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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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K Ü N S T L E R<br />

DIRIGENTEN SIND<br />

WIE ROTWEIN<br />

Über die Kunst des Reifens, die Verlockung Estlands und die Kraft<br />

musikalischer Brückenschläge – ein Gespräch mit Dirigent Paavo Järvi.<br />

VON BARBARA SCHULZ<br />

crescendo: Herr Järvi, Sie haben einmal gesagt, man müsse<br />

logisch an ein Werk herangehen. Ist das Ihre Art zu interpretieren?<br />

Paavo Järvi: Nicht unbedingt. Aber Musik hat eine innere Logik,<br />

die muss man verstehen. Natürlich gibt es nichts Langweiligeres als<br />

die pedantische, analytische Aufführung eines Werks. Und man<br />

kann es hören, wenn ein Dirigent die innere Logik eines Stücks<br />

nicht verstanden hat. Jeder Komponist schreibt ein Stück mit einer<br />

genauen inneren Logik im Kopf, das muss man als Dirigent<br />

wissen. Als Hörer nicht. Denn in der Aufführung selbst passiert<br />

das Gegenteil: Es soll natürlich und organisch sein und nicht<br />

akademisch.<br />

Sie haben ursprünglich Schlagzeug gelernt. Hilft das beim<br />

Dirigieren?<br />

Ja, Rhythmus ist das Wichtigste in der Musik überhaupt. Das gilt<br />

für alle Musiker. Damit meine ich nicht das klassische Taktschlagen,<br />

sondern dass man diesen inneren Sinn für Rhythmus im Blut<br />

haben muss. Ein Orchester, das rhythmisch nicht völlig klar ist,<br />

kann auch die Essenz von Musik nicht transportieren, egal, ob bei<br />

Wagner, Beethoven, Strawinsky oder in der Barockmusik.<br />

Noch ein Zitat von Ihnen: „Dirigenten werden mit den Jahren<br />

wie Rotwein immer besser“ …<br />

Definitiv. Dirigieren ist kein Job, es ist ein echter Beruf – im besten<br />

Sinne. Und Erfahrung ist essenziell! Es geht um Weisheit. Und für<br />

die muss man Erfahrungen und Fehler machen. Musikalische,<br />

vielleicht auch persönliche. Ein Beispiel: Bernard Haitink. Er<br />

macht nicht viel, nur sehr kleine, konzentrierte, fast minimalistische<br />

Bewegungen – und doch macht er alles. Er hat so viel<br />

Erfahrung, Weisheit und Wissen, wie man etwas formen und<br />

gestalten muss. Das hilft, die Dinge anders zu sehen. Ja, irgendwie<br />

ist es ein Beruf für die zweite Lebenshälfte.<br />

Und was ist mit Champagner?<br />

Je älter ich werde, umso notwendiger finde ich es in der Musik,<br />

Spaß zu haben, zu genießen, loszulassen – eines der schwersten<br />

Dinge überhaupt. Hat man ein Orchester vor sich und etwa 3.000<br />

Leute hinter sich, dann ist Loslassen ein ziemlich riskantes<br />

Geschäft. Es aber nicht zu tun, ist auch nicht der ultimative Weg zu<br />

„HAT MAN EIN ORCHESTER VOR<br />

UND 3.000 LEUTE HINTER SICH, IST LOSLASSEN<br />

EIN RISKANTES GESCHÄFT“<br />

einer guten Aufführung. So ist es ein persönlicher innerer Kampf,<br />

wie sehr man es kann und will. Natürlich auch eine Frage dessen,<br />

wie eng die Beziehung mit dem Orchester ist. Mit dem eigenen<br />

lässt man sich auf andere Risiken ein als mit einem, das man nicht<br />

kennt. Es ist eine komplett andere Art zu dirigieren.<br />

Was ist mit den nationalen Unterschieden von Orchestern?<br />

Es ist unmöglich, von der Gesellschaft, in der man lebt, nicht<br />

beeinflusst zu sein. Insofern besteht offensichtlich eine Beziehung<br />

zwischen der Tatsache, aus welcher Kultur das Orchester kommt<br />

und wie es funktioniert. Gleichzeitig gibt es natürlich sehr<br />

integrative und gemischte Orchester – ein Mikrokosmos, in dem<br />

ein ganz eigener Sound kreiert wird.<br />

Wie bei dem von Ihnen gegründeten Estonian Festival Orchestra …<br />

14 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>

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