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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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K Ü N S T L E R<br />

Als die Schlagzeugerin das erste Mal mit Percussion in Kontakt<br />

kam, war ihr Hörsinn bereits stark beeinträchtigt. In den folgenden<br />

Jahren ging er immer mehr zurück. Anfangs stellte Evelyn Glennie<br />

die Musik immer lauter, um über ihre Hörgeräte noch möglichst<br />

viel von ihr zu erhaschen. Bis ihr Percussionlehrer sie eine völlig<br />

andere Wahrnehmung von Musik lehrte. Damals bat er Glennie,<br />

ihre Hörgeräte abzunehmen und<br />

die Hände auf die Wände des<br />

Unterrichtszimmers zu legen.<br />

Dann spielte er Pauke und Glennie<br />

sollte sich darauf konzentrieren,<br />

was sie fühlte. Nach und nach<br />

begann sie, die Musik an ihrem<br />

gesamten Körper zu empfinden –<br />

in den Beinen, dem Bauch, dem<br />

Nacken, vibrierend, pulsierend und<br />

unmittelbar. Für Evelyn Glennie<br />

war das ein Schlüsselmoment: „Ich<br />

habe mit einem Mal gemerkt: Ja,<br />

ich kann Klang wirklich spüren!<br />

Da habe ich verstanden, dass der<br />

wichtigste Teil des Klangs nicht der<br />

Anschlag ist, sondern die Resonanz.“<br />

Schien die Musik zuvor mit<br />

zunehmender Taubheit immer weiter<br />

von ihr wegzurücken, hatte<br />

Glennie mit einem Mal einen<br />

neuen, direkten Zugang zu ihr entdeckt.<br />

Bald legte sie ihre Hörgeräte<br />

ab und konzentrierte sich ganz auf<br />

das spürende Hören. Als wäre jede<br />

Pore auf Empfang gestellt, schulte<br />

sie sich in der Wahrnehmung der<br />

Resonanz von Klängen. „Ich habe<br />

meinen Körper als riesiges Ohr<br />

entdeckt“, schildert Glennie. Nie<br />

zweifelte sie daran, Schlagzeugerin<br />

werden zu können. „Wenn ich<br />

nicht hören könnte, könnte ich<br />

keine Musikerin sein“, bemerkt<br />

Glennie schlicht. Mehr gibt es dazu<br />

aus ihrer Sicht nicht zu sagen.<br />

Entsprechend vehement hat<br />

sich Glennie seit jeher gegen eine<br />

Vermarktung als taubes Wunderkind und bestaunenswerte Attraktion<br />

auf der Bühne gewehrt. Das beste Mittel gegen die Sensationsgier<br />

der Menge war und ist bis heute ihr Spiel: Direkt und spannungsvoll,<br />

ungemein energiegeladen und mit prickelnder Präzision<br />

erschafft Glennie an ihren Instrumenten ein farbenreiches Gesamtkunstwerk,<br />

das die Hörer sinnlich und rauschhaft in den Bann zieht.<br />

Erlebt man Glennie auf der Bühne, erübrigen sich alle Fragen und<br />

Zweifel und man begreift: Wer wirklich hören will, muss fühlen!<br />

Jene Musikerin, die ihre Karriere einst im schottischen Nordosten<br />

auf der Snare Drum begann und die in den 1980er-Jahren<br />

noch gegen einigen Widerstand an der Royal Academy of Music in<br />

London aufgenommen wurde, hat heute alles erreicht: Sie hat einen<br />

Grammy und zahlreiche weitere Preise gewonnen, wurde in den<br />

britischen Adelsstand erhoben und mit 15 Ehrendoktorwürden von<br />

britischen Universitäten geehrt. Sie besitzt eine riesige Sammlung<br />

mit über 2.000 Instrumenten und ist als erste Vollzeit-Solo-Percussionistin<br />

