lamento A Wintery Spring. Wie er hervorhebt, gibt es darin<br />

„keine dramatische Handlung, wohl aber eine dramatische Figur:<br />

den Schriftsteller“. Alle auftretenden Figuren offenbaren sich am Ende<br />

als aus dessen Fantasie entsprungen. Gibran emigrierte <strong>18</strong>95 in die<br />

USA. Damit wirft sein Leben die zentrale Frage auf, was ein im Exil lebender<br />

Schriftsteller „für sein hungerndes Volk“ tun kann. Durch die<br />

Schriftstellerfigur erlebe das Publikum „Ausbruch und Niedergang“<br />

der Revolution mit, erläutert Regisseurin Corinna Tetzel. „Am Beginn<br />

4.3. Leer, Theater an der Blinke<br />

5.3. Düsseldorf, Tonhalle<br />

6.3. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

8.3. Bremen, Die Glocke<br />

10.3. Hannover,<br />

Landesfunkhaus des NDR<br />

DOROTHEE MIELDS<br />

2.2. Wien (AT), Konzerthaus<br />

13., 14.2. Dresden, Staatsoper<br />

15.2. Dresden, Frauenkirche<br />

27.2. Kleve, Stadthalle<br />

11.3. Wien, Musikverein<br />

17.3. Frankfurt, Alte Oper<br />

NILS MÖNKEMEYER<br />

4.2. Leipzig, Gewandhaus<br />

<strong>18</strong>., 19., 20.2. Köln, Philharmonie<br />

2., 4.3. Konstanz, Konzil<br />

REGULA MÜHLEMANN<br />

4.2. Salzburg, Mozarteum<br />

7.2. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

8.2. Bremen, Die Glocke<br />

<strong>18</strong>.2. Bellmund (CH),<br />

Kulturzentrum La Prairie<br />

17.3. Ludwigsburg,<br />

Forum am Schlosspark<br />

DANIEL MÜLLER-SCHOTT<br />

14.2. Frankfurt, Alte Oper<br />

3.,4.3. Bern (CH), Kursaal<br />

11.3. Donaueschingen, Strawinskysaal<br />

13.3. Gauting, Bosco<br />

14.3. Grünwald, August Everding Saal<br />

19., 20.3. München,<br />

Bayerische Staatsoper<br />

24.3. Hamburg, Elbphilharmonie<br />

GRIGORY SOKOLOV<br />

2.3. Bremen, Die Glocke<br />

4.3. Hannover,<br />

Landesfunkhaus des NDR<br />

6.3. Hamburg, Laeiszhalle<br />

8.3. Düsseldorf, Tonhalle<br />

19.3. Freiburg, Hochschule für Musik<br />

STEFAN TEMMINGH<br />

10.3. Mörfelden-Walldorf, Bürgerhaus<br />

CAMILLE THOMAS<br />

12.3. Bielefeld, Oetkerhalle<br />

13.3. Münster, Rathaushausfestsaal<br />

SARAH WEGENER<br />

2.3. Kirchheim, St. Andreas<br />

MATTHIAS WELL<br />

19.2. München, Herkulessaal<br />

SONYA YONCHEVA<br />

4.2. Genève (CH), Grand Théâtre<br />

7.2. Dortmund, Konzerthaus<br />

THE WORLD OF HANS ZIMMER<br />

28.4. Hamburg, Barclaycard Arena<br />

29.4. Berlin, Mercedes-Benz Arena<br />

30.4. Hannover, TUI Arena<br />

3.5. Leipzig, Arena<br />

4.5. Nürnberg, Arena Nürnberger<br />

Versicherung<br />

5.5. Köln, Lanxess Arena<br />

6.5. Stuttgart, Schleyer-Halle<br />

FRANK PETER ZIMMERMANN<br />

2.2., 11.3. Köln, Philharmonie<br />

3.2. Essen, Philharmonie<br />

1., 2.3. Frankfurt, Alte Oper<br />

TABEA ZIMMERMANN<br />

23.2. Essen, Philharmonie<br />

24.2. Freiburg, Konzerthaus<br />

25.2. Mannheim, Rosengarten<br />

27.2. Wiesbaden, Kurhaus<br />

49<br />

Ensemble Modern<br />

formuliert er die Utopie eines selbstbewussten, auf die eigene Stärke<br />

vertrauenden arabischen Volkes ohne Ängste, ohne Kämpfe.“ Dann<br />

aber breche die Revolution zusammen, und er „versinkt in Lethargie“.<br />

In Zusammenarbeit der Oper Frankfurt und des Ensemble Modern<br />

kommt das Lamento unter der musikalischen Leitung von Franck<br />

Ollu zur Uraufführung. Kombiniert wird es mit der szenischen Erstaufführung<br />

der barocken Kantate Il Serpente di Bronzo von Jan Dismas<br />

Zelenka, in der Gott das zweifelnde Volk Israel mit einer Schlangenplage<br />

bestraft.<br />

Frankfurt am Main, Bockenheimer Depot, 22. (Premiere), 24. und 26.2. sowie<br />

1., 4. und 5.3., www.ensemble-modern.de<br />

Dank an das Leben<br />

Leben auf den Punkt gebracht:<br />

große Lieder<br />

von Beethoven bis Verdi.<br />

Der Bass Thomas Fleischmann<br />

führt uns zurück an die Quelle<br />

unserer Menschlichkeit.<br />

13,99 €<br />

FOTO: VINCENT STEFAN<br />

THOMAS FLEISCHMANN<br />

Erhältlich als Download im iTunes-Store.<br />

Oder als CD bei der KRD Sicherheitstechnik GmbH<br />

Vierlander Str. 2, 21502 Geesthacht. info@kasiglas.de


E R L E B E N<br />

Vision String Quartet<br />

„WACH AUF, DU<br />

VERROTTETER CHRIST!“<br />

Das 26. Kurt Weill Fest Dessau feiert in 48 Veranstaltungen<br />

das pulsierende Musikleben der Berliner 20er-Jahre.<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

„Hast du eigentlich die Dreigroschenoper schon gesehen? Es ist<br />

wirklich ein schönes Stück und sicher das beste, was mir bisher<br />

gelungen ist“, freute sich Kurt Weill über den Riesenerfolg und die<br />

Beifallsstürme, die ihm die neuerliche Zusammenarbeit mit Bertolt<br />

Brecht bescherte. Unter Hochdruck hatten die beiden im südfranzösischen<br />

Saint-Cyr an dem Werk gefeilt. Weill suchte, zu<br />

einer Urform von Oper zu gelangen, leicht sangbar und mit fasslicher<br />

Melodik. Was er schuf, war ein neues Genre des musikalischen<br />

Theaters.<br />

„Weill auf die Bühne!“ lautet denn auch<br />

das Motto des Kurt Weill Fests Dessau. Anlässlich<br />

der 90. Wiederkehr seiner Uraufführung<br />

kommt das Stück um die glückliche Errettung<br />

des Londoner Straßenräubers Macheath,<br />

KURT WEILL FEST DESSAU<br />

23. Februar bis 11. <strong>März</strong><br />

Informationen und Kartenservice:<br />

Tel.: +49-(0)341-14 990 900<br />

www.kurt-weill.de<br />

genannt Mackie Messer, den sein Schwiegervater, der Bettlerkönig<br />

Peachum, an den Galgen bringen will, mit dem Anhaltischen Theater<br />

zur Aufführung. Festspielintendant Gerhard Kämpfe blickt<br />

der Inszenierung erwartungsvoll entgegen: „Mit Ezio Toffolutti,<br />

einem Schüler von Benno Besson, konnten wir einen exzellenten<br />

Regisseur gewinnen.“ Als „Gegenstück“ zeigt das Festspiel eine<br />

zeitgenössische Neufassung jener Beggar’s Opera von John Gay, die<br />

Brecht und Weill als Vorlage diente. Moritz Eggert schrieb eine<br />

Musik mit zahlreichen Anspielungen an bekannte Titel aus dem<br />

Great American Songbook wie I Wanna Be<br />

Loved by You von Herbert Stothart, Harry<br />

Ruby und Bert Kalmar, Diamonds are a Girl’s<br />

Best Friend von Jule Styne und Leo Robin oder<br />

Tea for the Tillerman von Cat Stevens. Gezeigt<br />

50 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


FOTOS: TIM KLOECKER; HANNES CASPAR; ULLA LOMMEN; MATTHIAS HEYDE; PHILIP GLASER<br />

Ilja Richter<br />

Till Brönner<br />

La BETTLEROPERa<br />

Dagmar Manzel<br />

wird die fulminante Aufführung von La BETTLEROPERa in<br />

einem Gastspiel der Köllner Oper Berlin mit der TanzTheater-<br />

Kompagnie Balletto Civile, dem Ensemble Freiraum Syndikat und<br />

Moritz Eggert.<br />

Kämpfe leitet das Festspiel in diesem Jahr zum ersten Mal.<br />

Als „primus inter pares“, wie er es nennt, steht er in einem vierköpfigen<br />

Team. Es sei ein Glücksfall, schwärmt er. Mit Johannes Weigand,<br />

dem Generalintendanten des Anhaltischen Theaters und<br />

Theatermann mit großer Erfahrung, Markus L. Frank, dem Generalmusikdirektor<br />

des Hauses und exzellentem Musiker, sowie dem<br />

Kurt-Weill-Spezialisten Jürgen Schebera kämen vier unterschiedliche<br />

Qualitäten zusammen. Was Kämpfe, der in Berlin als erfolgreicher<br />

Konzertmanager tätig ist und Kontakte zu vielfältigen<br />

Künstlern unterhält, bewog, nach Dessau zu kommen, ist die<br />

Begeisterung für Weill und „diese unglaublich kreative Zeit der<br />

Berliner 20er-Jahre“. Eine kulturelle Explosion habe damals stattgefunden.<br />

Sich bei der Planung eines Festivals in diesem Umfeld<br />

zu bewegen, sei eine großartige Herausforderung.<br />

Fasziniert ist Kämpfe von der bis heute ungebrochenen<br />

Strahlkraft, die Weills Musik besitzt. All die Künstler, mit denen er<br />

quer durch die musikalischen Genres gesprochen habe, hätten<br />

Weill sofort als anregendes Thema angesehen. „Jeder beschäftigte<br />

sich offenbar irgendwann mit der Musik von Kurt Weill.“<br />

Im Eröffnungskonzert spielt der Trompeter Till Brönner,<br />

Artist in Residence des Festspiels, mit der Anhaltischen Philharmonie<br />

Dessau Auszüge aus der Brecht-Weill-Oper Aufstieg und<br />

Fall der Stadt Mahagonny sowie weitere Meisterwerke von der<br />

Klassik bis zur Gegenwart. Auch Jan Josef Liefers und seine Band<br />

Radio Doria bauen in ihr Song-Programm Weill-Titel ein. Dagmar<br />

Manzel erinnert mit ihrem Hollaender-Programm „Menschenskind!“<br />

an die Anfänge des literarisch-politischen Kabaretts in<br />

Deutschland, während Jochen Kowalski sich mit dem Salonorchester<br />

Unter’n Linden dem Kabarett und dem Film der 20er-<br />

Jahre widmet.<br />

48 Veranstaltungen bringen Musik in Theater, Sakralbauten,<br />

Museen und historische Stätten von „Cis-Schwein“, wie Weill seine<br />

Geburtsstadt scherzhaft nannte, Magdeburg, Halle an der Saale,<br />

Wörlitz, Gröbzig und Zerbst. „Wir wollen auch die Herkunft<br />

Weills als Sohn einer jüdischen Familie wieder in den Fokus<br />

rücken“, betont Kämpfe. Ein Programm geistlicher Musik, das<br />

junge Künstler einbindet, führt in die Synagogen von Gröbzig und<br />

Halle an der Saale. Und ein Symposium zum 100. Jahrestag der<br />

Künstlervereinigung Novembergruppe setzt sich mit der Arbeit<br />

der Künstler und Musiker auseinander, die nach dem Zusammenbruch<br />

des Kaiserreiches mit ihrer Kunst am Aufbau einer demokratischen<br />

Gesellschaft mitwirken wollten. Den krönenden<br />

Abschluss der Festspiele bildet der Auftritt von Ute Lemper. Begleitet<br />

vom MDR Sinfonieorchester, singt sie die großen Brecht-Weill-<br />

Songs aus der Dreigroschenoper und der Oper Aufstieg und Fall der<br />

Stadt Mahagonny sowie J’attends un navire, in dem die nach Südamerika<br />

entführte Marie Galante aus der gleichnamigen Oper ihr<br />

Heimweh beklagt. <br />

n<br />

51


E R L E B E N<br />

FOTO: BACHFEST LEIPZIG, WWW.MALZKORNFOTO.DE<br />

BACH-SCHATZKISTE<br />

Das Leipziger Bachfest nähert sich mit exzellenten Interpreten, spannenden Programmkonzepten<br />

und über 160 Veranstaltungen dem Faszinosum des großen Meisters an.<br />

VON DOROTHEA WALCHSHÄUSL<br />

Er ist der musikalische Heilige der Stadt: Als Thomaskantor hat<br />

Johann Sebastian Bach die Musikgeschichte der Stadt Leipzig<br />

maßgeblich geprägt. Die Namen Bach und Leipzig sind bis heute<br />

die Schlüssel zu einer besonders reich gefüllten Schatzkiste an einzigartigen<br />

Tonschöpfungen. Beim Bachfest der Stadt Leipzig wird<br />

diese Kiste Jahr um Jahr aufs Neue geöffnet und ihr kostbarer<br />

Inhalt in unterschiedlichster Art und Weise dargeboten.<br />

In diesem Jahr lautet das Motto des Leipziger Bachfests<br />

„Zyklen“. Johann Sebastian Bach hatte eine besondere Vorliebe für<br />

zyklische Formen und Werkgruppen, konnte er in ihnen doch<br />

systematisch die musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten eines<br />

bestimmten Motivs, eines Themas oder einer speziellen Gattung<br />

erforschen. Beim Bachfest werden unter anderem ein Passions-<br />

Zyklus und Aufführungsserien mit den Brandenburgischen Konzerten,<br />

dem Wohltemperierten Klavier, den Goldberg-Variationen<br />

sowie den Suiten für Violoncello solo zu erleben sein.<br />

Ein monumentales Highlight krönt das Eröffnungswochenende.<br />

Wie andernorts die Opern Wagners werden beim „Leipziger<br />

Kantaten-Ring 20<strong>18</strong>“ innerhalb von 48 Stunden 30 ausgewählte<br />

geistliche Kantaten Bachs in insgesamt<br />

zehn Konzerten aufgeführt, die im<br />

Gesamtkontext musikalisch ein komplettes<br />

Kirchenjahr nachzeichnen. Als<br />

BACHFEST LEIPZIG 8. bis 17. Juni<br />

Informationen und Kartenservice:<br />

Tel.: +49-(0)341-91 37 300<br />

bachfest@bach-leipzig.de | www.bachfestleipzig.de<br />

Interpreten sind weltweit führende Bach-Experten vor Ort, darunter<br />

Ton Koopman, Hans-Christoph Rademann, Thomaskantor<br />

Gotthold Schwarz und Masaaki Suzuki. Für John Eliot Gardiner,<br />

der seit 2014 das Amt des Präsidenten des Bach-Archivs in Leipzig<br />

innehat und diesen besonderen Konzertreigen initiiert hat, ist der<br />

Kantaten-Ring ein Herzensprojekt: „Bachs Kantaten sind der Mittelpunkt,<br />

das wahre Zentrum von Bachs Kirchenmusik. Und deshalb<br />

bin ich überglücklich, dass all diese wunderbaren Kollegen an<br />

der ,Uraufführung‘ des Kantaten-Rings beim Leipziger Bachfest<br />

20<strong>18</strong> mitwirken werden“, so Gardiner.<br />

Wesentlich verantwortlich für die intensive Leipziger Bach-<br />

Pflege war Felix Mendelssohn Bartholdy, der die Stadt als Gewandhauskapellmeister<br />

ebenfalls musikalisch sehr geprägt hat. Entsprechend<br />

ist im Rahmen des Bachfests auch ihm eine eigene Reihe<br />

gewidmet.<br />

Neben diesem spannenden musikalischen Seitenblick sorgen<br />

Wissenschaftler des Bach-Archivs und ausgewiesene Gastreferenten<br />

und Bach-Experten für weitere aufschlussreiche Perspektiven<br />

auf den barocken Großmeister und begleiten die verschiedenen<br />

Veranstaltungen mit Vorträgen und<br />

Konzerteinführungen. Auf dem Leipziger<br />

Markt findet zudem ein großes Bach<br />

Open Air statt. <br />

n<br />

52 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


E R L E B E N<br />

Faust-Festivalteam<br />

FOTO: FAUST-FESTIVAL / ROBERT HAAS<br />

DES PUDELS<br />

GLANZVOLLER KERN<br />

In München dreht sich ab Februar ein halbes Jahr lang alles um Goethes Faust. Am einzigartigen<br />

Festival sind alle von der Bayerischen Staatsoper bis zur Paulaner-Brauerei beteiligt.<br />

