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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

MUSIK-WELTBÜRGER<br />

Opernruhm, politischer Widerstand und musikalische Vielfalt –<br />

zum 100. Geburtstag von Gottfried von Einem.<br />

Am 24. Februar wäre er 100 Jahre alt geworden: Gottfried<br />

von Einem ist zwar ein geläufiger Name in der klassischen<br />

Moderne, doch wer kennt seine Musik? Allenfalls<br />

einige seiner Opern, allesamt rauschende Premierenerfolge,<br />

tauchen weiterhin auf den Spielplänen auf: Dantons Tod<br />

nach Büchner, Der Prozess nach Kafka oder Der Besuch der alten<br />

Dame nach Dürrenmatt. Dantons Tod, 1947 das erste Bühnenwerk<br />

überhaupt, das bei den Salzburger Festspielen uraufgeführt wurde,<br />

war lange Zeit die erfolgreichste Oper der Nachkriegszeit.<br />

Von Einem, 19<strong>18</strong> in Bern geboren, wuchs in Schleswig-Holstein<br />

auf und machte während des Dritten<br />

Reichs die ersten Schritte an die<br />

Öffentlichkeit. Als Korrepetitor unter<br />

Heinz Tietjen lernte er in Berlin<br />

zunächst das Opernhandwerk von der<br />

Pike auf, bevor er ab 1941 bei Boris Blacher,<br />

jenem großen Meister der inneren<br />

Emigration, privat Komposition studierte.<br />

Blacher vermittelte ihm nicht nur<br />

strukturelle Ausrichtung innerhalb des<br />

Metiers, sondern endlich auch eine klare<br />

ethisch-politische Orientierung. Man<br />

hörte gemeinsam die „Feindsender“<br />

und bewegte sich in Widerstandskreisen.<br />

Von Einems Mutter spielte virtuos<br />

auf der Klaviatur der Hochfinanz und<br />

Politik und bezahlte dafür zunächst – als<br />

„Mata Hari“ des Dritten Reichs verdächtigt<br />

– mit Gestapo-Haft und einem<br />

Todesurteil in Paris in Abwesenheit,<br />

nach dem Krieg dann mit langjähriger<br />

Gottfried von Einem<br />

Haft in Frankreich, bevor der Freispruch erfolgte. Bis zum Ende<br />

ihres Lebens leugnete sie, dass Gottfried von Einems leiblicher Vater<br />

der ungarische Graf László Hunyady war, der auf einer gemeinsamen<br />

Großwildjagd in Ägypten von einem Löwen zerrissen wurde.<br />

Nach dem Krieg war Gottfried von Einem Direktoriumsmitglied<br />

der Salzburger Festspiele und läutete dort eine neue Ära zeitgenössischer<br />

Musik ein. Wir verdanken ihm aber auch, dass Furtwängler<br />

Don Giovanni und Othello dirigierte. Er wehrte sich letztlich<br />

erfolglos gegen die totale Machtübernahme Karajans und des<br />

hedonistischen Kommerzialismus, da man ihn aus dem Direktorium<br />

warf, nachdem er sich für den „Kommunisten“ Bertolt Brecht<br />

eingesetzt und diesem einen österreichischen Pass verschafft hatte.<br />

Auch sein Plan, Brecht einen „Salzburger Totentanz“ als Ersatz für<br />

Hofmannsthals Jedermann schreiben zu lassen, wurde ausgehebelt.<br />

Doch umso steiler war in den 1950er-Jahren sein Aufstieg als Komponist,<br />

dessen Werke Dirigenten wie Karajan, Kubelík, Keilberth,<br />

Solti, Böhm, Sawallisch oder Mehta aus der Taufe hoben.<br />

Im Laufe der 1960er-Jahre wurde die Kritik von Seiten der<br />

Avantgardisten immer lauter. Man warf ihm – wie Schostakowitsch<br />

oder Britten – Rückständigkeit vor. Von Einem kümmerte sich nicht<br />

um Neider und Gegner und polemisierte<br />

gegen den Dilettantismus der dogmatischen<br />

Serialisten und Postserialisten. Jenseits seiner<br />

höchst wirkungsvollen Opern und der<br />

beiden kraftvollen Kantaten Stundenlied<br />

und An die Nachgeborenen schuf er großartige<br />

Orchesterwerke in einem extrem breit<br />

gefächerten, in seiner Gegenwärtigkeit,<br />

innig empfundenen Sanglichkeit und subtilen<br />

architektonischen Meisterschaft unverkennbar<br />

persönlichen Ausdrucksspektrum.<br />

Darunter sind neben vier Sinfonien Werke<br />

wie der Bruckner-Dialog oder die Orchestermusik<br />

op. 9 mit ihren wilden Kaskaden hervorzuheben.<br />

Seine knapp geformten Lieder<br />

sind wunderbar, und als Höhepunkte<br />

möchte ich seine fünf Streichquartette nennen.<br />

Gottfried von Einem war einer der<br />

feinsten Komponisten seines Jahrhunderts.<br />

Er starb 1996 in seiner niederösterreichischen<br />

Wahlheimat Oberdürnbach und<br />

wurde postum für die unerschrockene Rettung eines jüdischen Kollegen<br />

vor den Nazi-Schergen in Yad Vashem als „Gerechter der<br />

Völker“ verewigt. Die ernsthafte Beschäftigung mit dem zeitlosen<br />

Schaffen dieses musikalischen Weltbürgers,<br />

dessen mystische Oper Jesu Hochzeit von den<br />

Inquisitoren der katholischen Kirche diffamiert<br />

wurde, ist überfällig.<br />

n<br />

Gottfried von Einem: „Philadelphia Symphonie“,<br />

Wiener Philharmoniker, Franz Welser-Möst (Orfeo)<br />

FOTO: WERNER NEUMEISTER<br />

38 w w w . c r e s c e n d o . d e — Februar – <strong>März</strong> 20<strong>18</strong>

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