der Welt gefragter denn je. Als wagemutige Pionierin leitet<br />

Glennie bei all ihren Projekten, ob solistisch oder kammermusikalisch,<br />

ob in der Klassik oder im Jazz, die pure und sinnliche Freude<br />

am vibrierenden Klang. „Ich mag dieses Gefühl sehr: neugierig um<br />

„STILLE IST EINE FANTASTISCHE SACHE,<br />

DIE ALLE MÖGLICHEN EMOTIONEN IN<br />

SICH TRÄGT“<br />

die nächste Ecke zu gucken oder die nächste Tür zu öffnen und<br />

gespannt zu schauen, was sich dahinter verbirgt und was es alles für<br />

Möglichkeiten gibt.“ Vor Kurzem hat Glennie eine neue Tür in<br />

ihrem Leben geöffnet und zusammen mit dem Gitarristen Jon<br />

Hemmersam, dem Geiger Szilárd Mezei und dem Pianisten Michael<br />

Jefry Stevens das „Core-tet Project“ gestartet und ein Improvisationsalbum<br />

aufgenommen. Außer<br />

Hemmersam kannte Glennie vorher<br />

keinen der Musiker, und doch<br />

begann die Kraft der Musik von<br />

Beginn an zu wirken: „Wir haben<br />

uns einfach hingesetzt und angefangen“,<br />

erzählt Glennie. „Wir<br />

haben nichts diskutiert, wir haben<br />

einfach nur gespielt.“ Das Ergebnis<br />

ist ein experimentelles und vielfarbiges<br />

Album, das stilistische Grenzen<br />

spielerisch außer Kraft setzt.<br />

Mal wild und abenteuerlustig, mal<br />

zärtlich lauschend durchforsten die<br />

vier Musiker improvisatorische<br />

Welten und locken neue, nie zuvor<br />

gehörte Klänge hervor.<br />

Evelyn Glennie hat hörbar<br />

ihren eigenen Platz im Kosmos der<br />

Vibrationen gefunden. Längst sind<br />

es nicht mehr nur ihre einzigartige<br />

Präsenz im Spiel und ihre fesselnde<br />

Ausdruckskraft, die die Musikwelt<br />

bereichern. Vielmehr inspiriert<br />

Glennie mit ihrer umfassenden<br />

Musikalität und Sinnlichkeit dazu,<br />

das eigene Verständnis von Musik<br />

zu überdenken und scheinbar<br />

FOTO: PHILIPP RATHMER<br />

selbstverständliche Wahrnehmungsmuster<br />

infrage zu stellen.<br />

Wie nehmen wir Melodien, Harmonien<br />

und Rhythmen wirklich<br />

wahr? Welche Rolle spielen unsere<br />

Ohren? Und ab welchem Moment<br />

sprechen wir eigentlich von Musik?<br />

„Wenn wir zum Beispiel nur die<br />

erste Note von Beethovens 5. Sinfonie<br />

spielen – ist das nun Musik<br />

oder ist das Klang? Es ist immerhin die erste Note von Beethovens<br />

5. Sinfonie!“, gibt Evelyn Glennie zu bedenken und lacht. Für sie ist<br />

eine Unterscheidung irrelevant. Wirklich wichtig ist ihr das intensive,<br />

ganzheitliche Hören – jene menschliche Fähigkeit, die Musik<br />

erst möglich macht. Dabei geht es nicht nur um die Wahrnehmung<br />

von Tönen. „Die größte Herausforderung in unserem heutigen<br />

Leben ist es zuzuhören“, beobachtet Glennie. „Wir müssen einander<br />

zuhören lernen. Das heißt nicht zwingend, einem Klang zuzuhören,<br />

sondern präsent und achtsam zu sein und sich selbst und die anderen<br />

Menschen wirklich wahrzunehmen.“<br />

Und was hat es dabei mit der Stille auf sich? „Stille ist ein<br />

Klang“, sagt Evelyn Glennie, „und ich denke, man kann sich ihm<br />

annähern. Dieser Klang kann nervös sein oder einsam, friedvoll<br />

oder dunkel, traurig oder glücklich. Stille ist eine fantastische Sache,<br />

die alle möglichen Emotionen in sich trägt. Sie ist<br />

ein wichtiger Klang, den wir alle respektieren sollten.“<br />

■<br />

„The Core-tet Project“, Evelyn Glennie, Jon Hemmersam, Szilárd Mezei,<br />

Michael Jefry Stevens (Naxos)<br />

<strong>18</strong> w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>

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