K Ü N S T L E R Als die Schlagzeugerin das erste Mal mit Percussion in Kontakt kam, war ihr Hörsinn bereits stark beeinträchtigt. In den folgenden Jahren ging er immer mehr zurück. Anfangs stellte Evelyn Glennie die Musik immer lauter, um über ihre Hörgeräte noch möglichst viel von ihr zu erhaschen. Bis ihr Percussionlehrer sie eine völlig andere Wahrnehmung von Musik lehrte. Damals bat er Glennie, ihre Hörgeräte abzunehmen und die Hände auf die Wände des Unterrichtszimmers zu legen. Dann spielte er Pauke und Glennie sollte sich darauf konzentrieren, was sie fühlte. Nach und nach begann sie, die Musik an ihrem gesamten Körper zu empfinden – in den Beinen, dem Bauch, dem Nacken, vibrierend, pulsierend und unmittelbar. Für Evelyn Glennie war das ein Schlüsselmoment: „Ich habe mit einem Mal gemerkt: Ja, ich kann Klang wirklich spüren! Da habe ich verstanden, dass der wichtigste Teil des Klangs nicht der Anschlag ist, sondern die Resonanz.“ Schien die Musik zuvor mit zunehmender Taubheit immer weiter von ihr wegzurücken, hatte Glennie mit einem Mal einen neuen, direkten Zugang zu ihr entdeckt. Bald legte sie ihre Hörgeräte ab und konzentrierte sich ganz auf das spürende Hören. Als wäre jede Pore auf Empfang gestellt, schulte sie sich in der Wahrnehmung der Resonanz von Klängen. „Ich habe meinen Körper als riesiges Ohr entdeckt“, schildert Glennie. Nie zweifelte sie daran, Schlagzeugerin werden zu können. „Wenn ich nicht hören könnte, könnte ich keine Musikerin sein“, bemerkt Glennie schlicht. Mehr gibt es dazu aus ihrer Sicht nicht zu sagen. Entsprechend vehement hat sich Glennie seit jeher gegen eine Vermarktung als taubes Wunderkind und bestaunenswerte Attraktion auf der Bühne gewehrt. Das beste Mittel gegen die Sensationsgier der Menge war und ist bis heute ihr Spiel: Direkt und spannungsvoll, ungemein energiegeladen und mit prickelnder Präzision erschafft Glennie an ihren Instrumenten ein farbenreiches Gesamtkunstwerk, das die Hörer sinnlich und rauschhaft in den Bann zieht. Erlebt man Glennie auf der Bühne, erübrigen sich alle Fragen und Zweifel und man begreift: Wer wirklich hören will, muss fühlen! Jene Musikerin, die ihre Karriere einst im schottischen Nordosten auf der Snare Drum begann und die in den 1980er-Jahren noch gegen einigen Widerstand an der Royal Academy of Music in London aufgenommen wurde, hat heute alles erreicht: Sie hat einen Grammy und zahlreiche weitere Preise gewonnen, wurde in den britischen Adelsstand erhoben und mit 15 Ehrendoktorwürden von britischen Universitäten geehrt. Sie besitzt eine riesige Sammlung mit über 2.000 Instrumenten und ist als erste Vollzeit-Solo-Percussionistin der Welt gefragter denn je. Als wagemutige Pionierin leitet Glennie bei all ihren Projekten, ob solistisch oder kammermusikalisch, ob in der Klassik oder im Jazz, die pure und sinnliche Freude am vibrierenden Klang. „Ich mag dieses Gefühl sehr: neugierig um „STILLE IST EINE FANTASTISCHE SACHE, DIE ALLE MÖGLICHEN EMOTIONEN IN SICH TRÄGT“ die nächste Ecke zu gucken oder die nächste Tür zu öffnen und gespannt zu schauen, was sich dahinter verbirgt und was es alles für Möglichkeiten gibt.“ Vor Kurzem hat Glennie eine neue Tür in ihrem Leben geöffnet und zusammen mit dem Gitarristen Jon Hemmersam, dem Geiger Szilárd Mezei und dem Pianisten Michael Jefry Stevens das „Core-tet Project“ gestartet und ein Improvisationsalbum aufgenommen. Außer Hemmersam kannte Glennie vorher keinen der Musiker, und doch begann die Kraft der Musik von Beginn an zu wirken: „Wir haben uns einfach hingesetzt und angefangen“, erzählt Glennie. „Wir haben nichts diskutiert, wir haben einfach nur gespielt.