VON ANTOINETTE SCHMELTER-KAISER<br />

Niemals hätte Roger Diederen mit den Wellen gerechnet, die seine<br />

Idee schlagen würde: Bei den Vorbereitungen zur Ausstellung „Du<br />

bist Faust“ wurde dem Direktor der Münchner Kunsthalle vor zwei<br />

Jahren klar, wie aktuell und vielfältig Goethes Drama als Inspirationsquelle<br />

ist. Seine Idee, das Thema über den Rahmen seiner Räume<br />

hinaus auch andernorts neu zu interpretieren, begeisterte nicht nur<br />

Max Wagner, damals frisch gebackener Geschäftsführer des Gasteig.<br />

Bereits beim ersten Treffen mit potenziellen Kooperationspartnern<br />

Ende 2016 „war die Bude voll“, erinnern sich die beiden. Beim zweiten<br />

kamen 300 Gäste. Auch die Zahl möglicher Veranstaltungen<br />

nahm rasant zu – von 100, die Diederen und Wagner anfänglich für<br />

„ambitioniert“ hielten, auf mehr als 500. „Wir wollen den Stoff öffnen,<br />

frisch und auch mit einem Augenzwinkern angehen“, erklärt<br />

Anna Kleeblatt, die als Projektleiterin mit ins Boot geholt wurde<br />

und ihr Netzwerk einbrachte. „Dabei kann jeder über alle Sparten<br />

und Genres hinweg mitmachen.“<br />

Der Gasteig, der unter Wagner explizit die Schwelle niedrig<br />

setzen will und Kulturvermittlung als seine wichtigste Aufgabe versteht,<br />

wird das Festival-Zentrum. Highlights im fünfmonatigen<br />

Event-Reigen sind vom 23. Februar bis 29. Juli neben der großen<br />

Ausstellung in der Kunsthalle Beiträge renommierter Institutionen<br />

– egal ob Martin Kušejs Faust-Inszenierung am Residenztheater oder<br />

Aufführungen von Mefistofele mit Erwin Schrott in der Bayerischen<br />

Staatsoper. Darüber hinaus gibt es breitgefächerte Angebote unterschiedlichster<br />

Veranstalter, die allesamt auf ihre<br />

Weise aktiv werden: Im Paulaner am Nockherberg<br />

wird beispielsweise als Spezialbier<br />

„Faustus“-Weizenbock gebraut und über Wochen<br />

FAUST-FESTIVAL MÜNCHEN<br />

23. Februar bis 29. Juli<br />

www.faustfestival.com<br />

hinweg ausgeschenkt. Beim Faschingszug Anfang Februar stellen<br />

Teilnehmer des Münchner Galerie Theaters Fausts Himmelfahrt dar.<br />

Ab Ende Februar ermöglicht Klangkünstler Mathis Nitschke Smartphone-Besitzern<br />

Hörspaziergänge namens „Vergehen“. Im Rahmen<br />

des GUTE STUBE Erzählfestivals suchen Gabi Altenbach und Ines<br />

Honsel nach der Geschichte, die Goethe zu seinem wichtigsten<br />

Werk inspirierte. Und mit einer „Ein-Frau+Puppen-Voll-Playback-<br />

Show“ bereitet Bridge Markland den Stoff ab Mitte April unter<br />

anderem in der Stadtbibliothek für die Generation Popmusik auf.<br />

„Das Gesamtergebnis ist mehr als die Summe seiner Teile“,<br />

freut sich Max Wagner über so viel Einfallsreichtum. „Der Charme<br />

des Festivals ist, dass wir bewusst auf die Auswahl durch Kuratoren<br />

verzichtet haben.“ Dabei sind alle 120 Partner sowohl organisatorisch<br />

als auch finanziell selbst für ihre Programmbeiträge verantwortlich.<br />

Eine gemeinsame Website erlaubt Zugriff auf eine detaillierte<br />

Datenbank mit allen Terminen, Inhalten und Veranstaltern.<br />

Überdies wird das Festival mit Plakaten und Flyern beworben, die<br />

das Logo mit einem im Comicstil gedruckten Schriftzug auf reclamheftgelbem<br />

Grund tragen – für die Organisatoren ebenfalls ein Ausdruck<br />

ihrer Überzeugung, wie „heutig und relevant“ Goethes Klassiker<br />

ist. Dass das „Faust-Fieber“ derart viele Menschen infiziert hat,<br />

entschädigt Roger Diederen und Max Wagner dafür, dass sie neben<br />

ihren Hauptaufgaben „wahnsinnig viel Zeit“ in die Vorbereitung<br />

des Festivals gesteckt und „Nächte durchgeplant“ haben. Und Anna<br />

Kleeblatt attestiert eine „unglaublich schöne<br />

Arbeit, die viele neue Verbindungen geknüpft<br />

hat“.<br />

n<br />

53


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Abb.: Portmedia Verlag; Strezhnev Pavel / fotolia.com<br />

54 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


SCHWERPUNKT<br />

FILMMUSIK<br />

Psychomord, Westernheld und Weltraumklänge – eine kleine Geschichte der Filmmusik (Seite 56)<br />

Das Revival einer alten Kunst: Stummfilm mit Orgelbegleitung (Seite 62)<br />

Musikinstrumente<br />

im Film<br />

VON STEFAN SELL<br />

Filmmusik<br />

Geige Gitarre Klavier<br />

Anders als<br />

gedacht<br />

Bernard Herrmann<br />

komponierte<br />

die schrillen<br />

Streicherklänge zur<br />

berühmt-berüchtigten Duschszene<br />

in Hitchcocks Psycho (1960), ein<br />

Juwel der Filmmusikgeschichte.<br />

Zu hören waren diese markanten<br />

Streicherhiebe indes schon 1906,<br />

als Jean Sibelius in Petersburg seine<br />

sinfonische Fantasie Pohjolas<br />

Tochter uraufführte.<br />

Die Gitarrenmusik zum Film<br />

Verbotene Spiele (1952) war so<br />

schön, dass man glaubte, Narciso<br />

Yepes hätte sie hierfür komponiert.<br />

Allein dieses wohl bekannteste<br />

Werk der klassischen Gitarre<br />

ist älter, heißt Romance de España,<br />

stammt aus der Feder des Vielschreibers<br />

„Anónimo“ und wurde<br />

bereits 1941 von Vicente Gómez in<br />

König der Toreros gespielt.<br />

Im Filmklassiker Casablanca<br />

(1942) saß Dooley Wilson als Sam<br />

am Klavier und sang As time goes<br />

by. Das Klavier aber spielte nicht<br />

er, sondern der Pianist Elliot Carpenter<br />

aus dem Off. Kein einziges<br />

Mal ist zu hören: „Play it again,<br />

Sam!“, wohl aber „Play it once,<br />

Sam!“, und vor allem forderte<br />

Ilsa: „Sing it, Sam!“ und<br />

genau das tat Sam, er sang.<br />

Erstaunlich<br />

Die rote Violine spielte Joshua<br />

Bell für den gleichnamigen<br />

Film. Für die Musik bekam John<br />

Corigliano 2000 einen Oscar.<br />

Als Bell jedoch Anfang 2007<br />

seine Stradivari auspackte, um<br />

inkognito in einer Washingtoner<br />

U-Bahn-Station zu spielen,<br />

rauschten während der Rushhour<br />

mehr als 1.000 Leute<br />

an ihm vorbei, ohne sein<br />

Spiel wahrzunehmen.<br />

In Crossroads löst ein spektakuläres<br />

E-Gitarrenduell einen<br />

Teufelspakt auf, und Flitzefinger<br />

Steve Vai gelingt es, sich mit<br />

seinem eigenen Spiel selbst zu duellieren.<br />

Als Vertreter des Teufels<br />

übernimmt er den Verliererpart<br />

und lässt als Double hinter der<br />

Leinwand seinen Herausforderer<br />

Eugen (Ralph Maccio) mit<br />

paganiniwürdigen Sololäufen<br />

gewinnen.<br />

Mit der Unterstützung von<br />

Salvador Dalí zeigte Luis<br />

Buñuel 1929 in Ein andalusischer<br />

Hund, dass ein Konzertflügel<br />

ausreichend Platz für einen toten<br />

Esel hat. Gleich zwei Flügel mit<br />

je einem Esel zieht ein schwer<br />

gebückter Mann durch die Szene.<br />

Die Musik zu diesem Stummfilm<br />

schuf Buñuel mit einem Remix aus<br />

Tango und Wagner.<br />

Wirklich<br />

wahr<br />

Horror-Garant Wes Craven<br />

schöpfte aus einer wahren<br />

Geschichte das berührende<br />

Melodram Music of Heart. Im<br />

Mittelpunkt steht eine Violinlehrerin<br />

(Meryl Streep), die im<br />

Problemviertel East Harlem gegen<br />

alle Hindernisse beweist, dass<br />

Geigespielen Menschen inspiriert<br />

und stark macht. Meryl Streep<br />

nahm für die Rolle extra Instrumentalunterricht.<br />

Dass man aus drei sparsamen<br />

Gitarrenakkorden ein Leitmotiv<br />

für einen ganzen Film machen<br />

kann, bewies 1973 Nobelpreisträger<br />

Bob Dylan in Pat Garrett jagt<br />

Billy the Kid. Mit diesen drei Akkorden<br />

auch noch eine Westernballerei<br />

in den Song Knockin’ on<br />

heaven’s door münden zu lassen<br />

und damit einen seiner größten<br />

Hits zu landen, ist schlicht genial.<br />

In Anatomie eines Mordes (1959)<br />

spielt James Stewart einen Anwalt,<br />

der mehr Interesse für Jazzmusik<br />

hegt als für seinen Beruf.<br />

Kein Wunder, hat doch die Musik<br />

zu diesem Film Duke Ellington<br />

geschrieben. Das muss Stewart<br />

so sehr begeistert haben, dass<br />

er nicht nur den Anwalt spielte,<br />

sondern auch Klavier, natürlich<br />

vierhändig mit Ellington.<br />

FOTO: CHRIS LEE<br />

55


Filmmusik<br />

DER SOUNDTRACK DER<br />

FLIMMERWELT!<br />

Sie dröhnen, romantisieren, zitieren und lassen schweigen.<br />

Sie beschwören Vorahnungen und schaffen Gewissheiten. Eine Reise in die Welt der<br />

Filmmusik von Dr. Caligari bis Spiel mir das Lied vom Tod.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

Grell und spitz stoßen die hohen Violinen zu, messerscharf<br />

sausen die Geigen-Glissandi herab, es kreischt<br />

und sägt, „fortissimo, brutale“, wie es in der Partitur<br />

von Bernard Herrmann (1911–1975) steht. 53 „Cuts“ in<br />

136 Sekunden, die Frau in der Dusche wird regelrecht zerhackt.<br />

Man sieht es nicht in Hitchcocks Psycho – aber die Musik lässt<br />

es hören. Ob Messerzücken, Kuss oder Cliff-Hanger: Nichts geht<br />

im Film ohne Musik. Sie verstärkt Gefühle und Fantasien und<br />

lässt Menschen umso lieber ins Kino gehen. Schon zu Stummfilmzeiten:<br />

1917 wurden täglich 14 Millionen<br />

Tickets verkauft, in Paris 1915 allein<br />

im Oktober ganze 1,6 Millionen – fast die<br />

Hälfte der damaligen Einwohnerzahl.<br />

Regelrechte Stummfilmkathedralen<br />

wurden erbaut, wie das Roxy Theatre in New<br />

York, dessen spektakulär goldenes Auditorium<br />

fast 6.000 Sitzplätze fasste. Kinoorgeln<br />

produzierten alle Klangfarben und Geräusche,<br />

dazu ein Orchester von 110 Mann nebst gemischtem Chor und<br />

Vokalsolisten. Ob Mozart, Massenet, Weber oder Sibelius, Wagner<br />

oder Bizet: Die Musik wurde an die Stimmung und das „Cue sheet“<br />

angepasst, die von den Produzenten herausgegebene Liste der Stellen,<br />

an denen Musik stattfinden sollte.<br />

Freizügig der Umgang mit dem kompositorischen Material:<br />

„Das Motiv für Caligari holten wir uns bei Straussens Till Eulenspiegel“,<br />

schildert Filmkomponist Ernö Rapée 1919 die Suche nach<br />

passender Musik für Das Cabinet des Dr. Caligari. „Um Cäsar, den<br />

Träumer, zu etikettieren, pumpten wir uns ein bisschen was von<br />

Debussys Nachmittag eines Fauns.“ In kleinen Kinos führte ein Pianist<br />

durch den Film. Schlager, Gassenhauer, Ragtime oder Opernmedleys,<br />

jedes Genre musste er parat haben – inklusive ein „Achtung!<br />

Gefahr!“ signalisierendes Tremolo. Musik, die an jeder Stelle<br />

abgebrochen oder verlängert werden konnte.<br />

„Wir brauchten das Geld bitter nötig“, beschreibt Dmitri Schostakowitsch,<br />

wie er Anfang der 20er-Jahre in Leningrad im „Aurora“<br />

seine „Muggen“ verdiente. Seinem Lehrer Glasunow versicherte er,<br />

„dass ich kein Lotterleben treibe; die Sache steht schlimmer. Mit der<br />

Arbeit am Cinematograph bin ich völlig aufgeschmissen […] Wenn<br />

ich nach Hause komme, [klingt mir] immer noch die Kinomusik in<br />

KURT WEILL FÜHLTE SICH ALS<br />

HURE HOLLYWOODS<br />

den Ohren, und vor meinen Augen stehen die Helden und sind mir<br />

böse […] Ich stehe sehr spät auf, mit schwerem Kopf und unpassenden<br />

Gefühlen. Es kriechen mir unanständige Gedanken in den<br />

Kopf, etwa: Ich hätte mich für 134 Rubel an das ,Sevzapino‘ verkauft<br />

und sei nun zum Kinopianist geworden.“ Das Komponieren frustrierte<br />

ihn: „ein Trommelschlag beim Eintritt eines neuen Helden;<br />

ein munterer energischer Tanz für die positiven Helden, ein Foxtrott<br />

für die ,Zersetzung‘ und eine muntere Musik für das glückliche<br />

Finale“. Dennoch wird er 40 Filmmusiken schreiben.<br />

„Keine Hure liebt je ihren Freier, und<br />

sie will ihn so schnell wie möglich loswerden,<br />

sobald sie ihre Dienste bereitgestellt<br />

hat. Das ist mein Verhältnis zu Hollywood.<br />

Ich bin die Hure“, brachte es Kurt Weill auf<br />

den Punkt. Dennoch gelang es Komponisten,<br />

auch eigenständige Musik zu schreiben,<br />

wie Paul Hindemith für Im Kampf mit dem<br />

Berge (1921) oder Eric Satie für René Clairs<br />

Entr’Acte (1924). Saties Musik ist so absurd wie der Film selbst, ein<br />

musikalisches Kaleidoskop, das nie zum Puzzle wird. Passend dazu<br />

die Aufforderung an das Publikum: „Bringen Sie schwarze Sonnenbrillen<br />

mit. Oder etwas, mit dem Sie die Ohren verstopfen können.“<br />

Eine Revolution löste 1927 die Erfindung des Tonfilms aus. Die<br />

auf das neue Lichttonverfahren standardisierte Filmrolle war billiger<br />

als der Unterhalt eines Kinoorchesters, der seinerzeit 200.000 Dollar<br />

jährlich verschlang. Kleine Kinos konnten sich nun die (einmalige)<br />

Anschaffung eines Projektors für 15.000 Dollar leisten. Musiker<br />

aber wurden über Nacht arbeitslos.<br />

Fritz Langs legendärer Film M von 1931 nutzt die Sprache des<br />

Stummfilms und verbindet sie mit den neuen Errungenschaften.<br />

Er setzt die bis dahin illustrierende Filmmusik dramaturgisch ein:<br />

Immer, wenn der Kindermörder einem Mädchen begegnet, wenn<br />

in ihm Mordgedanken aufsteigen, pfeift er die Melodie von In der<br />

Halle des Bergkönigs aus Griegs Peer-Gynt-Suite. An der Melodie<br />

wird der blinde Händler, der dem Mädchen einen Luftballon verkauft,<br />

die Gefahr erkennen.<br />

Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 schöpfen viele Drehbuchautoren<br />

ihre Stoffe aus Presse- und Gerichtsakten, die die korrupte<br />

amerikanische Justiz und Politik und die soziale Misere anprangern.<br />

57


F I L M M U S I K<br />

Es ist die Stunde des Film noir, seine<br />

Sujets vertragen keine Musikretusche.<br />

Misere als sarkastische Karikatur setzt<br />

Chaplin genial in Moderne Zeiten 1936<br />

in Bild und Musik um. Der Held als<br />

hilfloses Zahnrädchen im Produktionsgetriebe<br />

spricht nicht, dafür die Musik:<br />

Muntere Quicksteps folgen den eintönigen,<br />

immer schnelleren Bewegungen<br />

des Arbeiters am Fließband. „Mickey-<br />

Mousing“ nannte sich das Verfahren,<br />

jede Bewegung musikalisch zu verdoppeln.<br />

„Der Schauspieler kann seine<br />

Augenbraue nicht hochziehen“, witzelte<br />

Aaron Copland, „ohne dass die Musik<br />

ihm dabei hilft.“ Und meinte damit<br />

nicht Chaplin, sondern Max Steiner,<br />

der diese Methode exzessiv betrieb. Doch Steiner<br />

(<strong>18</strong>88–1971), einstiger Schüler von Gustav<br />

Mahler, war auch ein begabter Komponist, wie<br />

seine Musik zu Vom Winde verweht (1939) zeigt.<br />

Drei Stunden Musik inklusive Ouvertüre, in<br />

zwölf Wochen komponiert, dank Aufputschmitteln.<br />

16 Leitmotive und über 300 Einzelnummern,<br />

die er geschickt aus Motiven des musikalischen<br />

MGM-Firmensignets entwickelte, das<br />

jeden Film als „musikalisches“ Markenzeichen<br />

einleitet. Während Steiners Musik vorwiegend<br />

illustrativ bleibt, brachte Franz Waxmann (1906–<br />

1967) eine psychologisierende Ebene hi nein.<br />

Sein chromatisches Rebecca-Thema aus dem<br />

gleichnamigen Hitchcock-Film von 1940, taucht<br />

nur kurz auf, bleibt dennoch präsent, in variierter<br />

Form, wie ein Geist, der durch die Zimmer<br />

wandelt – der Protagonistin Rebecca ähnelnd,<br />

die tot ist und dennoch die Handlung bestimmt.<br />

Kongenialer Höhepunkt der Zusammenarbeit<br />

zwischen Regisseur und Komponist ist<br />

Herrmanns Musik zu Orson Welles’ Citizen Kane<br />

(1941). Eine formal gleichbleibende Frühstücksszene zeigt den Verfall<br />

von Kanes erster Ehe. Erste Einstellung: langsamer sentimentaler<br />

Walzer für das liebende Paar. Zweite Einstellung: burlesk-heitere<br />

Variation. Das Paar scherzt. Dritte Einstellung: aufgeregte Variation.<br />

Emily ist nun strenger angezogen, die Stimmung gereizt. Vierte Einstellung:<br />

