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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Als die Violinistin Lisa Batiashvili zwölf Jahre alt war, gaben ihre Eltern in Georgien<br />

alles auf, um ihr in Deutschland eine bessere Zukunft zu ermöglichen.<br />

Frau Batiashvili, Ihre Karriere als Violinistin gehört zu<br />

den beeindruckendsten der Gegenwart. 1979 in Tiflis<br />

geboren, 1995 als jüngste Teilnehmerin in der Geschichte<br />

Preisträgerin beim Internationalen Jean-Sibelius-Geigenwettbewerb,<br />

danach Konzerte in aller Welt mit den renommiertesten<br />

Orchestern. Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?<br />

Lisa Batiashvili: Da spielten mehrere Aspekte eine Rolle. Musik<br />

nahm bei meinen Eltern einen wichtigen Platz ein. Mein Vater ist<br />

Geiger und war mein erster Lehrer. Meine Mutter ist Pianistin. Die<br />

Leidenschaft für die Musik war mir angeboren. Als meine Eltern<br />

dann entschieden, Georgien zu verlassen, alles zurückzulassen<br />

– ihre Arbeit, ihre Freunde, ihre Namen – und ohne Sprachkenntnisse,<br />

ohne Arbeitsgarantie nach Deutschland zu gehen, gab mir<br />

das einen Schub. Ich war nicht einmal zwölf Jahre alt. Aber in<br />

diesem Augenblick rückten mir mein Leben, meine Aufgabe und<br />

meine Ziele deutlich ins Bewusstsein. Mir wurde klar, dass alles<br />

geschah, um mir eine gute Ausbildung und eine bessere Zukunft<br />

zu ermöglichen.<br />

Fühlten Sie sich unter Druck?<br />

Nein, ich spürte einfach nur Verantwortungsgefühl. Nach dem<br />

Zusammenbruch der Sowjetunion geriet Georgien in einen<br />

Bürgerkrieg und eine große Krise. Deutschland nahm mich<br />

damals auf wie ein eigenes Kind. Daraus wollte ich das Beste<br />

machen. Durch den Sibelius-Wettbewerb lernte ich die fantastischen<br />

finnischen Musiker kennen. Mit ihnen spielte ich meine<br />

ersten Konzerte. Sie ermöglichten es mir, in gemäßigtem Tempo<br />

weiterzukommen und Erfahrungen zu sammeln.<br />

Die Geige spielten Sie bereits mit zwei Jahren und standen mit<br />

vier Jahren auf der Bühne. Wie fanden Sie zu Ihrem Instrument?<br />

Mein Vater unterrichtete zu Hause Kinder. Die wollte ich nachahmen.<br />

Ich verbrachte aber auch viel Zeit damit, Klavier zu spielen,<br />

zu komponieren oder meinem Vater zuzuhören, wenn er mit<br />

seinem Quartett spielte.<br />

Zur georgischen Musik haben Sie nach wie vor enge Beziehungen.<br />

Was verbindet Sie mit ihr?<br />

Die georgische Musik bringt mir Kindheitsgefühle und Erfahrungen<br />

in Erinnerung. Sie besitzt eine eigene Persönlichkeit. Sie ist<br />

stark von der Volksmusik beeinflusst. Spielt man georgische<br />

Musik, erhält man direkten Zugang zur georgischen Natur. In den<br />

90er-Jahren war mein Land in Deutschland unbekannt. Wenn ich<br />

sagte, ich komme aus Georgien, hatte kaum jemand eine Ahnung,<br />

wo das liegt. Ich spiele georgische Musik, damit die Menschen<br />

mein Land kennenlernen.<br />

Auf Ihrem neuen Album „Visions of Prokofiev“ wenden Sie sich<br />

nun einem russischen Komponisten zu …<br />

Prokofjew ist für mich deshalb so faszinierend, weil ich in seiner<br />

Musik das Verlangen nach einem Zuhause spüre. Es gibt keinen<br />

schöneren Ort als zu Hause. Wir Musiker haben selten die<br />

Möglichkeit, es zu genießen. Unser Leben bedeutet, auf Reisen zu<br />

sein und in Hotels zu nächtigen, ohne uns an etwas binden zu<br />

können. Prokofjew war bei seinen Reisen immer auf der Suche<br />

nach einem Ort, an dem er sich zu Hause fühlte. Dadurch wurde<br />