“ Das Ergebnis ist ein experimentelles und vielfarbiges Album, das stilistische Grenzen spielerisch außer Kraft setzt. Mal wild und abenteuerlustig, mal zärtlich lauschend durchforsten die vier Musiker improvisatorische Welten und locken neue, nie zuvor gehörte Klänge hervor. Evelyn Glennie hat hörbar ihren eigenen Platz im Kosmos der Vibrationen gefunden. Längst sind es nicht mehr nur ihre einzigartige Präsenz im Spiel und ihre fesselnde Ausdruckskraft, die die Musikwelt bereichern. Vielmehr inspiriert Glennie mit ihrer umfassenden Musikalität und Sinnlichkeit dazu, das eigene Verständnis von Musik zu überdenken und scheinbar FOTO: PHILIPP RATHMER selbstverständliche Wahrnehmungsmuster infrage zu stellen. Wie nehmen wir Melodien, Harmonien und Rhythmen wirklich wahr? Welche Rolle spielen unsere Ohren? Und ab welchem Moment sprechen wir eigentlich von Musik? „Wenn wir zum Beispiel nur die erste Note von Beethovens 5. Sinfonie spielen – ist das nun Musik oder ist das Klang? Es ist immerhin die erste Note von Beethovens 5. Sinfonie!“, gibt Evelyn Glennie zu bedenken und lacht. Für sie ist eine Unterscheidung irrelevant. Wirklich wichtig ist ihr das intensive, ganzheitliche Hören – jene menschliche Fähigkeit, die Musik erst möglich macht. Dabei geht es nicht nur um die Wahrnehmung von Tönen. „Die größte Herausforderung in unserem heutigen Leben ist es zuzuhören“, beobachtet Glennie. „Wir müssen einander zuhören lernen. Das heißt nicht zwingend, einem Klang zuzuhören, sondern präsent und achtsam zu sein und sich selbst und die anderen Menschen wirklich wahrzunehmen.“ Und was hat es dabei mit der Stille auf sich? „Stille ist ein Klang“, sagt Evelyn Glennie, „und ich denke, man kann sich ihm annähern. Dieser Klang kann nervös sein oder einsam, friedvoll oder dunkel, traurig oder glücklich. Stille ist eine fantastische Sache, die alle möglichen Emotionen in sich trägt. Sie ist ein wichtiger Klang, den wir alle respektieren sollten.“ ■ „The Core-tet Project“, Evelyn Glennie, Jon Hemmersam, Szilárd Mezei, Michael Jefry Stevens (Naxos) <strong>18</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>
17.03.–21.04.<strong>18</strong> internationales 17.03.–21.04.<strong>18</strong> musikfestival internationales musikfestival heidelberger frühling <strong>18</strong> Jean-Guihen Queyras I Mahler Chamber Orchestra I Gabriela Montero I Sol Gabetta I Igor Levit I Steven Isserlis Marc-André Hamelin I Isabelle Faust I Georg Nigl I Sir András Schiff I Elisabeth Leonskaja I Irish Chamber Orchestra Francesco Tristano I Richard Galliano I Matthias Goerne I Markus Hinterhäuser I Anna Prohaska I Il Giardino Armonico David Fray I City of Birmingham Symphony Orchestra I Rudolf Buchbinder I Anna Stéphany I Mirga Gražinyte-Tyla ˙ Mark Padmore I Sarah Maria Sun I Anna Lucia Richter I Isabelle Druet I Fazıl Say I Tara Erraught I Grigory Sokolov Goldmund Quartett I Armida Quartett I Iiro Rantala I Johannes Moser I Daniele Gatti I Thomas Hampson u.v.a. Gründungspartner: Kostenloses Programmbuch unter: Tel. 06221 - 584 00 12 oder www.heidelberger-fruehling.de Gründungspartner: 20<strong>18</strong>_170914_RZ.indd 1 14.09.17 14:58