Disput zwischen den Eheleuten, die einstige Walzermelodie<br />

ist in Rede und Gegenrede aufgeteilt. Fünfte Einstellung: offener<br />

Streit. Das Dies-Irae-Motiv klingt an. Sechste Einstellung: Lichte<br />

Walzerfetzen erinnern an das einstige Glück. Die Melodie hat sich<br />

aufgelöst wie die Ehe.<br />

Deskriptiv und psychologisierend ist auch die Musik von Miklós<br />

Rózsa zu Billy Wilders Das verlorene Wochenende (1945). Eine<br />

zirpende Violine ahmt die Laute der Mäuse nach, die der Trinker im<br />

Delirium zu sehen glaubt. Solche Eindringlichkeit ist selten. Meist<br />

ist Filmmusik reines „Illustrationsmaterial“, auch die bereits komponierte.<br />

Im Spiritismus-Schinken Der Exorzist (1972) gibt’s Musik<br />

von Webern, Penderecki und Henze, frei nach J. S. Bach: Wo immer<br />

der Böse die Hand im Filmspiel hat, dort ist „ein teuflisch Geplärr<br />

und Geleier“, wo immer der Gute, da schwelgt das Orchester.<br />

Ausnahmen bestätigen die Regel: Kunstvoll verzahnt Stanley<br />

Kubrick in Barry Lyndon die Duellszenen mit Händels Sarabande<br />

d-Moll. In Wilders Boulevard der Dämmerung erscheint die alternde<br />

Diva zu Bachs d-Moll-Toccata; die Musik unterstreicht einstige,<br />

unwiederbringliche Pracht. Mit Wagners Walkürenritt<br />

ziehen amerikanische Soldaten in<br />

Apokalypse now in den Vietnam-Krieg.<br />

Meist bedient sich Filmmusik der Standardvokabeln.<br />

Beethovens Für Elise steht für<br />

kleinbürgerliche Enge, ein Wiegenlied für<br />

Muttergefühle, Spieldosenmusik für amerikanische<br />

Weihnacht, Trompeten für die Helden,<br />

Oboen-Lieblichkeit für ländliche Atmosphäre,<br />

Blues auf verstimmtem Klavier für liederliche<br />

Kneipenstimmung, behäbige Streicherpracht<br />

plus Cembalo für aristokratisches Milieu. Horror,<br />

wenn die Kontrabassklarinette klingt. Und<br />

die Stille? Meisterhaft setzt Ennio Morricone sie<br />

in Spiel mir das Lied vom Tod ein, zwischen<br />

schwelgerischen Orchesterpassagen<br />

und dem berühmten Mundharmonika-Motiv.<br />

Heute aber dominiert die volle<br />

Dröhnung, wie Hans Zimmers „Wall-to-<br />

Wall Score“-Methode: Ein Großteil des<br />

Films wird mit Musik unterlegt. Zimmer<br />

weiß sich zu vermarkten – jedenfalls besser<br />

als György Ligeti, dessen Werke ohne<br />

sein Wissen in Kubricks 2001: Odyssee<br />

im Weltraum „verarbeitet“ wurden.<br />

Ligeti hatte nichts dagegen, wäre aber<br />

gerne dafür honoriert worden. „Sie werden<br />

ihren Prozess in Frankfurt, Wien<br />

und London gewinnen“, schrieb ihm seinerzeit<br />

MGM zynisch. „In Los Angeles<br />

aber können wir ihn 20 Jahre dauern lassen.<br />

Wollen Sie lieber jetzt 1.000 Dollar?“<br />

Schließlich bekam er 3.000 Dollar.<br />

Einen Blick in die harten Arbeitsbedingungen<br />

gab bereits Roland-Manuel<br />

1947: Filmmusik-Komponisten werden<br />

wie „Maler“ bestellt, „um Ausbesserungsarbeiten<br />

in einer (fertigen) Wohnung<br />

durchzuführen“. Dann „sieht sich der unglückliche Musiker, versehen<br />

mit einer Stoppuhr, begleitet von einer mitleidvollen Cutterin,<br />

einem heillosen Durcheinander gegenüber, dem Rohschnitt des<br />

Films“. Der Regisseur gibt zu verstehen, „der Sonnenaufgang am<br />

Anfang der dritten Filmspule“ funktioniere nicht, „eine ausdrucksvolle<br />

Sinfonie von 20 Sekunden Länge“ müsse her. Dann noch ein<br />

schönes Cello-Solo, um eine missratene Szene zu retten. Telefonisch<br />

werde man ihm die endgültige Länge der Sequenzen mitteilen.<br />

„Acht Tage und acht Nächte sitzt unser Mann an 40 Minuten Musik<br />

… unterbrochen von Telefonanrufen der Cutterin, die ihm mitteilt,<br />

dass der Vorspann nun doch länger werde … dass die eine Sequenz<br />

von Rolle 7, für welche die Musik schon fertig ist, … unter den Tisch<br />

falle.“ Dann hört der Komponist lange nichts, bekommt eines Tages<br />

eine Einladung zur Filmpremiere. „Dort ist die Überraschung hart<br />

… Das Geräusch des Krans überdeckt die Musik, die ursprünglich<br />

den Lärm der Stadt nachzeichnen sollte … Die ursprünglich für<br />

das Shakespeare’sche Theater geschriebene elisabethanische Musik<br />

wurde dem Streit im Postamt unterlegt: charmanter Einfall des<br />

Regieassistenten … Noch vor dem Ende der Vorführung ergreift der<br />

Komponist die Flucht.“ Kein einfacher Beruf also. Und dann noch<br />

der Spott. „Wo soll denn um Himmels Willen mitten auf dem Ozean<br />

In Spiel mir das Lied vom Tod wird Stille, in<br />

Citizen Kane musikalische Auflösung zum<br />

Stilmittel<br />

Musik herkommen?“, lästerte Hitchcock, als er eine Szene auf See<br />

inszenierte. <br />

■<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Filmmusik<br />

HOLLYWOOD-<br />

SOUND –<br />

DAS QUIZ<br />

Wie gut kennen Sie die Klangschmiede<br />

des Film-Olymp?<br />

VON MARIA GOETH<br />

Bei welchem Filmmotiv dachte Regisseur<br />

Steven Spielberg zunächst, sein Filmkomponist<br />

John Williams hätte sich einen Scherz erlaubt?<br />

A) Indiana Jones B) Der weiße Hai C) Jurassic Park<br />

C<br />

M<br />

Y<br />

Wie viele Minuten lang eröffnet der Film<br />

Spiel mir das Lied vom Tod mit nichts als<br />

Umgebungsgeräuschen – ohne Musik,<br />

ohne gesprochenes Wort?<br />

A) 13 B) 5 C) 9<br />

CM<br />

MY<br />

CY<br />

CMY<br />

K<br />

Bei welchem Film wurden in den amerikanischen<br />

Kinos Warnschilder aufgehängt, da er an zentraler<br />

Stelle zehn Sekunden Stille enthält,<br />

die von Besuchern für einen technischen Defekt<br />

gehalten werden könnten?<br />

A) Herr der Ringe – Die zwei Türme B) Gladiator<br />

C) Star Wars – The Last Jedi<br />

Welcher berühmte Filmkomponist hat einen<br />

Gastauftritt im legendären Video des Songs Video<br />

Killed the Radio Star, mit dem der Musiksender MTV<br />

1981 sein Programm aufnahm?<br />

A) James Cameron B) Danny Elfman C) Hans Zimmer<br />

Welches Instrument spielt in Thomas Newmans<br />

Oscar-nominierter Musik zum Spielfilm<br />

American Beauty eine Hauptrolle?<br />

A) Maultrommel B) Marimba C) Tuba<br />

Die Lösungen lauten B, A, C, C, B<br />

59


F I L M M U S I K<br />

DER KLANGTÜFTLER<br />

Gerade hat David Reichelt den Deutschen Filmmusikpreis gewonnen. In seinem Studio<br />

lüftet der Komponist einige Geheimisse seiner Zunft.<br />

VON MARIA GOETH<br />

FOTO: DAVID REICHELT<br />

„FÜR SKURRILE MUSIKWELTEN<br />

RÄUME ICH AUCH MAL MEINE<br />

GANZE KÜCHE AUS UND SAMPLE<br />

KLÄNGE DARAUS“<br />

Da liegt es also, eines der<br />

Epizentren der Filmmusik.<br />

Im lauschigen Münchner<br />

Stadtteil Waldtrudering<br />

passiere ich hübsche Häuserreihen mit<br />

gepflegten Vorgärten. Ich bin auf dem<br />

Weg zu David Reichelt, preisgekrönter Film- und Fernsehkomponist<br />

und zusammen mit Sängerin Caroline Adler frischgebackener<br />

Gewinner des Deutschen Filmmusikpreises – ausgezeichnet<br />

wurden sie für den lyrischen Titelsong in Matthias Langs deutschem<br />

Fantasy-Streifen König Laurin.<br />

An der Tür zur Ideenschmiede nimmt mich der perfekt<br />

gestylte 31-Jährige herzlich in Empfang. In Erwartung eines<br />

irgendwie gearteten Produktiv-Chaos, verblüffen mich Klarheit,<br />

Modernität und Aufgeräumtheit des Ortes, der Studio und Privatwohnung<br />

in einem und in dessen Edelstahlküche eine akkurate<br />

Teesammlung aufgereiht ist. Das Arbeitszimmer wird von<br />

einem Schreibtisch mit drei großen Bildschirmen, einer ausziehbaren<br />

Klaviatur und einigen hochwertigen Lautsprechern dominiert.<br />

In einem Schrank versteckt sich ein Mini-Aufnahmestudio,<br />

das Reichelt selbst mit Akustikmodulen ausgekleidet hat.<br />

Auf einem niedrigen Holzregal reihen sich exotische Flöteninstrumente<br />

aneinander: von armenischer<br />

Duduk über chinesische Xiao bis<br />

zur irischen Tin Whistle und modernem<br />

Xaphoon.<br />

Jetzt will ich es wissen. Wie<br />

genau komponiert man eine Filmmusik?<br />

Wie verläuft der Arbeitsprozess? „Das ist sehr unterschiedlich“,<br />

betont Reichelt. Bei manchen Projekten steigt er früh ein,<br />

bekommt bereits die erste Drehbuchfassung des Films und verfolgt<br />

die gesamte Entwicklung mit. Manchmal passiert das erst<br />

sehr spät. Gerade „pitcht“ Reichelt für eine Fernsehserie, bewirbt<br />

sich also dafür mit einem Musikkonzept. Der Film ist fertig abgedreht.<br />

Er muss also „nur“ noch den richtigen Sound zum Material<br />

finden. In der Regel entscheiden Produzent und Regisseur, wer<br />

eine Musik zum Film komponieren soll. Reichelt arbeitet den fertigen<br />

Film mehrere Male durch. Manchmal hat der Cutter bereits<br />

sogenannte „Temp-Tracks“ daruntergelegt, vorübergehend eingesetzte<br />

Musik aus anderen Filmen, die ihm bei seinem Schneide-<br />

Rhythmus hilft. Reichelt ignoriert diese manchmal lästigen Füller<br />

elegant, um etwas Neues zu schaffen. Er setzt sich ans Klavier,<br />

spielt, komponiert und notiert erst einmal einige simple Themen,<br />

die melodische und harmonische Kernaussage. Diese Themen<br />

60 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Filmmusik<br />

Für den Film König Laurin schuf David Reichelt<br />

eine märchenhafte musikalische Fantasiewelt<br />

FOTOS: SPARKLING PICTURES / IVAN POLETTI (3); SPARKLING PICTURES / JULIAN COROMINES; SPARKLING PICTURES / FELIX VON POSER (2)<br />