seine Musik so persönlich und verträumt. Ich verbinde mit ihr<br />

Zauber und Märchen. Sie vermittelt eine unglaubliche und<br />

VON RUTH RENÉE REIF<br />

zauberhafte Realität, seine Realität. Ich empfinde so viel Empathie<br />

und Sympathie für ihn.<br />

Sein Erstes Violinkonzert, das auf Ihrem Album mit dem<br />

Chamber Orchestra of Europe unter Yannick Nézet-Séguin zu<br />

hören ist, haben Sie bereits mit 13 Jahren zum ersten Mal<br />

gespielt. Wie kam das?<br />

Mein Lehrer Mark Lubotsky war Schüler von David Oistrach<br />

gewesen. Schostakowitsch, Prokofjew, Schnittke waren das erste<br />

Repertoire, das er unterrichten wollte. Zu dieser Musik hatte er<br />

wahnsinnig viel zu sagen, und er erkannte, dass meine Natur mit<br />

ihr eine Harmonie findet. Prokofjews Musik ist so ausdrucksstark<br />

und theatralisch und besitzt so viele verschiedene Farben. Um das<br />

alles zu verstehen und wiederzugeben, muss man erst einmal<br />

erwachsen werden.<br />

Das Konzert wurde zu Ihrem „Markenzeichen“. Sie haben es oft<br />

gespielt, aber erst jetzt aufgenommen …<br />

Das war ein Herzensprojekt. Ich spielte beide Violinkonzerte<br />

Prokofjews mit dem Chamber Orchestra of Europe und Nézet-<br />

Séguin bereits im Konzert. Da fanden sich zwischen den Auftritten<br />

des Orchesters einige Aufnahmetage. Nézet-Séguin ist einer<br />

meiner allerliebsten Musiker. Diese Aufnahme ist das Zusammenspiel<br />

einer Musik, die ich liebe, und eines Dirigenten, zu dem ich<br />

eine besondere Verbindung habe.<br />

Prokofjew schrieb das Erste Violinkonzert 1917 in Paris, also<br />

während der Revolution. Das Zweite Violinkonzert, das ebenfalls<br />

auf dem Album ist, entstand 1935 in Madrid kurz vor seiner<br />

endgültigen Rückkehr in die Sowjetunion. Was unterscheidet<br />

die beiden Werke?<br />

Sie erzählen zwei verschiedene Geschichten von Prokofjew. Das Erste<br />

Violinkonzert ist leichter, feiner, impressionistisch. Es ist überirdische<br />

Musik. Am Ende des Stücks führt sie uns in den Himmel. Im ersten<br />

Satz des Zweiten Violinkonzerts spürt man dagegen die Erinnerung an<br />

den Krieg. Die Musik ist irdisch. Wir bewegen uns in einer neuen Ära<br />

von Prokofjews Leben und Schreiben.<br />

Tanz und Walzer aus den Balletten Romeo und Julia und<br />

Cinderella sowie der Große Marsch aus der Oper Die Liebe zu<br />

den drei Orangen wurden von Ihrem Vater arrangiert und<br />

ausgewählt. Begleitet er Ihre Karriere als Ratgeber?<br />

Als lieber Papa und guter Freund, bei dem ich mir Ratschläge hole.<br />

Er hat ja schon so viel gespielt. Schostakowitsch und viele große<br />

Komponisten kannte er persönlich und führte ihre Musik zum<br />

ersten Mal auf. Er ist ein Mensch, dem ich vertraue und der mich<br />

niemals damit belasten würde, seine Meinung zu äußern, wenn ich<br />

ihn nicht darum bitte.<br />

Welcher Komponist liegt Ihnen außerdem so am Herzen, dass<br />

Sie seine Musik aufnehmen wollen?<br />

Sehr beschäftigen mich Schubert, Schumann und Mozart. Ich<br />

möchte aber nicht nur klassische Musik aufnehmen. Für meine<br />

nächste Aufnahme suche ich etwas Ausgefallenes. Anders Hillborg<br />

schrieb mir ein Violinkonzert, das ich 2016<br />

spielte. Es ist fantastisch und vermittelt eine<br />

Atmosphäre, die an den Kosmos denken lässt. ■<br />

„Visions of Prokofiev“, Lisa Batiashvili, Yannick Nézet-Séguin, Chamber<br />

Orchestra of Europe (DG)<br />

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