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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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F I L M M U S I K<br />

Es ist die Stunde des Film noir, seine<br />

Sujets vertragen keine Musikretusche.<br />

Misere als sarkastische Karikatur setzt<br />

Chaplin genial in Moderne Zeiten 1936<br />

in Bild und Musik um. Der Held als<br />

hilfloses Zahnrädchen im Produktionsgetriebe<br />

spricht nicht, dafür die Musik:<br />

Muntere Quicksteps folgen den eintönigen,<br />

immer schnelleren Bewegungen<br />

des Arbeiters am Fließband. „Mickey-<br />

Mousing“ nannte sich das Verfahren,<br />

jede Bewegung musikalisch zu verdoppeln.<br />

„Der Schauspieler kann seine<br />

Augenbraue nicht hochziehen“, witzelte<br />

Aaron Copland, „ohne dass die Musik<br />

ihm dabei hilft.“ Und meinte damit<br />

nicht Chaplin, sondern Max Steiner,<br />

der diese Methode exzessiv betrieb. Doch Steiner<br />

(<strong>18</strong>88–1971), einstiger Schüler von Gustav<br />

Mahler, war auch ein begabter Komponist, wie<br />

seine Musik zu Vom Winde verweht (1939) zeigt.<br />

Drei Stunden Musik inklusive Ouvertüre, in<br />

zwölf Wochen komponiert, dank Aufputschmitteln.<br />

16 Leitmotive und über 300 Einzelnummern,<br />

die er geschickt aus Motiven des musikalischen<br />

MGM-Firmensignets entwickelte, das<br />

jeden Film als „musikalisches“ Markenzeichen<br />

einleitet. Während Steiners Musik vorwiegend<br />

illustrativ bleibt, brachte Franz Waxmann (1906–<br />

1967) eine psychologisierende Ebene hi nein.<br />

Sein chromatisches Rebecca-Thema aus dem<br />

gleichnamigen Hitchcock-Film von 1940, taucht<br />

nur kurz auf, bleibt dennoch präsent, in variierter<br />

Form, wie ein Geist, der durch die Zimmer<br />

wandelt – der Protagonistin Rebecca ähnelnd,<br />

die tot ist und dennoch die Handlung bestimmt.<br />

Kongenialer Höhepunkt der Zusammenarbeit<br />

zwischen Regisseur und Komponist ist<br />

Herrmanns Musik zu Orson Welles’ Citizen Kane<br />

(1941). Eine formal gleichbleibende Frühstücksszene zeigt den Verfall<br />

von Kanes erster Ehe. Erste Einstellung: langsamer sentimentaler<br />

Walzer für das liebende Paar. Zweite Einstellung: burlesk-heitere<br />

Variation. Das Paar scherzt. Dritte Einstellung: aufgeregte Variation.<br />

Emily ist nun strenger angezogen, die Stimmung gereizt. Vierte Einstellung:<br />

Disput zwischen den Eheleuten, die einstige Walzermelodie<br />

ist in Rede und Gegenrede aufgeteilt. Fünfte Einstellung: offener<br />

Streit. Das Dies-Irae-Motiv klingt an. Sechste Einstellung: Lichte<br />

Walzerfetzen erinnern an das einstige Glück. Die Melodie hat sich<br />

aufgelöst wie die Ehe.<br />

Deskriptiv und psychologisierend ist auch die Musik von Miklós<br />

Rózsa zu Billy Wilders Das verlorene Wochenende (1945). Eine<br />

zirpende Violine ahmt die Laute der Mäuse nach, die der Trinker im<br />

Delirium zu sehen glaubt. Solche Eindringlichkeit ist selten. Meist<br />

ist Filmmusik reines „Illustrationsmaterial“, auch die bereits komponierte.<br />