entwickelt er dann weiter, macht sich eine schematische Auflistung,<br />

wie er den Film gestalten möchte: Wo soll überhaupt Musik<br />

erklingen und für was soll sie stehen? Dabei sind der Regisseur<br />

und später die Produzenten involviert, mit denen Reichelt über<br />

Spannungsbögen und Strukturen debattiert.<br />

Dann wird „ausproduziert“, also orchestriert, gegebenenfalls<br />

Solisten involviert und tatsächlich eingespielt. „Wenn ich nicht<br />

explizit den Charakter von elektronischer Musik treffen will,<br />

nehme ich alles selbst auf“, so Reichelts Ehrgeiz. „Ich baue nicht<br />

mit Samples reale Instrumente nach. Das erreicht nie die 100 Prozent<br />

einer echten Interpretation“. Für gängige Instrumente hat er<br />

eine Stammbesetzung aus seinem Netzwerk, die er „zusammentelefoniert“<br />

und Stück für Stück bei sich im Studio aufnimmt. Vieles<br />

spielt Reichelt dabei höchstpersönlich<br />

ein, so ist er etwa leidenschaftlicher<br />

Saxofonist oder übernahm in der<br />

märchenhaften Fantasiewelt von König<br />

Laurin verschiedene ethnische Instrumente.<br />

„Ich habe schon während der<br />

Schulzeit Instrumente gesammelt“,<br />

strahlt Reichelt. „Ich liebe es, neue zu<br />

lernen! Hier im Studio habe ich gerade<br />

über 50 verschiedene. Für skurrile Musikwelten räume ich auch<br />

mal meine ganze Küche aus und sample Klänge daraus. Oder ich<br />

gurgle oder singe mit morgendlicher Reibeisenstimme und verzerre<br />

das zu synthesizerartiger Musik.“<br />

Für die opulenten Orchesterklänge der Laurin-Produktion<br />

hatte Reichelt für zwei Tage das Babelsberger Filmorchester zur<br />

Verfügung. „Das war für die Aufnahme von einer ganzen Stunde<br />

Orchestermusik sehr knackig“, gesteht Reichelt. „Da muss man<br />

effizient arbeiten. Ich habe die Musik so arrangiert, dass sie von<br />

guten Musikern beim ersten Mal zu spielen ist und Themenvariationen<br />

hintereinander aufgenommen werden.“ Als reines Filmmusikorchester<br />

sind die Babelsberger gewöhnt, „auf Klick“ einzuspielen<br />

– also einen Klicktrack auf ihre Kopfhörer bekommen,<br />

der eine zeitlich absolut passgenaue Einspielung gewährleistet.<br />

Beim Dirigent läuft außerdem in einem Bildschirm der Film mit,<br />

der beispielsweise zusätzlich mit Countdowns zum Abwinken<br />

von Schlussakkorden versehen ist. Diese richtet Reichelt selbst<br />

ein, der hier zum Produktionsleiter wird. Beim anschließenden<br />

Mischen dieser „Hybridproduktionen“ werden dann Orchesterklang,<br />

unabhängig davon eingespielte Solisten und elektronische<br />

„SELBST MUSIK ZU SCHAFFEN,<br />

WAR MEIN GRUNDSÄTZLICHES<br />

BEDÜRFNIS!“<br />

Zuspielungen zu einem idealen Raumklang „vermengt“.<br />

Heute ist Reichelt zunehmend gut im Geschäft, doch auch<br />

für ihn war aller Anfang schwer. Er komponiert, seit er sechs<br />

Jahre alt ist, obwohl keiner in seiner Familie Musik machte. In<br />

der Schule schrieb er Musik für die Theatergruppe. Die Symbiose<br />

zwischen Bild und Musik faszinierte ihn. Doch es sollte zermürbende<br />

19 Aufnahmeprüfungen dauern, bis Reichelt seinen Platz<br />

in der Kompositionsklasse von Filmmusiklegende Enjott Schneider<br />

(Herbstmilch, Schlafes Bruder, Stalingrad) fand. „Es gab keine<br />

Alternative für mich! Das wollte ich machen“, so Reichelt, deshalb<br />

kämpfte er, bis es vier Jahre später endlich klappte.<br />

Doch dann folgten erste kleine, unbezahlte Projekte, etwa<br />

mit der Hochschule für Fernsehen und Film in München und<br />

Musik für Werbespots zum Geldverdienen.<br />

Peu à peu baute Reichelt sein<br />

Netzwerk auf. Es kam eine erste Reihe<br />

– die bayerische Fernsehserie Hindafing<br />

–, in der er die Intrigen und die<br />

Verschrobenheit der Dorfbewohner<br />

im schrillen, reduzierten Jazzsound<br />

auf Schlagzeug, Bass und Saxofon –<br />

Letzteres von Reichelt selbst gespielt<br />

– widerspiegelte. „Die Drogenrauschszenen bei Hindafing sind<br />

musikalisch betrachtet sehr wild“, lacht er. Die insgesamt 4,5<br />

Stunden Filmmaterial sind nach ihrer Fernsehausstrahlung 2017<br />

nun auf Netflix zu sehen.<br />

Und jetzt? Ist der Deutsche Filmmusikpreis für König Laurin<br />

ein höhnischer Triumph? „Nein“, bleibt Reichelt bescheiden. „Das<br />

gibt nach all den Kämpfen und den vielen komplett durchgearbeiteten<br />

Jahren Kraft und setzt einiges in einem frei. Es war ein überwältigendes<br />

Gefühl, und da sind an diesem Abend schon ein paar<br />

Freudentränen geflossen.“<br />

Aktuell sitzt Reichelt in den Startlöchern für einen weiteren<br />

Kinofilm, La Palma. Es geht darum, was Liebe bedeutet, um ein<br />

Pärchen, das kurz vor der Trennung steht und es noch einmal miteinander<br />

versuchen will. Und sein Wunschtraum? Na, wenn Hollywood<br />

anklopfen würde, wäre das schon nicht<br />

schlecht. Vielleicht einen Titelsong für James<br />

Bond schreiben …?<br />

■<br />

„König Laurin. Original Motion Picutre Soundtrack“, David Reichelt<br />

(Rough Trade)<br />

61


F I L M M U S I K<br />

Otto M. Krämer<br />

David Cassan<br />

FOTO: PRIVAT; A. FILLON<br />

EINE ALTE KUNST LEBT:<br />

STUMMFILME MIT<br />

ORGELBEGLEITUNG<br />

David Cassan und Otto M. Krämer sind Stars ihrer Zunft.<br />

VON GUIDO KRAWINKEL<br />

Es ist eine scheinbar idyllische Szene auf dem See: Die Sonne<br />

scheint, sanft kräuseln sich die Wellen auf dem Wasser, zahlreiche<br />

Vögel nutzen das gute Wetter für eine Rast auf dem<br />

Gewässer. Und doch stimmt etwas nicht. Ein Pärchen sitzt<br />

in einem Ruderboot. Während die Frau sich unschuldig umschaut,<br />

wirkt der an den Rudern sitzende Mann bedrückt, innerlich zerrissen.<br />

Die Stimmung ist angespannt, die Atmosphäre zunehmend<br />

bedrohlich. Zu sehen ist davon zunächst jedoch wenig, aber<br />

zu hören: beunruhigend pochende Harmonien einer Orgel, die<br />

immer eindringlicher und düsterer werden, begleiten die Szene.<br />

Noch weiß der Zuschauer nicht, was passieren wird, aber er ahnt<br />

bereits: Es wird etwas Schlimmes sein.<br />

Sonnenaufgang – Lied von zwei Menschen heißt der Stummfilm<br />

von Friedrich Wilhelm Murnau, in dem sich diese Szene<br />

abspielt. Untermalt wird er von Orgelmusik, live improvisiert von<br />

dem französischen Organisten David Cassan, einem Star seiner<br />

Zunft. Er hat drei der weltweit renommiertesten Improvisationswettbewerbe<br />

in St. Albans, Chartres und Haarlem gewonnen und<br />

wurde erst kürzlich als einer der Titularorganisten des Oratoire du<br />

Louvre in Paris ernannt.<br />

Der smarte Mittzwanziger mit den riesigen Brillengläsern<br />

frönt nicht nur in liturgischem Rahmen der traditionsreichen<br />

Kunst der Improvisation. Er begleitet auch gerne Stummfilme,<br />

eine Kunst, die nach dem Aufkommen des Tonfilms fast in Vergessenheit<br />

zu geraten drohte. „Ich liebe die Improvisation, weil sie<br />

es mir ermöglicht, mich direkt auszudrücken, ohne den beschwerlichen<br />

Umweg über die Komposition zu nehmen. Das Publikum<br />

spürt dies meistens sofort“, so Cassan zu einem seiner Stummfilm-<br />

Konzerte mit Murnaus Sonnenaufgang.<br />

„Improvisatoren lieben diesen Film, weil er sehr farbig ist, sehr<br />

kontrastreich. Es gibt bukolische, ruhige Szenen, aber auch Szenen<br />

in der Stadt, die voller Dynamik und Rhythmik sind. Es gibt lustige,<br />

ängstliche und fröhliche Szenen. Es ist ein Film, der es erlaubt, viele<br />

verschiedene Klangfarben der Orgel vorzustellen, die hierfür perfekt<br />

geeignet ist.“ Die scheinbar idyllische Szene am Anfang des Films ist<br />

zutiefst tragisch, da der Mann seine Frau betrügt und sie umbringen<br />

62 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


STILLE IST AN BESTIMMTEN STELLEN VIEL<br />

WIRKUNGSVOLLER ALS JEDE MUSIK<br />

Filmmusik<br />

Murnaus Klassiker Sonnenaufgang ist prädestiniert für die<br />

Live-Improvisation<br />

will. „In diesem Moment Musik<br />

für eine reine Liebesszene zu<br />

machen, würde der Doppelbödigkeit<br />

nicht gerecht. Die Musik<br />

kann dem Zuschauer aber den<br />

eigentlichen Sinn der Szene<br />

nahebringen.“<br />

Die Improvisation zu<br />

Stummfilmen erlebt derzeit<br />

eine erfreuliche Renaissance,<br />

und das, obwohl die seinerzeit<br />

eigens dafür gebauten Instrumente<br />

vielfach abgerissen oder<br />

in Museen überführt wurden.<br />

Einzig das Babylon-Kino in<br />

Berlin verfügt in Europa noch<br />

über ein originales In strument<br />

und leistet sich den Luxus<br />

einer hauptamtlichen Kinoorganistin.<br />

Zumeist aber wird<br />

die Kunst der Stummfilmimprovisation<br />

heutzutage an<br />

Orten gepflegt, die ursprünglich<br />

nicht dafür gedacht waren,<br />

etwa in Kirchen.<br />

Dort verrichtet auch der<br />

Kirchenmusiker Otto M. Krämer<br />

seinen Dienst. Im niederrheinischen Straelen kommentiert<br />

und begleitet er normalerweise die liturgische Dramaturgie mit<br />

seinen Improvisationen, doch genauso leidenschaftlich improvisiert<br />

er live zu Stummfilmen. „Zunächst war ich auf der Suche nach<br />

etwas, das man noch auf der Orgel machen kann. Wie kann ich die<br />

Orgel in der Kirche anders präsentieren, nicht nur in der Liturgie<br />

oder im Konzert?“ Und abseits von Choralvorspielen, Fantasien<br />

und Sinfonien, die der für sein Stegreifspiel weltweit anerkannte<br />

Musiker für gewöhnlich auf seinem Instrument improvisiert.<br />

Doch der kirchliche Rahmen bedingt auch, dass nicht jeder<br />

Film geeignet ist. „Wichtig im Kirchenraum ist, dass die Botschaft<br />

kirchenverträglich ist.“ Der Galiläer etwa sei ein veritabler Passionsfilm,<br />

und auch Ben Hur und Der Glöckner von Notre Dame,<br />

Faust oder Nathan der Weise sind möglich. Eine freizügige Klamotte<br />

eher nicht. Krämer geht es darum, der Orgel neue Betätigungsfelder<br />

und neues Publikum zu erschließen und im Grunde<br />

genommen seien die Begleitung eines Stummfilms und einer<br />

Liturgie auch gar nicht so verschieden. „Mir geht es darum, Orgelmusik<br />

zu dramatisieren. Liturgie ist ja auch nur eine Art heiliges<br />

Theater.“<br />

Wenn Krämer sich einen neuen Film aneignet, heißt es erst<br />

mal: den Film schauen, mehrmals. Dann macht er sich Notizen,<br />

legt Leitmotive fest. Doch welche Musik im Moment der Aufführung<br />

erklingt, das weiß auch er erst im Moment der Aufführung<br />

selbst. David Cassan geht vergleichbar vor, bei der Aufführung<br />

heißt es: blitzschnell reagieren und sich der Situation anpassen.<br />

„Ich schaue mir den Film an und schneide ihn für mich in Szenen.<br />

Dann überlege ich mir,<br />

welche Musik zu welchen Szenen<br />

passt und welche Entwicklungen<br />

es von einer Szene<br />

zur nächsten gibt.“ Es geht um<br />

Spannungsbögen, Entwicklungen,<br />

Verläufe. „Das Ziel ist<br />

es nicht, jedes kleinste Detail<br />

zu kommentieren, sondern<br />

einen großen Plan für den<br />

ganzen Film zu machen, der<br />

dann immer weiter verfeinert<br />

wird, Sekunde für Sekunde.“<br />

Fallstricke gibt es trotz<br />

aller Vorbereitung genug, wie<br />

Cassan schon leidvoll erfahren<br />

hat. „Wenn die Filme im<br />

35-mm-Format gezeigt werden,<br />

ist die Geschwindigkeit<br />

etwas schneller als auf DVD.“<br />

Das Ergebnis: ein sekundengenauer<br />

Plan hinkt dem Film<br />

unweigerlich hinterher. Cassan<br />

markiert deshalb nicht<br />

mehr nur die Länge in Sekunden<br />

und Minuten, sondern<br />

notiert sich szenische Schlüsselmomente<br />

und Motive als Hinweise. Zu viel oder zu detailliert<br />

sollte man einen Film aber nicht begleiten. „Im Gegenteil, oft gilt<br />

die Devise: Weniger ist mehr. Man muss gar nicht so viele komplexe<br />

Sachen machen, der Film braucht das nicht. Manchmal<br />

reicht schon eine Note oder Stille. Auf dem Höhepunkt eines Filmes<br />

mache ich nach einer langen Steigerung manchmal einfach<br />

nichts. Und diese Stille ist an dieser Stelle viel wirkungsvoller als<br />

jede Musik.“<br />

Auf der Orgel ist es komplizierter einen Film zu begleiten als<br />

etwa mit einem Klavier. „Man muss Registrierungen vorbereiten<br />

und dem Film deshalb immer etwas voraus sein. Auf dem Klavier<br />

kann man dagegen sofort reagieren.“ Das eigentliche Improvisieren<br />

fällt Cassan nicht schwer. „Wenn ich Bilder sehe, habe ich<br />

augenblicklich die passende Musik dafür im Kopf. Manchmal passiert<br />

es mir zudem, dass ich plötzlich komponierte Werke in die<br />

Begleitung eines Films einbaue.“ Die stilistischen Mittel sind bei<br />

der Improvisation unbegrenzt. Cassan ist in vielen musikalischen<br />

Welten zu Hause: barock, romantisch, modern oder auch atonal,<br />

alles ist möglich, standardisiert ist nichts.<br />

Manchmal muss man als Stummfilmorganist allerdings<br />

mehr improvisieren, als einem lieb ist, etwa, wenn während des<br />

Films der Bildschirm für den Organisten ausfällt. Erlebt hat Otto<br />

M. Krämer dies schon, die Folge: zwei Stunden lang Blindflug<br />

und ein steifer Nacken, weil er ständig über die Schulter in Richtung<br />

Leinwand schielen musste. Auch das gehört zum Alltag eines<br />

Stummfilm-Improvisators.<br />

■<br />

www.orgelimprovisationen.de | www.davidcassan.com<br />

63


F I L M M U S I K<br />

Filmmusik<br />

FLIMMERFIEBER<br />

Filmkomponisten im Kurzinterview. VON MARIA GOETH<br />

Harold Faltermeyer<br />

Der deutsche Komponist und Produzent Harold Faltermeyer wurde unter anderem durch die Titelmelodien<br />

zu BEVERLY HILLS COP und TOP GUN berühmt. Daneben hat der leidenschaftliche<br />

Küchenmagier gerade ein Kochbuch herausgebracht.<br />

Ihr aktuelles Projekt?<br />

Ein neues „Best Of Harold Faltermeyer“-Album, Composer’s Cut Vol. II.<br />

Was kann eine perfekte Filmmusik leisten?<br />

Die perfekte Filmmusik ist ein Katalysator der Emotionen.<br />

Sie muss auffallen, sich aber auch unterordnen können.<br />

Ihr größter Alptraum?<br />

Vor dem berüchtigten „leeren Blatt“ zu sitzen und keine Melodie weit und breit.<br />

Ihr persönlicher Lieblingsfilm?<br />

The Curious Case Of Benjamin Button.<br />

Harold Faltermeyer verlieh Beverly<br />

Hills Cop und Top Gun ihre Melodien<br />

Welche Musik hören Sie abends zu einem gemütlichen Glas Wein?<br />

West Coast Music (Doobie Brothers, Eagles, Earth Wind & Fire, Seawind etc.)<br />

Harold Faltermeyer:<br />

„Sweet Home Bavaria.<br />

Weisswurscht-Haxn-<br />

Hollywood“ (Umschau)<br />

64 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Konstantin Wecker<br />

Das Multitalent Konstantin Wecker ist nicht nur als – gerne politischer – Liedermacher berühmt, er komponierte auch<br />

die Musik zu zahllosen Filmen, etwa zu Michael Verhoevens DIE WEISSE ROSE, Margarethe von Trottas MIT FÜNFZIG<br />

KÜSSEN MÄNNER ANDERS oder Helmut Dietls SCHTONK!.<br />

Ihr aktuelles Projekt?<br />

Im Februar gibt es im Münchner<br />

Gärtnerplatztheater einen literarisch-musikalischen<br />

Abend<br />

„Der Klang der ungespielten<br />

Töne“ zu meinem gleichnamigen<br />

Roman. An einer Filmmusik<br />

arbeite ich momentan nicht.<br />

Was kann eine perfekte<br />

Filmmusik leisten?<br />

Sie kann und soll ein Gefühl miterzeugen.<br />

Musik ist wie die<br />

Poesie eine nonrationale Sprache.<br />

Sie kann bewirken, dass ein<br />

Thema noch mehr in die Herzen<br />

und Seelen der Menschen hineintransportiert wird. Ein großes<br />

Vorbild für mich ist Nino Rota, der mit Fellini in perfektem<br />

Zusammenklang von Bilderwelt und Musik Meisterwerke wie<br />

La Strada oder Casanova geschaffen hat.<br />

Das ist fast wie in der Oper!<br />

Was ist das Charakteristische an Ihrer Filmmusik?<br />

Ich bin Melodiker! Es gibt viele Regisseure, die eigentlich gar<br />

keine Melodie, sondern dramaturgische und rhythmische Effekte<br />

oder Clusterklänge wollen. Ich hingegen sitze schon beim ersten<br />

Sehen des Filmes im Beisein des Regisseurs am Klavier und spiele<br />

Melodien mit, die in fast allen Fällen dann auch in die weitere<br />

Bearbeitung einfließen.<br />

Highlights?<br />

Helmut Dietl habe ich schon sehr geschätzt. Als er mich fragte,<br />

ob ich die Filmmusik zu Kir Royal machen wolle, bin ich vor<br />

FOTO: THOMAS KARSTEN<br />

Freude hochgehüpft. Oft sagte<br />

er: „Das ist nicht witzig!“ Er<br />

meinte nicht, dass die Musik witzig,<br />

sondern der Zusammenklang<br />

von Bild und Musik spannend<br />

sein soll. Beim Film Schtonk! sieht<br />

man zum Beispiel den Führerbunker<br />

in Schwarz-Weiß-Aufnahmen.<br />

Ich habe mich sehr<br />

bemüht, etwas dafür zu finden.<br />

Am Ende hat er sich für Davon<br />

geht die Welt nicht unter von<br />

Zarah Leander entschieden.<br />

Ihr Alptraum?<br />

Bei ein paar Projekten, die ich<br />

nicht nennen will, habe ich mich schon gefragt: „Warum habe ich<br />

zu diesem komischen Film die Musik gemacht?“ Oft lag das<br />

nicht an den Regisseuren, sondern an dem Wahn, den öffentlichrechtliche<br />

Anstalten haben, unbedingt Quote machen zu müssen.<br />

Das ist der Tod jeder Kunst!<br />

Ihr persönlicher Lieblingsfilm?<br />

Schtonk!, das ist die beste Komödie nach dem Krieg.<br />

Was hören Sie abends zu einem Glas Wein?<br />

Durch meinen Vater, der Opernsänger war, bin ich mit Verdi,<br />

Puccini, Mozart, Schubert und Schumann groß geworden. Im<br />

Herzen bin ich der Klassik treu geblieben. Am meisten verehre<br />

ich Mozart. Wenn du traurig bist, macht er dich froh, wenn du<br />

froh bist, macht er dich noch froher – das ist für mich wie ein<br />

Wunder! Außerdem bin ich bekennender Puccinist: Tosca ist die<br />

beste Oper, die jemals geschrieben wurde.<br />

Enjott Schneider<br />

Enjott Schneider ist Komponist, Musikwissenschaftler und<br />

Hochschullehrer. Er schrieb die Musik zu über 500 Filmen, darunter<br />

HERBSTMILCH, STALINGRAD und SCHLAFES BRUDER<br />

und Serien wie MARIENHOF oder TATORT.<br />

Enjott Schneider ist gefeierter Filmkomponist.<br />

Doch aktuell schlägt er sich die Nächte lieber mit der<br />

Komposition seiner riesigen Chinaoper um die Ohren<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Auf crescendo-Anfrage bekannte Enjott Schneider, dass Filmmusik für<br />

ihn in den Hintergrund getreten sei, weil „vom Niveau her längst<br />

langweilig und unterfordernd, das bisschen Elektronik mit Beat kann<br />

auch jeder Anfänger!“. 2017 schrieb Schneider keine, 2016 nur eine<br />

Filmmusik. Dafür brachte er überall in Europa und auf der ganzen<br />

Welt von Brasilien bis Novosibirsk, von Taiwan bis New York nahezu<br />

im Drei-Wochen-Rhythmus Aufführungen, Kompositionsaufträge<br />

und CD-Produktionen über die Bühne. Zusammen mit seinen<br />

Ämtern als GEMA-Vorsitzender und Präsident des Deutschen<br />

Komponistenverbands sei damit sein 20-Stunden-Tag komplett.<br />

Die Zukunft der klassischen Musik sieht Schneider in Bühnenproduktionen<br />

in China, Japan und Korea und nicht in „deutschen Sparproduktionen<br />

à 5.000 Euro je Film“. Am 1. <strong>Januar</strong> stellte Enjott<br />

Schneider die Instrumentierung zu seiner „Riesenoper“ Marco Polo<br />

mit 900 Partiturseiten für China fertig.<br />

65


F I L M M U S I K<br />

Hans-Jürgen Buchner<br />

(„Haindling“)<br />

Hans-Jürgen Buchner ist Musiker, Komponist, Keramikkünstler und Kopf der niederbayerischen<br />

Gruppe Haindling, die durch ihren Mix aus Pop, Jazz und bayerischer Volksmusik<br />

Kultstatus gewann. Buchner komponierte die Filmmusik zu Spiel- und Dokumentarfilmen<br />

sowie Fernsehserien, darunter BAVARIA von Joseph Vilsmaier oder die POLT-Reihe von<br />

