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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Filmmusik<br />

DER SOUNDTRACK DER<br />

FLIMMERWELT!<br />

Sie dröhnen, romantisieren, zitieren und lassen schweigen.<br />

Sie beschwören Vorahnungen und schaffen Gewissheiten. Eine Reise in die Welt der<br />

Filmmusik von Dr. Caligari bis Spiel mir das Lied vom Tod.<br />

VON TERESA PIESCHACÓN RAPHAEL<br />

Grell und spitz stoßen die hohen Violinen zu, messerscharf<br />

sausen die Geigen-Glissandi herab, es kreischt<br />

und sägt, „fortissimo, brutale“, wie es in der Partitur<br />

von Bernard Herrmann (1911–1975) steht. 53 „Cuts“ in<br />

136 Sekunden, die Frau in der Dusche wird regelrecht zerhackt.<br />

Man sieht es nicht in Hitchcocks Psycho – aber die Musik lässt<br />

es hören. Ob Messerzücken, Kuss oder Cliff-Hanger: Nichts geht<br />

im Film ohne Musik. Sie verstärkt Gefühle und Fantasien und<br />

lässt Menschen umso lieber ins Kino gehen. Schon zu Stummfilmzeiten:<br />

1917 wurden täglich 14 Millionen<br />

Tickets verkauft, in Paris 1915 allein<br />

im Oktober ganze 1,6 Millionen – fast die<br />

Hälfte der damaligen Einwohnerzahl.<br />

Regelrechte Stummfilmkathedralen<br />

wurden erbaut, wie das Roxy Theatre in New<br />

York, dessen spektakulär goldenes Auditorium<br />

fast 6.000 Sitzplätze fasste. Kinoorgeln<br />

produzierten alle Klangfarben und Geräusche,<br />

dazu ein Orchester von 110 Mann nebst gemischtem Chor und<br />

Vokalsolisten. Ob Mozart, Massenet, Weber oder Sibelius, Wagner<br />

oder Bizet: Die Musik wurde an die Stimmung und das „Cue sheet“<br />

angepasst, die von den Produzenten herausgegebene Liste der Stellen,<br />

an denen Musik stattfinden sollte.<br />

Freizügig der Umgang mit dem kompositorischen Material:<br />

„Das Motiv für Caligari holten wir uns bei Straussens Till Eulenspiegel“,<br />

schildert Filmkomponist Ernö Rapée 1919 die Suche nach<br />

passender Musik für Das Cabinet des Dr. Caligari. „Um Cäsar, den<br />

Träumer, zu etikettieren, pumpten wir uns ein bisschen was von<br />

Debussys Nachmittag eines Fauns.“ In kleinen Kinos führte ein Pianist<br />

durch den Film. Schlager, Gassenhauer, Ragtime oder Opernmedleys,<br />

jedes Genre musste er parat haben – inklusive ein „Achtung!<br />

Gefahr!“ signalisierendes Tremolo. Musik, die an jeder Stelle<br />

abgebrochen oder verlängert werden konnte.<br />

„Wir brauchten das Geld bitter nötig“, beschreibt Dmitri Schostakowitsch,<br />

wie er Anfang der 20er-Jahre in Leningrad im „Aurora“<br />

seine „Muggen“ verdiente. Seinem Lehrer Glasunow versicherte er,<br />

„dass ich kein Lotterleben treibe; die Sache steht schlimmer. Mit der<br />

Arbeit am Cinematograph bin ich völlig aufgeschmissen […] Wenn<br />

ich nach Hause komme, [klingt mir] immer noch die Kinomusik in<br />

KURT WEILL FÜHLTE SICH ALS<br />

HURE HOLLYWOODS<br />

den Ohren, und vor meinen Augen stehen die Helden und sind mir<br />

böse […] Ich stehe sehr spät auf, mit schwerem Kopf und unpassenden<br />

Gefühlen. Es kriechen mir unanständige Gedanken in den<br />

Kopf, etwa: Ich hätte mich für 134 Rubel an das ,Sevzapino‘ verkauft<br />

und sei nun zum Kinopianist geworden.“ Das Komponieren frustrierte<br />

ihn: „ein Trommelschlag beim Eintritt eines neuen Helden;<br />

ein munterer energischer Tanz für die positiven Helden, ein Foxtrott<br />

für die ,Zersetzung‘ und eine muntere Musik für das glückliche<br />

Finale“. Dennoch wird er 40 Filmmusiken schreiben.<br />

„Keine Hure liebt je ihren Freier, und<br />

sie will ihn so schnell wie möglich loswerden,<br />

sobald sie ihre Dienste bereitgestellt<br />

hat. Das ist mein Verhältnis zu Hollywood.<br />

Ich bin die Hure“, brachte es Kurt Weill auf<br />

den Punkt. Dennoch gelang es Komponisten,<br />

auch eigenständige Musik zu schreiben,<br />

wie Paul Hindemith für Im Kampf mit dem<br />

Berge (1921) oder Eric Satie für René Clairs<br />

Entr’Acte (1924). Saties Musik ist so absurd wie der Film selbst, ein<br />

musikalisches Kaleidoskop, das nie zum Puzzle wird. Passend dazu<br />

die Aufforderung an das Publikum: „Bringen Sie schwarze Sonnenbrillen<br />

mit. Oder etwas, mit dem Sie die Ohren verstopfen können.“<br />

Eine Revolution löste 1927 die Erfindung des Tonfilms aus. Die<br />

auf das neue Lichttonverfahren standardisierte Filmrolle war billiger<br />

als der Unterhalt eines Kinoorchesters, der seinerzeit 200.000 Dollar<br />

jährlich verschlang. Kleine Kinos konnten sich nun die (einmalige)<br />

Anschaffung eines Projektors für 15.000 Dollar leisten. Musiker<br />

aber wurden über Nacht arbeitslos.<br />

Fritz Langs legendärer Film M von 1931 nutzt die Sprache des<br />

Stummfilms und verbindet sie mit den neuen Errungenschaften.<br />

Er setzt die bis dahin illustrierende Filmmusik dramaturgisch ein:<br />

Immer, wenn der Kindermörder einem Mädchen begegnet, wenn<br />

in ihm Mordgedanken aufsteigen, pfeift er die Melodie von In der<br />

Halle des Bergkönigs aus Griegs Peer-Gynt-Suite. An der Melodie<br />

wird der blinde Händler, der dem Mädchen einen Luftballon verkauft,<br />

die Gefahr erkennen.<br />

Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 schöpfen viele Drehbuchautoren<br />

ihre Stoffe aus Presse- und Gerichtsakten, die die korrupte<br />

amerikanische Justiz und Politik und die soziale Misere anprangern.<br />

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