Im Spiritismus-Schinken Der Exorzist (1972) gibt’s Musik<br />

von Webern, Penderecki und Henze, frei nach J. S. Bach: Wo immer<br />

der Böse die Hand im Filmspiel hat, dort ist „ein teuflisch Geplärr<br />

und Geleier“, wo immer der Gute, da schwelgt das Orchester.<br />

Ausnahmen bestätigen die Regel: Kunstvoll verzahnt Stanley<br />

Kubrick in Barry Lyndon die Duellszenen mit Händels Sarabande<br />

d-Moll. In Wilders Boulevard der Dämmerung erscheint die alternde<br />

Diva zu Bachs d-Moll-Toccata; die Musik unterstreicht einstige,<br />

unwiederbringliche Pracht. Mit Wagners Walkürenritt<br />

ziehen amerikanische Soldaten in<br />

Apokalypse now in den Vietnam-Krieg.<br />

Meist bedient sich Filmmusik der Standardvokabeln.<br />

Beethovens Für Elise steht für<br />

kleinbürgerliche Enge, ein Wiegenlied für<br />

Muttergefühle, Spieldosenmusik für amerikanische<br />

Weihnacht, Trompeten für die Helden,<br />

Oboen-Lieblichkeit für ländliche Atmosphäre,<br />

Blues auf verstimmtem Klavier für liederliche<br />

Kneipenstimmung, behäbige Streicherpracht<br />

plus Cembalo für aristokratisches Milieu. Horror,<br />

wenn die Kontrabassklarinette klingt. Und<br />

die Stille? Meisterhaft setzt Ennio Morricone sie<br />

in Spiel mir das Lied vom Tod ein, zwischen<br />

schwelgerischen Orchesterpassagen<br />

und dem berühmten Mundharmonika-Motiv.<br />

Heute aber dominiert die volle<br />

Dröhnung, wie Hans Zimmers „Wall-to-<br />

Wall Score“-Methode: Ein Großteil des<br />

Films wird mit Musik unterlegt. Zimmer<br />

weiß sich zu vermarkten – jedenfalls besser<br />

als György Ligeti, dessen Werke ohne<br />

sein Wissen in Kubricks 2001: Odyssee<br />

im Weltraum „verarbeitet“ wurden.<br />

Ligeti hatte nichts dagegen, wäre aber<br />

gerne dafür honoriert worden. „Sie werden<br />

ihren Prozess in Frankfurt, Wien<br />

und London gewinnen“, schrieb ihm seinerzeit<br />

MGM zynisch. „In Los Angeles<br />

aber können wir ihn 20 Jahre dauern lassen.<br />

Wollen Sie lieber jetzt 1.000 Dollar?“<br />

Schließlich bekam er 3.000 Dollar.<br />

Einen Blick in die harten Arbeitsbedingungen<br />

gab bereits Roland-Manuel<br />

1947: Filmmusik-Komponisten werden<br />

wie „Maler“ bestellt, „um Ausbesserungsarbeiten<br />

in einer (fertigen) Wohnung<br />

durchzuführen“. Dann „sieht sich der unglückliche Musiker, versehen<br />

mit einer Stoppuhr, begleitet von einer mitleidvollen Cutterin,<br />

einem heillosen Durcheinander gegenüber, dem Rohschnitt des<br />

Films“. Der Regisseur gibt zu verstehen, „der Sonnenaufgang am<br />

Anfang der dritten Filmspule“ funktioniere nicht, „eine ausdrucksvolle<br />

Sinfonie von 20 Sekunden Länge“ müsse her. Dann noch ein<br />

schönes Cello-Solo, um eine missratene Szene zu retten. Telefonisch<br />

werde man ihm die endgültige Länge der Sequenzen mitteilen.<br />

„Acht Tage und acht Nächte sitzt unser Mann an 40 Minuten Musik<br />

… unterbrochen von Telefonanrufen der Cutterin, die ihm mitteilt,<br />

dass der Vorspann nun doch länger werde … dass die eine Sequenz<br />

von Rolle 7, für welche die Musik schon fertig ist, … unter den Tisch<br />

falle.“ Dann hört der Komponist lange nichts, bekommt eines Tages<br />

eine Einladung zur Filmpremiere. „Dort ist die Überraschung hart<br />

… Das Geräusch des Krans überdeckt die Musik, die ursprünglich<br />

den Lärm der Stadt nachzeichnen sollte … Die ursprünglich für<br />

das Shakespeare’sche Theater geschriebene elisabethanische Musik<br />

wurde dem Streit im Postamt unterlegt: charmanter Einfall des<br />

Regieassistenten … Noch vor dem Ende der Vorführung ergreift der<br />

Komponist die Flucht.“ Kein einfacher Beruf also. Und dann noch<br />

der Spott. „Wo soll denn um Himmels Willen mitten auf dem Ozean<br />

In Spiel mir das Lied vom Tod wird Stille, in<br />

Citizen Kane musikalische Auflösung zum<br />

Stilmittel<br />

Musik herkommen?“, lästerte Hitchcock, als er eine Szene auf See<br />

inszenierte. <br />

■<br />

58 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>

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