Julian Pölsler.<br />

Was ist Ihr aktuelles Projekt?<br />

Gerade habe ich die Filmmusik zu einer Serie von Franz-Xaver Bogner beendet, die im ZDF<br />

laufen wird. Sie heißt Über Land.<br />

Was ist das besondere an Ihrer Musik?<br />

Ich mache die Musik seit 35 Jahren allein, spiele alle Instrumente selbst ein – nur für Live-<br />

Auftritte habe ich eine Band. Durch meinen ungefähr 150 Quadratmeter großen Instrumentenfundus<br />

habe ich die Möglichkeit, Instrumente einzubauen, die jemand, der nur elektronisch<br />

arbeitet, nicht hat. Ich arbeite ohne Computer, nur mit Harddisc-Recording, so<br />

entsteht der charakteristische Haindling-Sound. Ich habe eine große Abteilung für asiatische<br />

Instrumente – Gamelan-Instrumente, tibetanische Tempeltrompeten, vietnamesische<br />

Trommeln. Ich habe alles, worauf man in der Welt interessante Musik machen kann!<br />

Was leistet eine perfekte Filmmusik?<br />

Ein Film ist zur Hälfte Film, zur Hälfte Musik. Eine gute Filmmusik macht den Film also doppelt<br />

so gut. Er geht dann direkt in den Körper, in die Emotionen.<br />

Ihr Alptraum?<br />

Einmal sollte ich fürs ZDF die Musik zu einem Hexenverbrennungsfilm komponieren. Da<br />

waren so viele Szenen mit Schreien und Gewalt. Das wollte ich in meinem Studio nicht<br />

haben und lehnte ab. Auch Krimis lehne ich ab und schaue sie mir auch nicht im Fernsehen<br />

an. Ich sehe nicht ein, dass ich mir in meiner Freizeit Diebe, Mörder und schlecht gelaunte<br />

Polizisten einverleiben soll!<br />

Aber die Titelmelodie der Rosenheim-Cops ist auch von Ihnen?<br />

Ja, aber die haben sie genommen, ohne mich zu fragen. Und Rosenheim-Cops ist wenigstens<br />

kein Krimi, in dem harte Vergewaltigungen oder schlimme Fleischwunden zu sehen sind.<br />

Auch die Polt-Krimireihe von Julian Pölsler nehme ich aus, das spielt im österreichischen<br />

Weinviertel und strahlt eine ganz spezielle Gemütlichkeit aus. Dafür habe ich Vivaldi als<br />

Blasmusik arrangiert.<br />

Würden Sie gerne für Hollywood schreiben?<br />

Niemals! Da sprechen viel zu viele Menschen mit. Das ist mir zu aufgeblasen, das mag ich<br />

überhaupt nicht. Jetzt kommen die Regisseure zu mir nach Haindling, wir schauen uns<br />

zusammen die DVD mit Timecode an, dann habe ich eine Idee, gehe an den Flügel und<br />

nehme es mit meinem Diktafon auf, habe gleich die Sicherheit, dass es dem Regisseur<br />

gefällt. Ich spiele auch viel am Telefon vor.<br />

Was hören Sie abends zu einem Glas Wein?<br />

Am liebsten verbringe ich meine Freizeit mit Ruhe. Ansonsten mag ich inspirierende Musik,<br />

die mich weiterbringt und nicht auf jedem Radiosender läuft. Oder wohltuende Musik,<br />

gerne Frauenstimmen, etwa die ruhigen Lieder der dänischen Sängerin Agnes Obel.<br />

FOTO: KICK FILM GMBH<br />

Ennio Morricone<br />

Mit seinen 89 Jahren ist Ennio Morricone der<br />

Grandseigneur der Filmmusik. Unter seinen<br />

über 500 Filmmusiken sind Italo-Western wie<br />

SPIEL MIR DAS LIED VOM TOD oder<br />

ZWEI GLORREICHE HALUNKEN legendär<br />

geworden.<br />

Ihr aktuelles Projekt?<br />

Ein experimentelles Kurzfilmprojekt mit Giuseppe<br />

Tornatore und ein noch streng geheimes<br />

Projekt mit Neuer Musik.<br />

Was ist das Charakteristische an Ihrer<br />

Musik?<br />

Als berühmter Filmmusikkomponist einerseits<br />

und Komponist absoluter Musik andererseits<br />

hatte ich früher zwei Gesichter. Heute sind<br />

diese Gesichter näher aneinandergerückt,<br />

haben eine gemeinsame Identität. Ich schreibe<br />

tonale Musik aber mit einer Freiheit, die sie<br />

den alten Modaltonleitern annähert.<br />

60 Jahre im Geschäft, 70 Millionen verkaufte<br />

Platten, zwei Oscars. Wurden Sie<br />

auch einmal abgelehnt?<br />

Ja, einmal. Bei Hinter dem Horizont mit Robin<br />

Williams. Der Regisseur, Vincent Ward, startete<br />

eine Art Vernehmung mit mir, warum ich<br />

so laut, so unglaublich fortissimo komponiert<br />

habe. Das war nicht wahr, sondern sein Weg,<br />

mir zu sagen, dass ihm meine Musik nicht<br />

gefiel. Wenn ein Regisseur das so sagt, braucht<br />

man keine Minute mehr zu diskutieren.<br />

Bereuen Sie etwas?<br />

Manche Anfälle von Hochmut: zu denken,<br />

dass ich einen mittelmäßigen Film mit Musik<br />

„retten“ kann.<br />

Ihr Traum?<br />

Meine Oper über Neapel und die klassische<br />

Mythologie fertigzustellen.<br />

(Das Interview mit E. Morricone wurde aus einem<br />

Gespräch von Sandro Cappelletto für „Classic Voice“ von<br />

Maria Goeth aus dem Italienischen übersetzt)<br />

66 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Filmmusik<br />

WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH …<br />

… die Musik im Film ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

Im Vorspann jedes Films wird meist der Name des<br />

großen Filmkomponisten genannt. Man achte jedoch<br />

einmal darauf, ob andere, vielleicht bereits bekannte<br />

Musikstücke oder Songs im Film die Aufmerksamkeit<br />

erheischen als eben die Musik des genannten Komponisten.<br />

Sollte einen interessieren, was man da hört, heißt es, geduldig<br />

warten bis zum Ende des Abspanns, die Lesebrille holen<br />

und dann nah an den Bildschirm rücken, um aus kleinster<br />

Schrift zu entziffern, wessen Werk das Ohr erfreute. Meist<br />

handelt es sich hierbei um „die Musik im Film“. Komponierte<br />

Filmmusik dagegen besteht aus einem um Handlung<br />

und Personen kreisenden Leitmotiv. Sie ist während<br />

des ganzen Films gegenwärtig, mal unterschwellig, mal<br />

sehr direkt, sie ist Musik, die wie ein drohendes Damoklesschwert<br />

über dem Zuschauer schwebt oder ihn<br />

als wärmender Pelz einhüllt, womöglich zuckersüß<br />

einlullt. Musik im Film ist oft Musik, die schon vor<br />

dem Film ein Dasein hatte.<br />

Filmproduzent Sam Goldwyn, dessen Filme alle mit<br />

einem brüllenden Löwen beginnen, forderte von Filmkomponisten:<br />

„Bitte, schreiben Sie Musik wie Wagner, nur lauter!“<br />

Man könnte daraufhin Wolfgang Wagner zitieren: „Wenn mein<br />

Großvater heute noch leben würde, würde er zweifellos in Hollywood<br />

arbeiten.“<br />

Filmmusik erinnert uns daran, dass wir nur Zuschauer sind.<br />

Ob die Akteure die Musik hören, wissen wir nicht, denn Filmmusik<br />

ist Off-Musik, sie wird nach dem Dreh auf die Tonspur<br />

gebracht. Die Musik im Film kann ihre Quelle im Bild haben, Teil<br />

der Handlung sein, so wie in Apokalypse Now nach dem zynisch<br />

bitteren Aufruf „This is a Romeo Foxtrot. Shall we dance?“ einer<br />

der vielen amerikanischen Soldaten an Bord eines Hubschraubers<br />

ein Tonbandgerät einschaltet und man sehen muss, wie zur Musik<br />

von Wagners Walkürenritt unzählige Helikopterstaffeln in großer<br />

Übermacht Bomben werfend über ein friedliches Vietnam fliegen.<br />

Die eigentliche Filmmusik dazu komponierte Francis Ford<br />

Coppola zusammen mit seinem Vater Carmine Coppola. Doch<br />

wer erinnert sich schon daran, im Gedächtnis verankert blieb der<br />

Walkürenritt, untrennbar verknüpft mit dieser Filmszene.<br />

So spektakulär wie Wagner sind auch andere Klassiker eingesetzt<br />

worden, siehe 2001: Odyssee im Weltraum. Ursprünglich<br />

hatte der Komponist Alex North die Filmmusik zu Stanley<br />

Kubricks Film geschrieben. Alex North war ein Meister<br />

seines Faches, seine Werke kleideten Filme in Hülle<br />

und Fülle, von Endstation Sehnsucht bis Good Morning,<br />

Vietnam, 14-mal wurde er nominiert, doch nie bekam er<br />

einen Oscar. Posthum ehrte man ihn mit einem erstmalig<br />

vergebenen Ehren-Oscar. Was für ein Affront muss es für<br />

North gewesen sein, als er am 2. April 1968 bei der Filmpremiere<br />

statt seiner Musik plötzlich Also sprach Zarathustra<br />

von Richard Strauss hörte. Kubrick hatte in seiner Plattensammlung<br />

gewühlt und kurzfristig entschieden, auf<br />

Norths Musik zu verzichten: „Wie gut unsere besten<br />

Filmkomponisten auch sein mögen, Beethoven, Mozart<br />

oder Brahms sind sie nicht.“<br />

Ob Bachs Goldbergvariationen im Schweigen<br />

der Lämmer auftauchen oder Jesus bleibet meine<br />

Freude Spielbergs Minority Report ziert, das Air sich<br />

mit dem Horror in Sieben vermählt, Beethovens Elise<br />

Rosmaries Baby betört oder seine Fünfte schicksalshaft den Tod<br />

in Venedig oder Saturday Night Fever durchdringt, immer ist es<br />

Musik im Film. Die jeweilige Filmmusik hingegen schrieb jemand<br />

anders.<br />

Quentin Tarentino hat viele Songs aus den 60er- und 70er-<br />

Jahren verwendet und ihnen in seinen Filmen zu einer Renaissance<br />

verholfen. In Kill Bill 1 (2003) zeichnet der Rapper RZA<br />

vom Wu-Tang Clan für den Soundtrack verantwortlich. Fraglos<br />

prominent aber ist in diesem Film Don’t let me be misunderstood<br />

in der erfolgreichen Disco-Version aus dem Jahre 1977 von Santa<br />

Esmeralda.<br />

Im Jahre 2001 kam aus den DreamWork-Produktionsstätten<br />

Shrek mit der Filmmusik von Harry Gregson-Williams und John<br />

Powell auf die Leinwand. Ohrenfällig darin: der Song Hallelujah.<br />

Plötzlich hörte ein völlig neues Publikum Leonard Cohen. Der<br />

Song wird so oft gecovert und ist so häufig in Filmen anzutreffen,<br />

dass Leonard Cohen dem „Guardian“ gestand: „Ich habe gerade<br />

eine Rezension des Filmes The Watchmen gelesen, worin der Song<br />

vorkommt, und der Rezensent schrieb: ‚Können wir bitte ein<br />

Moratorium für Hallelujah in Filmen und Fernsehshows gewähren?‘.<br />

Ich empfinde genauso. Es ist ein guter Song, aber zu viele<br />

Leute singen ihn.“<br />

■<br />

67


F I L M M U S I K<br />

Filmmusik<br />

GROSSES HÖRKINO<br />

Wir haben uns unter den aktuellsten Filmmusikalben umgehört<br />

und eine Auswahl für Sie zusammengestellt.<br />

Die Hamburger Symphoniker unter der Leitung<br />

von Frank Strobel mit dem Film Blancanieves<br />

FOTO: EUROPÄISCHE FILMPHILHARMONIE<br />

Monumental-Titan<br />

Er ist zum Synonym für Filmmusik geworden: Der Hollywood-<br />

Gigant John Williams schenkte ihnen allen die Musik von Star<br />

Wars bis Der weiße Hai, von Schindlers Liste bis Indiana Jones,<br />

von Harry Potter bis E. T. Bei Sony ist nun eine 20-CD-Box<br />

erschienen, die ihn als Dirigenten würdigt – der Ursprung<br />

seiner Karriere und bis heute neben der Komposition seine<br />

zweite Passion. In unserem Rätsel auf S. 42 können Sie die Box<br />

mit ein bisschen Glück gewinnen!<br />

„John Williams, Conductor. 20 Complete Albums“<br />

(Sony)<br />

Cello<br />

Ein Meister-Cellist erkrankt an Amyotropher Lateralsklerose und will für seine<br />

Familie und Freunde ein letztes Konzert geben. Doch wie erklärt er das seiner<br />

Enkelin Olivia? Im Kurzfilm der chinesischstämmigen Regisseurin Angie Su von<br />

2017 spielt Musik handlungsgemäß eine besonders bedeutende Rolle. Komponist<br />

Randy Kerber verarbeitet darin etwa Elgars berühmtes Cellokonzert. Den Solopart<br />

übernimmt der amerikanische Cellist Lynn Harrell.<br />

„Cello. Original Motion Picture Soundtrack“, Randy Kerber (Varèse<br />

Sarabande)<br />

68 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Patriotismus,<br />

Religion,<br />

Revolution<br />

Sein ganzes Leben lang schrieb Schostakowitsch<br />

Filmmusik, auch wenn er den „Brotjob“<br />

zuweilen verfluchte. Die bombastische<br />

Musik zum sowjetischen Historiendrama<br />

The Gadfly von 1955 ist heute – wenn überhaupt<br />

– nur in Auszügen aus der Orchestersuite<br />

bekannt. Von Mark Fitz-Gerald wurde<br />

sie nun rekonstruiert und von der Deutschen<br />

Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz<br />

in voller Länge eingespielt! Weltpremiere!<br />

Dmitry Shostakovich: „The Gadfly“,<br />

Deutsche Staatsphilharmonie<br />

Rheinland-Pfalz,<br />

Mark Fitz-Gerald (Naxos)<br />

FILM MIT LIVEMUSIK<br />

Unter der künstlerischen Leitung von Frank Strobl ist die im Jahr 2000 gegründete<br />

Europäische FilmPhilharmonie eine Institution in Sachen Filmmusik im Konzertsaal.<br />

Hier werden Originalmusiken, Neuvertonungen und restaurierte Filmkopien recherchiert:<br />

www.filmphilharmonie.de<br />

Liebhaber des Stummfilms mit Livemusik finden auf der Seite Stummfilm Magazin<br />

Termintipps und Informationen: www.stummfilm-magazin.de<br />

Einige Kinos und Theaterhäuser bieten regelmäßig Reihen mit Film und Live musik.<br />

Im Berliner Babylon-Kino ist die 1929 von Philips gebaute Multiplex-Orgel zu hören:<br />

www.babylonberlin.de<br />

Die Münchner Kammerspiele spielen in Zusammenarbeit mit dem Orchester Jakobsplatz<br />

München eine neue Reihe „Flimmerkammer“ mit Filmklassikern und Orchester:<br />

www.o-j-m.de<br />

Groooove!<br />

Happy 85th birthday, Lalo Schifrin! Der legendäre<br />

Filmkomponist verlieh Blockbustern wie Mission:<br />

Impossible, Dirty Harry und Der Mann mit der Todeskralle<br />

ihre Musik. Zum Geburtstag hat sich der französische<br />

Komponist und Pianist Jean-Michael Bernard<br />

mit einer Pariser Band Schifrins Highlights angenommen.<br />

In drei Stücken sitzt Lalo selbst am Klavier.<br />

Jazzig, lässig, groovig!<br />

„Jean-Michel Bernard plays Lalo Schifrin.<br />

Bullitt, Dirty Harry u. a.“ (Varèse Sarabande)<br />

Churchills Hölle<br />

Dünkirchen, 1940. Bevor die deutsche Wehrmacht einfällt, werden 330.000 Soldaten evakuiert. Eine der<br />

bangsten und düstersten Stunden für Winston Churchill. Dario Marianelli verlieh der Getriebenheit und<br />

Ruhelosigkeit des Staatsmanns im Film Darkest Hour packenden musikalischen Ausdruck – mit Víkingur Ólafsson<br />

am Klavier. Gerade ist der Film in die deutschen Kinos gekommen.<br />

„Darkest Hour. Original Motion Picture Soundtrack“, Dario Marianelli, Víkingur Ólafsson<br />

(Deutsche Grammophon)<br />

69


F I L M M U S I K<br />

Der Axel-Brüggemann-Kommentar<br />

DER NEUE MUT<br />

DER MUSIKFILMWELT<br />

Auf der „Avant Première“ in Berlin<br />

treffen sich internationale Musikfilmmacher –<br />

und haben die unglaublichen Chancen<br />

ihres Mediums erkannt.<br />

Das Scandic Hotel am Potsdamer Platz verwandelt sich jedes<br />

Jahr für einige Tage in ein gigantisches Multiplexkino. In dunklen<br />

Räumen flimmern noch nicht gesendete Dokumentationen,<br />

Konzert- und Opernmitschnitte über die Leinwände. Regisseure,<br />

Autoren und Produzenten nehmen Stellung zu ihrer Arbeit. An<br />

den Stehtischen im Foyer wird debattiert,<br />

gestritten und verhandelt. Auf der Avant<br />

Première treffen sich Filmschaffende aus<br />

allen Ländern, um ihre neuen Produktionen<br />

aus dem Bereich der Musik vorzustellen.<br />

Die Gästeliste ist international.<br />

Neben den großen deutschen Sendern<br />

kommen die BBC aus England, RAI aus<br />

Italien, TV-Stationen aus Japan, Tschechien,<br />

Finnland, Schweden, Frankreich,<br />

Kroatien, Litauen, Russland, der Schweiz<br />

oder Österreich. Und natürlich sind wichtige Produktionsfirmen<br />

wie die Unitel aus München vor Ort, signed media aus Hamburg,<br />

accentus music aus Leipzig, arthaus oder Naxos. Und es kommen<br />

zahlreiche Orchester und Thea ter wie die Berliner Philharmoniker,<br />

das Göteborg Symphonieorchester, die Tschechische Philharmonie<br />

oder die Opéra National aus Paris, um ihre Programme<br />

vorzustellen. Letzteres sagt vieles über den Zustand der Filmbranche<br />

in der klassischen Musik: Sie denkt vernetzt, in einem großen<br />

Miteinander – und immer mehr Häuser werden selbst zu multimedialen<br />

Playern.<br />

Die Zeiten, in denen ein oder zwei Fernsehsender darüber<br />

entschieden, was die Menschen sehen, sind vorbei. Die technischen<br />

Voraussetzungen, um eine Aufführung aufzuzeichnen, sind<br />

überschaubar, und an Ausspielplattformen fehlt es nicht: Im Netz<br />

ist zwar noch immer kaum Geld zu verdienen, aber darum geht es<br />

vielen Häusern auch weniger als um allgemeine Aufmerksamkeit<br />

in Zeiten, in denen das Zeitungs-Feuilleton und andere Medien<br />

DAS BEWEGTBILD<br />

IST LÄNGST<br />

ZUM TEIL EINES<br />

NEUEN JOURNALISMUS<br />

GEDIEHEN<br />

kontinuierlich weniger über Klassik berichten. Die Met in New<br />

York macht seit Jahren vor, dass ein Kino durchaus ein Raum sein<br />

kann, in dem das Publikum bekommt, was es an vielen Stadttheatern<br />

oft vermisst, einen Ort mit musikalischer Weltklasse<br />

mit einem menschlichen Rahmenprogramm, in dem die Künstler<br />

hautnah zu erleben sind. Das Kino<br />

ist zur legitimen Erweiterungszone des<br />

Opernhauses geworden, durch das die<br />

Weltklasse in jedem Kaff zu Hause sein<br />

kann.<br />

Die wachsende Größe der Avant<br />

Première zeigt auch, dass die audiovisuellen<br />

Medien dabei sind, die Deutungshoheit<br />

über die Repräsentation der<br />

klassischen Musik in breiten Teilen der<br />

Öffentlichkeit zu übernehmen. Dort, wo<br />

weniger ausgestrahlt wird, schließen neue Anbieter die Lücken<br />

durch On-demand-Angebote, und selbst private Stationen wie<br />

Servus-TV oder Sky setzen zunehmend auf klassische Musik, da<br />

sie begreifen, dass es sich um eine attraktive Nische handelt. Mehr<br />

noch, jetzt, da ich diese Kolumne für crescendo schreibe, denke<br />

ich an jene Zeit zurück, als es noch wirkliche Pionierarbeit war,<br />

bewegte Bilder und ein gedrucktes Magazin miteinander zu verbinden.<br />

Angefangen hat alles beim ECHO KLASSIK, als der<br />

He rausgeber dieser Zeitschrift beschloss, die Veranstaltung backstage<br />

mit einer Kamera zu begleiten. Das ist jetzt über zehn Jahre<br />

her. Wir hatten keine Erfahrung, spürten aber schnell, dass das<br />

für uns neue Medium in der Lage war, vollkommen neue Kommunikationswege<br />

zu erschließen. Schaut man sich die Beiträge von<br />

damals an, gerät man heute ins Schmunzeln: lange Haare, wenig<br />

Licht, wackelige Kameras, schlechte Auflösung, ja im ersten Vorspann<br />

ist noch Rolando Villazón als Beleuchter mit einer Hotel-<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

70 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


Filmmusik<br />

lampe in der Hand zu sehen. Ebenso wie bei den ersten Blogs von<br />

crescendo, die zu Hause am Schreibtisch zusammengeschnitten<br />

wurden. Kleiner Insider: Ein für uns gesungenes „crescendo“ von<br />

Rolando können Sie bis heute im Abspann der crescendo-Videos<br />

hören (www.youtube.de/crescendomagazin). Jetzt, zehn Jahre<br />

später, ist längst klar: Print und Bewegtbild schließen einander<br />

nicht aus, sondern ergänzen und befruchten sich gegenseitig. Die<br />

Filme vom ECHO KLASSIK werden inzwischen hochprofessionell<br />

und in HD-Fernsehstandard produziert – jedes Mal treffen<br />

wir über 30 Künstler zu Kurzgesprächen.<br />

Allein auf der Internetseite<br />

crescendo.de sind inzwischen weit<br />

über 50 Folgen von „crescendo trifft …“<br />

zusammengekommen, zum Teil mit<br />

schwindelerregenden Klickzahlen und,<br />

verteilt über verschiedene Seiten, mit<br />

mehreren 100.000 Zuschauern (zum<br />

Beispiel, wenn Joyce DiDonato über<br />

Donald Trump redet). In der Rubrik<br />

„Mein erstes Mal“ sprechen Künstler<br />

über ihre ersten Begegnungen mit der<br />

Musik, Attila Csampai stellt regelmäßig<br />

seine Lieblingsplatten im Video<br />

vor und die leitende crescendo-Redakteurin Maria Goeth und der<br />

Blockflötist Stefan Temmingh treffen sich zum Kochen mit Klassik-Stars.<br />

Klar, all diese Formate ersetzen kein Fernsehen, aber sie zeigen,<br />

wie das Bewegtbild längst zum Teil eines neuen Journalismus<br />

geworden ist. Viele Leser kommen über Facebook oder andere<br />

soziale Medien zum ersten Mal in Kontakt mit Musik (manche<br />

wissen gar nicht, dass es crescendo auch in gedruckter Form gibt).<br />

Wenn ich nun diese zehn Jahre zurückblicke wird eines klar:<br />

Print, Video, Internet, Film, Streaming. Aus dem Printmagazin<br />

ist ein Klassikmedium gewachsen, das über die verschiedenen<br />

Kanäle viel mehr Menschen erreicht als früher.<br />

Vor zwei Jahren saß der Chef der Unitel, Jan Mojto, auf<br />

einem Podium der Avant Première. Früher war es sein Geschäftsmodell,<br />

Filme und Konzerte für große öffentliche Sender aufzunehmen<br />

und die Rechte daran zu verkaufen. Heute denkt er ganz<br />

anders: „Wir nehmen die wichtigen Dinge auf“, sagte Mojto, „was<br />

sich verändert hat, sind die Möglichkeiten, sie auszuspielen: Das<br />

kann der Fernsehsender sein, dass können neue Klassik-Kanäle<br />

im Netz sein, dass können Homepages von Zeitungen sein oder<br />

natürlich Anbieter wie Netflix, die das neue Fernsehen ins Netz<br />

verschoben haben.“ Klar wird bei derartigen Aussagen, dass wir<br />

die Berichterstattung über Musik nicht mehr eindimensional denken<br />

können, dass das Sehen und Hören zum Lesen dazugehört,<br />

dass es unterschiedliche Situationen für unterschiedliche Formen<br />

der Erzählweise gibt – und dass alle Medien auf diese Erkenntnis<br />

reagieren müssen. Die Zeitung mag dabei der Grundpfeiler<br />

sein, der die Geschichte des eigenen Unternehmens transportiert,<br />

die mit ihrer Premium-Ausgabe zum gemütlichen und intensiven<br />

Lesen verführt – eine Visitenkarte. Das Bewegtbild ist dabei eine<br />

Erweiterung, eine Chance, Menschen an Orten zu erreichen, die<br />

für klassische Zeitungen und Zeitschriften längst unerreichbar<br />

sind.<br />

DAS KINO IST ZUR LEGITIMEN<br />

ERWEITERUNGSZONE DES OPERN-<br />

HAUSES GEWORDEN, DURCH DAS<br />

DIE WELTKLASSE IN JEDEM KAFF ZU<br />

HAUSE SEIN KANN<br />

Und das schafft man besonders, wenn das aufwendige Filmen<br />

gleich mehrere Ziele verfolgt. Das Ideal einer aufwendigen<br />

Begleitung eines Klassik-Events erstreckt sich nicht mehr darin,<br />

es einfach nur abzufilmen, zu senden und zu vergessen, sondern<br />

möglichst viel Material zu sammeln, mit dem weitgehend<br />

zeitlose Dokumente geschaffen werden: Backstage-Interviews,<br />

Probe arbeit, Meisterklassen, Interpretationsanalysen oder musikalische<br />

Erläuterungen werden parallel zur Aufführung gedreht<br />

und stehen danach für vielseitige Neuverwertungen zur Verfügung.<br />

Primäres Ziel ist es, den aktuellen<br />

Erfolg der Live-Veranstaltungen<br />

allgemein zugänglich zu machen und<br />

somit auch eigene „Stars“ aufzubauen,<br />

etwa die Sopranistin Anja Harteros,<br />

die kaum auf CD, wohl aber auf zahlreichen<br />

DVDs begeistert. In der Filmbranche<br />

scheint es inzwischen wieder<br />

um Dinge zu gehen, die lange vergessen<br />

wurden: Kontinuität, das Denken<br />

in großen Zeiträumen und die wahre<br />

Pflege von Künstlern, ihren Ressourcen,<br />

ihren Möglichkeiten und ihren<br />

Karrieren.<br />

Außerdem haben die audiovisuellen Medien begriffen, dass<br />

sie sich in einer vernetzten Welt miteinander vernetzen müssen.<br />

Auf Veranstaltungen wie der Avant Première kommen Bühnen<br />

und Orchester mit den Produzenten, Fernsehsendern, mit Kinos,<br />

Regisseuren und Autoren ins Gespräch, um gemeinsam Zukunftspläne<br />

auszuhecken. Derartige Ansätze werden auf der diesjährigen<br />

Avant Première viele zu sehen sein. Filme, die international<br />

funktionieren, die sich auf das Archiv des Aufgenommenen stützen<br />

und gleichsam in der Gegenwart stehen, Filme, in denen es<br />

um das Miteinander aller Institutionen geht, die in der Klassik<br />

eine Rolle spielen, um das Publikum so nahe wie möglich an die<br />

Kunst zu bringen.<br />

An den Stehtischen im Foyer des Scandic Hotels wird es auch<br />

dieses Mal darum gehen, wie die Kraft des eigentlichen Opernoder<br />

Konzertabends im Film abzubilden ist, egal für welches<br />

Medium, ob für das Fernsehen, die DVD oder den Stream. Klar<br />

ist, dass alles dort beginnen muss, wo auch für das Publikum die<br />

Magie einsetzt: beim Veranstalter, im Konzert- oder im Opernhaus.<br />

Natürlich wird das Bewegtbild niemals die Möglichkeit<br />

haben, ein Live-Event in New York, an der Bayerischen Staatsoper,<br />

bei den Bayreuther Festspielen oder in der Berliner Philharmonie<br />

abzubilden, wie es wirklich ist. Auch hier zählt schließlich noch<br />

das Wort Roland Barthes’, dass jeder Reproduktion am Ende die<br />

Aura des Originals fehlen wird. Das Fernsehen hat aber die Möglichkeit,<br />

eine andere, eigene Aura zu schaffen, die jener im Theater<br />

nicht im Wege steht, im Gegenteil, sogar neugierig auf das Theater<br />

macht: die Aura dessen, was der Konzert- oder Opernbesucher<br />

nicht zu sehen bekommt, das Detail, den Zoom, den Blick hinter<br />

die Kulissen, das exklusive Gespräch mit den Künstlern. All das<br />

kann das Fernsehen, und es ist dabei, diese Qualität zu perfektionieren,<br />

seine Kräfte zu bündeln, um mit dem Abenteuer der klassischen<br />

Musik so viele Menschen wie möglich zu begeistern und<br />

zu berühren.<br />

■<br />

71


John Axelrod als Darth Vader<br />

bei einem Konzert mit der<br />

Schauspielerin und Sängerin<br />

Leona Phillipo<br />

FOTO: PRIVAT<br />

John Axelrods Weinkolumne<br />

DER WEIN DER JEDI-RITTER<br />

Als Dirigent von Filmmusik schlüpft John Axelrod auch mal ins Darth-Vader-Kostüm.<br />

Uns verrät er, welcher Wein jeden Hollywoodschurken umhauen würde.<br />

Die meisten Dirigenten haben schon mal<br />

Filmmusik aufgeführt. Sie ist inzwischen<br />

Teil des Repertoires – beliebt beim Publikum<br />

und mit verbessertem Orchestermaterial.<br />

Filmmusik wird inzwischen zusammen<br />

mit Sinfonien und Oratorien auf den Spielplan<br />

gesetzt, Filmmusikorchester spielen<br />

ausverkaufte Tourneen. Ich selbst dirigierte<br />

jüngst ein Star-Wars-Konzert im völlig ausverkauften<br />

Amsterdamer Concertgebouw!<br />

Nie hätte ich mir träumen lassen, mal als<br />

Darth Vader verkleidet diese berühmten<br />

Stufen hinabzusteigen. Es war großartig!<br />

Als Musikalischer Leiter der Galakonzerte<br />

„Hollywood in Vienna“ tauchte ich schon<br />

von 2009 bis 2011 in die Welt der Filmmusik<br />

ein. Die feine Kunst von Steiner, Korngold<br />

und Rózsa würde ich als „Dritte<br />

Wiener Schule“ bezeichnen. Österreichisch-ungarische<br />

sowie deutsche Wurzeln<br />

und Bezüge zu Strauss, Zemlinsky<br />

und Wagner erschafften den typischen<br />

Hollywood-Sound. Kein Wunder, dass<br />

der großartige John Williams seine<br />

Quellen in dieser Dritten Wiener<br />

Schule fand. Korngolds Kings Row<br />

und das Hauptmotiv von Star Wars<br />

gleichen sich wie Zwillinge.<br />

Gerade setzt Star Wars seine<br />

40-jährige Erfolgsgeschichte mit<br />

einem weiteren Film, The Last Jedi,<br />

fort, und die Musik daraus wird<br />

von Laien und Profis auf der ganzen<br />

Welt aufgeführt und verbreitet.<br />

Aber was trinkt man, während<br />

man sich den Film ansieht oder<br />

den Soundtrack über große Boxen<br />

anhört? Schade, dass man die vielen in Star<br />

Wars erwähnten Weine nicht probieren<br />

kann. Han Solo und sein Gefährte Chewbacca<br />

sind die Säufer unter den Charakteren.<br />

Han sagt: „Danke, Chewie. Danke, dass<br />

du nicht alles aufgesoffen hast.“ Und Corellia<br />

ist nicht nur der Heimatplanet von Han<br />

Solo und Wedge Antilles, sondern auch des<br />

corellianischen Weines. Daneben verdient<br />

in dieser fernen Galaxie auch noch der<br />

Wein Alderaanian vom Leuchtstern Alderaan<br />

– von dem die junge Prinzessin Leia<br />

stammt – Erwähnung. Er gehört offenbar<br />

zu den teuersten Tropfen der Galaxie und<br />

ist der Favorit der dunklen Mächte Graf<br />

Dooku und Senator Palpatine.<br />

Auch auf der Erde investierten Filmregisseure<br />

und Komponisten in ihre Weinleidenschaften.<br />

Kenner sind mit den<br />

Weinen von Francis Ford Coppola (Der<br />

Pate) vertraut. Coppolas Weingüter<br />

sind preisgekrönt und setzen einen<br />

hohen Standard für kalifornische Qualitätsweine.<br />

Auch Alan Silvestri, Filmmusikkomponist<br />

von Zurück in die<br />

Zukunft, hat in kalifornische Weine<br />

investiert.<br />

Trotz der großartigen Musik<br />

von Star Wars, Der Pate und Zurück<br />

in die Zukunft würde ich beim besten<br />

Soundtrack für meinen Lehrer<br />

Leonard Bernstein stimmen, auf<br />

dessen 100. Geburtstag wir zusteuern.<br />

Die Faust im Nacken gehört zu<br />

den ganz großen Filmklassikern.<br />

Mit Marlon Brando in der Hauptrolle,<br />

handelt er von einem gescheiterten<br />

Boxer, der unter Hafenarbeitern ins<br />

organisierte Verbrechen gerät. Der Film<br />

gewann 1954 acht Academy Awards und ist<br />

der einzige, der original komponierte Filmmusik<br />

von Bernstein enthält. Die Musik war<br />

entscheidend für den künstlerischen und<br />

kommerziellen Erfolg des Films, erfasste<br />

HAN SOLO UND SEIN<br />

GEFÄHRTE CHEWBACCA<br />

SIND DIE SÄUFER<br />

UNTER DEN<br />

STAR-WARS-<br />

CHARAKTEREN<br />

Lokalkolorit, Leidenschaft der jungen Liebenden,<br />

Gefahren und den ultimativen Sieg<br />

eines Mannes über das korrupte System. Sie<br />

ist der Wahnsinn!<br />

Der Wein, der zu dieser Musik passt?<br />

„The Boxer“ des preisgekrönten australischen<br />

Produzenten Mollydooker. Unter<br />

Sammlern für seinen „Velvet Glove“ und<br />

„Carnival of Love“ beliebt, beglückt er mit<br />

„The Boxer“ in jeder Hinsicht. Es ist ein kräftiger,<br />

charakterstarker Shiraz mit Aromen<br />

von Pflaumen, Brombeermarmelade und<br />

Kirsche im Kern und schokoladenumhüllten<br />

Kaffeebohnen, Lakritz und Vanille im<br />

Abgang. Er hat die Unerbittlichkeit eines<br />

Boxers und könnte es durchaus mit dem<br />

Schmuggler Han Solo aufnehmen. Ob Mollydooker<br />

nach Corellia ausliefert? ■<br />

John Axelrod ist Generalmusikdirektor und Geschäftsführer des Real Orquesta Sinfónica de Sevilla und erster Gastdirigent des Orchestra Sinfonica di Milano „Giuseppe Verdi“. Nebenbei schreibt er<br />

Bücher und sorgt sich um das Wohl des crescendo-Lesergaumens. Außerdem schreibt er einen englischsprachigen Blog zum Thema Wein und Musik: www.IamBacchus.com.<br />

Die Weine von Mollydooker finden Sie im deutschen Vertrieb unter www.captaincork.com/rotwein/the-boxer/ oder direkt unter: www.mollydookerwines.com<br />

72 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


LEBENSART<br />

In Mailands Design-Elysium: Augenschmaus im Hotel Gallia und bei Fornasetti (Seite 74)<br />

crescendo – Hier kochen die Stars: Saltimbocca mit Geiger Matthias Well (Seite 76)<br />

Sevilla: Mit Dirigent John Axelrod durch das Herz Andalusiens (Seite 78)<br />

Die Objekte des italienischen<br />

Malers, Bildhauers und Kunsthandwerkers<br />

Piero Fornasetti<br />

entführen in surreale Welten<br />

FOTO: FORNASETTI<br />

73


L E B E N S A R T<br />

FOTOS: FORNASETTI<br />

Surreal anmutende Wohnobjekte im Mailänder Laden des 1988 verstorbenen Piero Fornasetti<br />

In Mailands<br />

Design-Elysium<br />

Ob die Besessenheit von der Opern-Diva Lina Cavalieri oder den Stil-Ikonen der 70er-Jahre:<br />

Mailands Design-Elite schöpft Fabelhaftes aus ihren Inspirationsquellen.<br />

VON CORINA KOLBE<br />

Wie kommt das Tiramisu bloß<br />

in die Kugel hinein? Im futuristisch<br />

gestylten Rooftop-<br />

Restaurant des Excelsior<br />

Hotel Gallia in Mailand wird<br />

das typisch italienische Dessert in einer Art<br />

Weihnachtskugel aus Zucker serviert. Der neugierige<br />

Gast wagt es kaum, das dekorative Objekt<br />

aus der Küche von Vincenzo und Antonio Lebano<br />

mit dem Löffel aufzubrechen – doch das Probieren<br />

lohnt sich!<br />

In Mailand ist einfallsreiches Design nicht nur im Museum,<br />

sondern in der ganzen Stadt anzutreffen. Das von der Familie Gallia<br />

gegründete Luxushotel, das 1932 fast zeitgleich mit dem nebenan<br />

gelegenen Mailänder Hauptbahnhof eröffnete, hat Künstler zu<br />

Grenzgängen quer durch die Epochen verführt. Vor einigen Jahren<br />

Piero Fornasetti hatte eine<br />

Obsession für italienische Oper<br />

hat der Architekt Marco Piva das Haus mit seiner<br />

von Jugendstil und Art déco geprägten Fassade<br />

grundlegend modernisiert. Der historische<br />

Palazzo wurde durch einen neuen Flügel erweitert.<br />

Marmorflächen und Glaselemente im minimalistischen<br />

Design des 21. Jahrhunderts kontrastieren<br />

jetzt mit der verspielten Ästhetik früherer<br />

Zeiten. Im eleganten Treppenhaus mit floralen<br />

Elementen aus Gusseisen zieht eine 25 Meter<br />

lange, kegelförmige Lichtskulptur alle Blicke auf<br />

sich. <strong>18</strong>0 Leuchtzylinder aus weißem Murano-<br />

Glas der Firma De Majo, die an unterschiedlich langen Kabeln hängen,<br />

scheinen sich wie ein Wasserfall durch acht Stockwerke zu<br />

ergießen.<br />

Durch die Korridore zieht ein dezenter Blütenduft, der eigens<br />

für das Hotel mit insgesamt 235 Zimmern und einem großzügigen<br />

74 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


FOTO: MATTEO BARRO<br />

Die 1.000 Quadratmeter große Katara Royal Suite im Hotel Gallia ist randvoll mit Design-Klassikern<br />

Spa-Bereich komponiert wurde. Wer<br />

besonders viel Platz braucht, kann im<br />

obersten Stock die 1.000 Quadratmeter<br />

große Katara Royal Suite inklusive zwei<br />

Terrassen, Solarium und Jacuzzi mieten.<br />

Mehrere kleinere Suiten sind prominenten<br />

Mailänder Architekten und Designern<br />

gewidmet. Gut möglich, dass die<br />

von Flos hergestellte Pendelleuchte „Taraxacum“ der Brüder Achille<br />

und Pier Giacomo Castiglioni, die wie ein überdimensionaler Ball<br />

aus Seifenblasen über einem Tisch schwebt, am Ende sogar die<br />

Küchenchefs zu ihrer Tiramisu-Kreation inspiriert hat.<br />

In einem anderen Zimmer erkennt man die Designklassiker-<br />

Lampen von Vico Magistretti aus den 1970er-Jahren, die bis heute<br />

von Oluce produziert werden. Hotelgäste, die von langen Stadtbesichtigungen<br />

zurückkommen, freuen sich auch über den Stuhl<br />

„Dormitio“, den Gio Ponti extra für müde Wanderer in einem Benediktinerkloster<br />

entwarf. In den 1930er-Jahren begann der legendäre<br />

Architekt, den jungen Maler, Buchdrucker und Designer Piero Fornasetti<br />

zu fördern. Dessen surreal anmutende Wohnobjekte kann<br />

man heute in einem Geschäft am Corso Venezia, nicht weit von den<br />

exklusiven Armani-, Versace- und Prada-Boutiquen im „Quadrilatero<br />

della moda“, besichtigen. In dem Haus wohnte einst Filippo<br />

Tommaso Marinetti, der Gründer der Futuristen-Bewegung.<br />

Ein Rundgang im Fornasetti-Laden, der sich über drei Etagen<br />

erstreckt, wird zu einer Entdeckungsreise durch eine Welt voller<br />

schräger Fantasien. In Räumen mit verschiedenfarbigen Wänden ist<br />

ein Sammelsurium von Schränkchen, Tischen, Paravents, Vasen,<br />

Tassen, Aschenbechern oder Duftkerzen ausgestellt. Diese Objekte<br />

sind mit Schmetterlingen, Händen, Harlekinen, Spielkarten, Sonnen<br />

oder anderen obsessiv wiederkehrenden Motiven dekoriert, die Fornasettis<br />

schier unerschöpfliche Vorstellungskraft beflügelt haben.<br />

„EIN RUNDGANG IM<br />

FORNASETTI-LADEN IST EINE<br />

REISE DURCH EINE WELT<br />

VOLLER SCHRÄGER FANTASIEN“<br />

Besonders beliebt ist die Serie<br />

„Tema e variazioni“ mit dem Konterfei<br />

der Operndiva Lina Cavalieri. Insgesamt<br />

mehr als 500 Mal hat Fornasetti<br />

das Bild der Sopranistin variiert, die er<br />

nie persönlich kennengelernt hatte.<br />

Cavalieri, die Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

als „schönste Frau der Welt“<br />

gefeiert wurde, ist allein auf mehr als 300 verschiedenen Wandtellern<br />

dargestellt. Gefesselt, verschleiert, zerstückelt, im Maul eines<br />

Krokodils oder mit frech herausgestreckter Zunge wurde sie zu<br />

einer Gefangenen der Fantasie des Designers, der von ihrem<br />

Anblick regelrecht besessen war. Mailands berühmtes Opernhaus,<br />

das Teatro alla Scala, hat Fornasetti auf einem Lacktablett dargestellt.<br />

Plakate von Uraufführungen bekannter Opern wie Verdis<br />

Otello <strong>18</strong>87 oder von Arturo Toscaninis Konzert zur Wiedereröffnung<br />

der Scala 1946 dienten ihm als Vorlage für eine Serie von<br />

Aschenbechern.<br />

Als Bühnen- und Kostümbildner arbeitete er 1954 bei einer<br />

Inszenierung von Gian Carlo Menottis komischer Oper Amelia va<br />

al ballo mit dem Theater zusammen.<br />

Nach Piero Fornasettis Tod 1988 setzt nun Sohn Barnaba die<br />

Arbeit seines Vaters fort. Am Teatro dell ’Arte in Mailand und am<br />

Teatro della Pergola in Florenz brachte er im Winter 2016/17<br />

Mozarts Oper Don Giovanni in der Prager Urfassung auf die Bühne<br />

und entwarf dazu das Bühnenbild. Mit dem notorischen Frauenhelden<br />

befasst er sich auch in seiner neuesten Design-Kollektion.<br />

Hände auf Tabletts und Tischchen symbolisieren die Leichtlebigkeit<br />

des Verführers. Und die Operndiva, durch deren Gesicht auf einem<br />

Wandteller ein Riss geht, verkörpert die verschiedenen Identitäten<br />

seiner weiblichen Opfer. <br />

■<br />

www.excelsiorhotelgallia.com/de | Fornasetti: www.fornasetti.com<br />

75


L E B E N S A R T<br />

Saltimbocca<br />

mit Reis<br />

<strong>CRESCENDO</strong> –<br />

HIER KOCHEN DIE STARS<br />

„ESSEN<br />

HAT BEI UNS IMMER<br />

EINE GROSSE ROLLE<br />

GESPIELT,<br />

WEIL MEINE MUTTER<br />

AUS FRANKREICH<br />

KOMMT“<br />

MATTHIAS WELL<br />

FOTOS: MARIA GOETH<br />

76 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


SALTIMBOCCA MIT REIS<br />

ZUTATEN FÜR 2 PERSONEN<br />

Reis für 2 Personen<br />

2 mittelgroße Zwiebeln<br />

Olivenöl<br />

4 dünne Kalbfleischscheiben<br />

Salbeiblätter<br />

roher Parmaschinken<br />

Weißwein<br />

Salz, Pfeffer<br />

1 Suppenwürfel<br />

½ Becher Schlagsahne<br />

Den Reis nach Packungsangabe kochen.<br />

Die Zwiebeln klein schneiden und in Olivenöl andünsten.<br />

Die Kalbfleischscheiben vorne und hinten mit Salbeiblättern bedecken und mit dem Schinken belegen.<br />

Fleisch auf beiden Seiten für etwa 2 Minuten scharf anbraten und mit Weißwein aufgießen.<br />

Mit Salz und Pfeffer würzen, Suppenwürfel und die Sahne zugeben.<br />

Reis und Fleisch zusammen servieren und mit etwas Salbei und Zwiebelstücken dekorieren.<br />

Das Video zum Rezept finden Sie unter: www.youtube.de/crescendomagazin<br />

•<br />

MATTHIAS WELL<br />

GEIGER<br />

Der junge bayerische Geiger Matthias Well studierte in München bei Sonia<br />

Korkeala und Mikyung Lee. 2017 gewann er den Fanny Mendelssohn Förderpreis<br />

Hamburg, was ihm die Realisierung seines Debüt-Albums mit Trauermusiken aus<br />

aller Welt ermöglichte. Für uns kochte er in der Küche von crescendo-Chefkoch<br />

und Blockflötist Stefan Temmingh (links im Bild).<br />

Matthias Wells aktuelles Album: Bach, Piazzolla, Seress u. a.:<br />

„Funeralissimo“, Matthias Well, Maria Well, Zdravko Živkovič (Genuin)<br />

77


L E B E N S A R T<br />

1 2 3<br />

4<br />

5<br />

6<br />

7 9<br />

8<br />

FOTOS: CONSORCIO TURISMO DE SEVILLA (7); DIEGO DELSO; KATHERINA KNEES<br />

1) Torre del Oro 2) Der Eingang der Stierkampfarena Real Maestranza 3) Alcázar 4) Plaza España 5) Flamenco<br />

6) Sevillanische Keramikkunst 7) Nachtleben in Sevilla 8) Süße spanische Köstlichkeiten 9) Traditionelle Tapas<br />

78 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


DIE GANZE STADT DUFTET NACH<br />

ZUKUNFT UND PERSPEKTIVE<br />

Sevilla<br />

Maurische Paläste, Flamenco, Stierkampf und Paradies der Meeresfrüchte –<br />

mit Dirigent und crescendo-Kolumnist John Axelrod durch Andalusiens Hauptstadt.<br />

VON KATHERINA KNEES<br />

FOTO: PRIVAT<br />

Bienvenida!“ tönt es durch die Hotellobby.<br />

Auftritt John Axelrod. Sonnenbrille,<br />

Künstlerschal und ein wilder<br />

Lockenkopf unter einem weißen Hut.<br />

Der amerikanische Dirigent ist ein<br />

ex trovertierter Vollblutbühnenmensch und kann es<br />

gar nicht erwarten, „sein“ Sevilla zu zeigen. Seit<br />

2014 ist John Axelrod in seiner Funktion als musikalischer<br />

und künstlerischer Leiter des Real<br />

Orquesta Sinfónica de Sevilla der erste und einzige Generalmusikdirektor<br />

Spaniens, und das Hotel Vincci la Rabida in der Calle Castelar<br />

ist so etwas wie sein zweites Zuhause, wenn er in Sevilla ist.<br />

Von dort aus startet der Spaziergang durch die von der Sonne in<br />

goldenes Licht getauchten Gassen. „Auf der Plaza de Molviedro<br />

blühen jedes Jahr für zwei Wochen die Jacaranda-Bäume und verwandeln<br />

den kleinen Platz in ein märchenhaftes violettes Blütenmeer“,<br />

erzählt John Axelrod und hält inne. „Sevilla ist für mich aus<br />

vielen Gründen die schönste Stadt der Welt.“ Nach wenigen Schritten<br />

erreichen wir die „La Azotea“, ein kleines Tapaslokal in der<br />

Calle Zaragoza, in dem John Axelrod mit großem Hallo den Besitzer<br />

begrüßt und sogleich kulinarische Pläne schmiedet. „Wir müssen<br />

unbedingt Fisch essen, dieser Ort hier ist das Paradies für Liebhaber<br />

von Meeresfrüchten; besseren Fisch und bessere Muscheln<br />

bekommt man sonst nirgendwo, nicht mal in Japan.“ Gesagt, getan.<br />

crescendo-Autorin Katherina<br />

Knees mit John Axelrod<br />

Die Muscheln mit Öl und Zitrone zergehen auf<br />

der Zunge, es folgt gegrilltes Schwertfischfilet mit<br />

Gemüse und ein Teller mit Artischocken zum<br />

Niederknien – dazu gibt es Rotwein. John Axelrod<br />

strahlt. Gutes Essen ist neben Musik seine<br />

große Leidenschaft. 1994 war der Dirigent sogar<br />

für kurze Zeit Leiter des Robert Mondavi Wine<br />

and Food Center in Costa Mesa in Kalifornien.<br />

„Mit dem Essen ist es wie mit der Musik“, bekennt<br />

er. „Wenn die Qualität nicht absolut hervorragend ist, macht mich<br />

das kreuzunglücklich, aber wenn die Qualität stimmt, bin ich der<br />

glücklichste Mensch der Welt.“<br />

Als das Real Orquesta Sinfónica de Sevilla 1991 von Vjekoslav<br />

Šutej gegründet wurde, bestand es aus 23 Musikern, die Šutej aus<br />

Osteuropa mitgebracht hatte. In den letzten 25 Jahren hat sich das<br />

Gesicht des Klangkörpers jedoch völlig verändert. Das liegt auch<br />

daran, dass man in Sevilla viel für den Nachwuchs tut, berichtet<br />

John Axelrod begeistert. „Hier wimmelt es von guten Jugendorchestern<br />

wie in keinem anderen Land. Neun Nachwuchsorchester<br />

gibt es momentan in Sevilla und die Qualität ist enorm. Die jungen<br />

Musiker brennen für das, was sie tun, und ich kann hier wirklich<br />

etwas bewegen. Die ganze Stadt duftet nach Zukunft und Perspektive<br />

und ist zugleich tief verwurzelt in ihren Traditionen. Das ist<br />

eine unglaublich reizvolle Mischung!“<br />

79


L E B E N S A R T<br />

John Axelrod kann selbst auf<br />

eine bewegte und vielseitige Karriere<br />

zurückblicken. 1966 wurde er in<br />

Houston in Texas geboren und nach<br />

musikalisch geprägten Kindertagen<br />

bereits mit 16 Jahren von seinem<br />

Mentor und Vorbild Leonard Bernstein<br />

Nach dem Essen geht der<br />

Streifzug durch die Stadt weiter, und<br />

aus John Axelrod sprudeln in Hülle<br />

und Fülle Informationen zu Sevillas<br />

Geschichte. Er ist nicht nur ein<br />

künstlerischer Visionär, der den<br />

Blick in die Zukunft richtet, son-<br />

höchstpersönlich unter die<br />

dern blickt auch wissbegierig<br />

Fittiche genommen. Später studierte<br />

er Musikwissenschaften an<br />

der Harvard University, Jazzklavier<br />

in Boston und Dirigieren in St.<br />

Petersburg, arbeitete in Amerika als<br />

La Giralda – einst Minarett,<br />

zurück. „Die Stadtflagge von Sevilla<br />

trägt den Text ,NO 8 DO‘“, erzählt<br />

er, „und die Ziffer 8 symbolisiert ein<br />

Wollknäuel.“ Diesen rätselhaften<br />

Text findet man überall in Sevilla –<br />

Künstleragent und Artists and heute Glockenturm der Kathedrale von Sevilla an Gebäuden, Laternen und sogar<br />

Repertoire Manager für verschiedene<br />

Plattenfirmen, gründete in seiner Heimatstadt das Orchestra<br />

X und kam schließlich als Assistent von Christoph Eschenbach<br />

nach Deutschland. John Axelrod nippt an seinem Wein und streckt<br />

drei Finger in die Luft. „Drei Menschen sind dafür verantwortlich,<br />

dass ich überhaupt nach Europa gekommen bin“, erzählt er. „Meine<br />

Oma, meine Frau und Christoph Eschenbach.“ Er lacht. Mittlerweile<br />

hat John Axelrod über 150 Orchester dirigiert und war musikalischer<br />

Leiter des Theaters Luzern, des l’Orchestre National des<br />

Pays de la Loire und der Filmmusik-Gala „Hollywood in Vienna“.<br />

Der Spagat, den er seit November 2014 als Generalmusikdirektor<br />

in Sevilla täglich vollführen muss, ist eine neue Herausforderung,<br />

denn der Dirigent kann sich nicht nur auf die musikalische Arbeit<br />

mit seinem Orchester konzentrieren, sondern wird auch in politische<br />

Entscheidungen einbezogen, die sich auf die Planung seines<br />

Spielplans auswirken. Zudem muss er alle künstlerischen Visionen<br />

immer wieder rechtfertigen. „Das ist manchmal ein Kampf gegen<br />

bürokratische Windmühlen“, sagt er und lacht. „Aber nur wenn<br />

man große Träume hat, kann man auch etwas erreichen.“<br />

auf Polizeiautos. Entschlüsseln lässt<br />

sich das Wortspiel mit „No me ha dejado“ – „Du hast mich nicht<br />

verlassen“, eine Anspielung auf den kastilischen König Alfons X.,<br />

der sich für die Treue der Stadt bedankte, weil er nach seiner Entthronung<br />

im Jahr 1282 in Sevilla im Exil leben durfte.<br />

Auf dem Spaziergang grüßt John Axelrod hier und da Straßenmusiker,<br />

die Luft ist warm und weich, das Licht glänzt auf den<br />

hellen Steinen der Kirchen und Häuser. Phönizier, Römer, Westgoten,<br />

Mauren, Juden und Christen waren schon hier in Sevilla zu<br />

Hause, das alles spiegelt sich im Stadtbild wider. Auch der Alcázar<br />

von Sevilla, der mittelalterliche Königspalast, der bis heute von der<br />

spanischen Königsfamilie genutzt wird, ist optisch noch von seiner<br />

maurischen Baugeschichte geprägt. Doch viel faszinierender findet<br />

John Axelrod die Legenden, die sich in den Gassen östlich der<br />

Kathedrale zugetragen haben, im Barrio de Santa Cruz, wo bis ins<br />

15. Jahrhundert hinein die jüdische Bevölkerung der Stadt lebte,<br />

bevor die Judería ab 1391 wiederholt von blutigen Pogromen<br />

erschüttert wurde und viele ihrer Bewohner ermordet wurden.<br />

Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde das jüdische Viertel wieder<br />

Musik & Kunst<br />

Wer tiefer in die jüdische Geschichte der<br />

Stadt eintauchen möchte, besucht das Centro<br />

de Interpretación Judería de Sevilla und<br />

macht einen geführten Rundgang durch das<br />

jüdische Viertel: www.juderiadesevilla.es<br />

In der Carbonería kann man jeden Abend<br />

authentische Flamencovorstellungen erleben:<br />

www.lacarbonerialevies.blogspot.de<br />

Tipps, Infos & Adressen<br />

Reiseinformationen rund um einen Besuch in Sevilla.<br />

Essen & Trinken<br />

Landestypische Tapas in gemütlichem Ambiente<br />

bietet die Abaceria Puerta Carmona:<br />

Calle Tintes 1, 41003 Sevilla<br />

Liebhaber von Meeresfrüchten erleben in der<br />

oft mittags schon gut gefüllten La Azoteca<br />

echte Geschmacksexplosionen:<br />

www.laazoteasevilla.com/es<br />

Übernachten<br />

Das 4* Hotel Vincci la Rabida verbirgt sich in<br />

einem Herrenhaus aus dem <strong>18</strong>. Jahrhundert<br />

mitten im Zentrum von Sevilla. Das Frühstück<br />

ist fantastisch und der Blick von der Dachterrasse<br />

des Restaurants überwältigend:<br />

https://de.vinccilarabida.com<br />

FOTOS: CONSORCIO TURISMO DE SEVILLA; JYNUS; KATHERINA KNEES; CONSORCIO TURISMO DE SEVILLA<br />

80 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>


aufgebaut und ist als Schauplatz romantischer Opern wie Der Barbier<br />

von Sevilla, Figaros Hochzeit oder Carmen weltberühmt<br />

geworden. Die zweistöckigen andalusischen Häuschen und die<br />

lauschigen Plazas mit Brunnen und Orangenbäumen verströmen<br />

heutzutage Behaglichkeit. Pittoreske Balkone mit Geranien und<br />

gekachelte Innenhöfe zieren die schattigen Gässchen, die von hübschen<br />

kleinen Läden und Cafés gesäumt werden. Am südlichen<br />

Ende des Barrio de Santa Cruz befinden sich die nach dem Sevillaner<br />

Maler Esteban Murillo benannten wunderschönen Jardines de<br />

Murillo, die 1911 entstanden sind und die Obst- und Gemüsegärten<br />

des Real Alcázar in eine prächtige Grünanlage verwandelt<br />

haben. Gigantische Bäume spenden dort Schatten und laden zum<br />

Verweilen und Staunen ein.<br />

Auf dem Rückweg zum Hotel geht’s noch vorbei an der<br />

Kathedrale Santa María de la Sede, der drittgrößten Kirche der<br />

Welt, die mit ihrem imposanten Glockenturm schon aus weiter<br />

Ferne ein echter Blickfang ist.<br />

Vom Restaurant auf der Dachterrasse des Vincci la Rabida<br />

hat man einen überwältigenden Blick über die Stadt, der besonders<br />

zu späterer Stunde eine theatrale Magie entfaltet. Zum<br />

Abendessen gibt es Tintenfisch mit viel Knoblauch, einen kräftigen<br />

Rotwein und Besuch vom Konzertmeister. Der Geiger Paçalin<br />

Zef Pavaci ist für John Axelrod nicht nur der musikalische Fels in<br />

der Brandung seines Orchesters, sondern auch ein Freund, mit<br />

dem er hemmungslos künstlerische Zukunftspläne schmieden<br />

kann. Schließlich ist es Mitternacht. „Wie wäre es mit einer<br />

Kutschfahrt? Das muss man hier einfach machen.“ John Axelrods<br />

Augen blitzen vergnügt, von Müdigkeit keine Spur. Also los. Vor<br />

der Kathedrale warten zehn Kutschen in filmreifer Kulisse, und<br />

das Hufgeklapper ist ein stimmungsvoller Begleiter durch die laue<br />

Nachtluft.<br />

Erstmal gibt es einen Abstecher ins Seefahrer-, Torero- und<br />

Flamencoviertel Triana auf der anderen Seite des Guadalquivir.<br />

Der Blick über den Fluss hinweg bietet eine reizvolle neue Perspektive.<br />

Zurück im Zentrum leuchtet die Stierkampfarena La Maestranza<br />

am Paseo Cristóbal Colón mit ihren weiß-rotbraun-ockergelben<br />

Mauern in der Dunkelheit. Sie wurde im <strong>18</strong>. Jahrhundert<br />

gebaut und zählt zu den schönsten und ältesten des Landes. Von<br />

dort ist es nur noch ein Katzensprung zur letzten Station des Tages.<br />

John Axelrods Arbeitsplatz, das Teatro de la Maestranza, liegt<br />

friedlich im nächtlichen Schein der Laternen. „Wenn ich es musikalisch<br />

ausdrücken müsste, würde ich sagen, Sevilla ist kein Allegro,<br />

aber auch kein Largo.“ John Axelrod lächelt versonnen:<br />

„Sevilla ist ein Andante.“<br />

■<br />

Termine<br />

FÜR GLOBETROTTER<br />

Gen Süden<br />

Monte-Carlo und Umgebung<br />

Dank der wunderbaren Gracia Patricia wartet das steinige Steuerparadies<br />

an der Côte d’Azur jährlich im Frühjahr mit musikalischen Besonderheiten<br />

auf. Die Musik unserer Zeit zur Geltung zu bringen, ist der Ehrgeiz<br />

des Musik- und Tanzfestivals Printemps des Arts de Monte-Carlo.<br />

„Das Konzert, das seit einigen Jahrzehnten erstarrt ist und in seiner Form<br />

nicht mehr unseren jungen Generationen entspricht, muss sich weiterentwickeln“,<br />

betont Marc Monnet, Komponist und künstlerischer Leiter.<br />

Als Composer in Residence hat er den Komponisten Yan Maresz eingeladen.<br />

Zudem stehen drei Uraufführungen auf dem Programm. Auch eine<br />

Opernentdeckung gibt es: Les quatre petites filles von Edison Denisov<br />

nach dem gleichnamigen Theaterstück von Pablo Picasso.<br />

Monte-Carlo, verschiedene Spielorte, 16.3. bis 29.4.,<br />

www.printempsdesarts.mc<br />

Nizza<br />

Nach emotionaler Wahrheit strebt die Regisseurin Irina Brook. Sich<br />

wahrhaftig einem Werk anzunähern, habe nichts mit dessen Entstehungszeit<br />

oder Kontext zu tun, sondern mit den Gefühlen der Menschen,<br />

die sich nicht verändert hätten. Dazu müsse man genau hinhören, die<br />

Szene folge dem Klang. Mit Vannina Santoni und Eric Fennell in den Titelpartien<br />

inszeniert sie an der Opéra de Nice Gounods Roméo et Juliette.<br />

Am Pult steht Alain Guingal.<br />

Nizza, Oper, 21. (Premiere), 23., 25. und 27.3., www.opera-nice.org<br />

Aix-en-Provence<br />

Auch Cézannes Geburtsstadt bietet Musik nicht nur im Sommer. Renommierte<br />

Künstler versammeln sich zum Osterfestival. Der Violinist<br />

Gérard Poulet vom Pariser Konservatorium ist im Kreise seiner Schüler<br />

Renaud Capuçon, Amanda Favier, Anne Gravoin und vieler anderer zu<br />

erleben. Das Orchestre Nationale de France unter seinem Chefdirigenten<br />

Emmanuel Krivine bringt anlässlich der 100. Wiederkehr des Geburtstages<br />

von Debussy dem großen Impressionisten eine Hommage dar. Und<br />

ein Porträtkonzert stellt den Komponisten Éric Tanguy vor.<br />

Aix-en-Provence, verschiedene Spielorte, 26.3. bis 8.4.,<br />

www.festivalpaques.com<br />

HOTELTIPP<br />

Das Sonnalp<br />

in den Dolomiten<br />

Das markante Profil des Latemar-Gebirgszugs kennen Sie wahrscheinlich<br />

von Dolomiten-Postkarten und Ski-Übertragungen.<br />

Hier, nur 20 Minuten von Bozen, und gefühlt am Ende der Welt,<br />

liegt Obereggen, eine kleine Gemeinde mit gerade mal 110 Einwohnern,<br />

die Kinder mitgezählt. Wer die Ruhe der Natur sucht<br />

und Kraft in ihr tanken möchte, ist hier im Südtiroler Eggental<br />

bestens aufgehoben. In der Gästekarte für 38 Euro pro Woche sind<br />

die Busse und Bergbahnen zu allen Dolomitengipfeln inbegriffen!<br />

Schlafen kann man am besten im inhabergeführten Genießerhotel<br />

Sonnalp mit seiner renommierten Gourmetküche von Zwei-Hauben-Koch<br />

Martion Köhl. Dazu der einzigartige Ausblick: vorne<br />

die satt blühende Almwiese, im Hintergrund der Latemar und die<br />

Wanderwege direkt vor der Haustür – viele davon perfekt zum<br />

Radeln mit dem E-Bike. Im Dezember sind nun die neuen stylishgemütlichen<br />

Junior- und Superiorsuiten fertig geworden. ■<br />

UNSER TIPP: Die Dolomitenrundfahrt mit dem Chef des Hauses<br />

persönlich. Preis: pro Person im DZ inkl. HP ab 99 Euro<br />

Infos und Kontakt: www.sonnalp.com, Tel. +39-0471-61 58 42<br />

FOTO: SONNALP<br />

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H O P E T R I F F T<br />

Daniel-Hope-Kolumne<br />

KEINE AMERIKANISCHEN<br />

VERHÄLTNISSE, BITTE!<br />

Daniel Hope im Gespräch mit Oboist Albrecht Mayer über Hochkultur,<br />

Meinungsfreiheit und den Umgang mit Kritik.<br />

Daniel Hope: Neulich wurde ich im Flugzeug<br />

von einem plastischen Chirurgen<br />

angesprochen. Er erzählte mir, dass deine<br />

Musik ihn so inspirieren würde, dass er<br />

immer dazu arbeitet. Durch dein letztes<br />

Album hätte er die schönsten Lippen seines<br />

Lebens gebaut. Was bedeuten dir solche<br />

Komplimente?<br />

Albrecht Mayer: Das ist ein sehr schönes<br />

Kompliment. In einer Zeit, in der sich das<br />

Gefühl für und die Kenntnis um die klassische<br />

Musik stark verändert haben, versuche<br />

ich, nicht nur für Menschen Musik zu<br />

machen, die klassische Musik über alles lieben<br />

und sich bestens auskennen, sondern<br />

auch für Menschen, die sich vielleicht nach<br />

der Arbeit, nach der Schule oder dem<br />

Kochen einfach nur entspannen wollen, die<br />

von Klassik gar keine Ahnung haben.<br />

Es ist en vogue, über den Zustand der klassischen<br />

Musik zu sprechen; oft werden<br />

große Schwierigkeiten prophezeit …<br />

Glücklicherweise haben wir beide keine Probleme,<br />

große Säle zu füllen. Aber wenn ich<br />

sehe, dass der meiste Musikunterricht in<br />

Deutschland entweder stark eingeschränkt<br />

ist oder gleich ganz ausfällt, macht mir das<br />

Sorgen. Auf der anderen Seite erlebe ich auf<br />

meinen Auslandsreisen zum Beispiel in<br />

Japan, China oder – um ein krasses Beispiel<br />

zu bringen – in der Türkei volle Säle mit jungen<br />

Leuten, die großen Spaß an der klassischen<br />

Musik haben – ein Gegensatz zu unserem<br />

Abonnementpublikum mit oft sehr reifen<br />

Menschen, die sich hochpreisige Tickets<br />

leisten können. Ich frage mich, ob wir nicht<br />

ein kleines bisschen umdenken sollten. Wir<br />

wissen, dass Deutschland eigentlich ein<br />

Hochkulturland ist und vor allem war. Es<br />

Daniel Hope und Albrecht Mayer mit<br />

Rachel Harnisch und Sebastian Knauer beim<br />

Neujahrskonzert 2017/<strong>18</strong> in Zürich<br />

wäre schade, wenn wir amerikanische Verhältnisse<br />

einreißen ließen, in denen Musik<br />

einem sehr kleinen, elitären Kreis vorbehalten<br />

bleibt.<br />

In unserem gemeinsamen Silvesterkonzert<br />

hast du eine fantastische Paraphrase von<br />

Klemcke über eine Donizetti-Arie gespielt.<br />

Wie wichtig ist es dir, das Repertoire für<br />

die Oboe zu erweitern?<br />

Einerseits gibt es ein riesiges Repertoire für<br />

die Oboe. Allein das <strong>18</strong>. Jahrhundert hat so<br />

viele Oboenkonzerte hervorgebracht wie für<br />

Flöte, Klarinette, Trompete, Bratsche und<br />

Horn zusammen. So viele Originalwerke, die<br />

nur darauf warten, gespielt zu werden!<br />

Andererseits gibt es viele Stücke, die<br />

irgendwo liegen und nicht gespielt werden.<br />

Ohnehin sind da nicht so viele reisende,<br />

konzertierende Oboisten auf dem Markt und<br />

die werden meistens eben doch für das<br />

Strauss- oder Mozart-Oboenkonzert oder<br />

das Bach-Doppelkonzert mit Geige angefragt.<br />

Das ist schade, denn das Repertoire ist<br />

unerschöpflich – in allen Epochen!<br />

Du hast neulich mit I Musici di Roma eine<br />

fantastische Tournee gemacht. Trotzdem<br />

wurde in einer Kritik nur über deine<br />

Schuhe berichtet.<br />

Journalisten haben Gott sei Dank in<br />

Deutschland noch eine gewisse Meinungsfreiheit.<br />

Trotzdem spiegelt das, was in Kritiken<br />

geschrieben wird, weder das wider, was<br />

im Konzert an Spannung oder Stimmung<br />

spürbar war, noch die Meinung des Publikums.<br />

Bei 2.500 Leuten in einer ausverkauften<br />

Berliner Philharmonie, die vielleicht<br />

begeistert waren, kann der Kritiker vorher<br />

etwas Schlechtes gegessen haben, und es<br />

gefällt ihm nicht. Das lesen dann 50.000<br />

Leute, die nicht im Konzert waren, und denken:<br />

„Das war aber ein grauenhaftes Konzert.“<br />

Man darf nicht erwarten, dass eine<br />

Kritik ein Abbild des Konzerts ist!<br />

Ist es erlaubt, dass ein Künstler auf eine<br />

Kritik – zum Beispiel als Kommentar auf<br />

seiner Website – reagiert?<br />

Da bin ich konservativ und hatte auch viel<br />

Glück in meinem Leben. Trotzdem muss<br />

jeder von uns auch mal eine schlechte Kritik<br />

einstecken. Und wir müssen uns eingestehen,<br />

dass nicht jedes Konzert gleich gut ist,<br />

das wäre unmenschlich. Wenn eine Kritik<br />

nicht beleidigend wird, würde ich darauf<br />

nicht reagieren. Bei Beleidigungen würde ich<br />

wohl andere Maßnahmen ergreifen. Ich<br />

würde nicht selbst antworten, es gibt genügend<br />

Fans, die leidenschaftlich für mich in<br />

die Bresche sprängen.<br />

Dein Rat für einen jungen talentierten<br />

Oboisten am Karrierebeginn?<br />

Offensichtlich ist es nur wenigen vergönnt,<br />

ein solistisches Leben als Oboist zu haben.<br />

Deshalb sollen sie ihr ganzes Herzblut und<br />

ihre Leidensfähigkeit zusammenraffen und<br />

so viel arbeiten, wie es geht! Und auf den Zug<br />

aufspringen, wenn er vorbeifährt! n<br />

ZEICHNUNG: STEFAN STEITZ<br />

FOTO: DANIEL HOPE, PRIVAT<br />

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