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CRESCENDO 1/18 Januar-März 2018

CRESCENDO - das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Sonya Yoncheva, Paavo Järvi, Evelyn Glennie und Gauthier Capuçon.

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In einem Studio in Berlin Kreuzberg arbeitet Taner Akyol. Auf<br />

seinem Schoß ruht eine Bağlama, die typische anatolische Langhalslaute.<br />

Taner Akyol ist nicht nur einer der besten<br />

Bağlamaspieler, sondern auch mehrfach ausgezeichneter Komponist,<br />

dessen Kinderoper Ali Baba und die vierzig Räuber 2012<br />

mit großem Erfolg an der Komischen Oper Berlin uraufgeführt<br />

wurde. 2017 spielte er in der Berliner Philharmonie mit seinem<br />

Trio zusammen mit dem legendären türkischen Pianisten Fazıl<br />

Say, der mit der Sängerin Serenad Bağcan seine Vertonungen türkischer<br />

Gedichte aufführte. Der Klang von Taner Akyols Instrument<br />

evoziert unvermeidlich orientalische Bilder aus Tausendundeiner<br />

Nacht. Dabei ist die Bağlama das wichtigste Begleitinstrument<br />

in der klassischen Musik des<br />

osmanischen Hofes und der türkischen<br />

und zentralasiatischen Volksmusik<br />

von Anatolien über Armenien<br />

und Aserbaidschan bis in den Iran.<br />

Für die Turkvölker, deren identitätsstiftende<br />

Traditionen mündlich<br />

überliefert und weitergegeben werden,<br />

ist die Bağlama vom Begleitinstrument,<br />

zu dem die traditionellen<br />

Geschichten und Gedichte gesungen<br />

werden, selbst zum Symbol für ihre<br />

Identität geworden. Der Klang der<br />

Bağlama ist im gesellschaftlichen<br />

Leben vieler Menschen bis heute präsent.<br />

Vor allem für die Aleviten, bei<br />

denen die Feier des Gottesdienstes<br />

nicht in der Moschee, sondern im<br />

Kreis der Familie vollzogen wird, ist<br />

die Bağlama als zentrales Element<br />

des Gottesdienstes und anderer Rituale<br />

selbst Teil der Familie. In Taner<br />

Akyols Studio hängt ein fast lebensgroßes<br />

Foto zweier Männer aus dem<br />

Jahr 1938. Sie halten sich an der Hand,<br />

Vater und Sohn. Kurz nach der Aufnahme<br />

verschwanden sie im Massaker<br />

von Dersim, getötet oder vertrieben.<br />

Solche Geschichten gibt es in<br />

vielen alevitischen Familien, und sie werden durch die traditionellen<br />

Lieder lebendig gehalten. Gerade in Deutschland, dem wichtigsten<br />

Exilland für viele Anatolier, hat deren Volksmusik eine<br />

besondere Aktualität. Der Klang der Bağlama steht somit auch für<br />

eine Parallelkultur. Viele Aleviten anatolischer Abstammung, die<br />

in Deutschland aufgewachsen sind, haben die Heimat und Kultur<br />

ihrer Eltern und Großeltern aus den alten Liedern kennengelernt.<br />

Wie bei vielen Volksmusiken gibt es auch für die Volksmusik<br />

der Turkvölker so gut wie keine schriftlichen Quellen. Erst in den<br />

letzten 30 bis 40 Jahren haben einige Musiker und Wissenschaftler<br />

begonnen, die Lieder aufzuschreiben und dazu Notationen entwickelt,<br />

die die Besonderheiten der Musik und der Spielweise der<br />

Bağlama wiedergeben und auch für Musiker nachvollziehbar<br />

machen, die nicht mit dieser Musiktradition vertraut sind.<br />

Die Lieder stammen von sogenannten Âşık, die je nach sozialer<br />

Lage verschiedene Aufgaben haben. Sie fungieren als Bewahrer<br />

und Übermittler der Tradition, Unterhalter und politische oder<br />

religiöse Führer. In der Ausübung all dieser Funktionen ist der<br />

Klang der Bağlama gegenwärtig, was dem Instrument eine Reihe<br />

von Beinamen eingebracht hat: Weggefährte, Waffe, Koran mit<br />

Saiten. Die Wichtigkeit des Instruments zeigt sich besonders in<br />

BAĞLAMA<br />

Die Bağlama ist die mittelgroße einer Gruppe<br />

von als Saz bezeichneten Langhalslauten, die vom<br />

Balkan bis nach Afghanistan verbreitet sind, insbesondere<br />

in der Türkei und in der armenischen,<br />

iranischen, kurdischen, aserbaidschanischen und<br />

afghanischen Musik. Die Bağlama hat sechs bis<br />

sieben Saiten, die in drei „Chöre“ zusammengefasst<br />

sind.<br />

seiner Bezeichnung als Saz, was im Persischen einfach Instrument<br />

bedeutet. In der alevitischen Denkweise enthält Musik viele Elemente<br />

aus der Zahlenmystik und der religiösen Symbolik. Das<br />

zeigt sich zum einen in der Anzahl der Saiten: Viele Bağlama sind<br />

mit drei Chören zu je vier Saiten bespannt, ein Symbol für die<br />

zwölf Nachfahren des Propheten Ali, der wichtigsten religiösen<br />

Autorität der Schiiten und Aleviten. Die Symbolik reicht so weit,<br />

dass die Bağlama den Propheten Ali selbst verkörpert, wobei der<br />

Resonanzkörper ihn selbst und der Hals sein Schwert darstellt.<br />

Bereits in vorislamischer Zeit war die Kopuz, der Vorläufer der<br />

Bağlama, ein herausragendes Instrument der Turkvölker. Vorläufer<br />

der Kopuz verbreiteten sich im vierten Jahrhundert vor Christus<br />

aus dem damaligen Turkestan<br />

über China in weitere von Turkvölkern<br />

besiedelte Gebiete. Aus diesem<br />

Instrument, das einen Korpus aus<br />

Leder hatte, mit Darmsaiten bespannt<br />

war und ohne Bünde gespielt wurde,<br />

entwickelte sich im 17. Jahrhundert<br />

die Bağlama. Der Name, der „gebunden“<br />

bedeutet, leitet sich wahrscheinlich<br />

davon ab, dass das Instrument<br />

mit der Einführung von Stahlsaiten<br />

und einem Holzkorpus auch mit<br />

durch Angelschnur befestigten Bünden<br />

versehen wurde. Die Bağlama<br />

besteht aus einem halbbirnenförmigen<br />

Korpus, einem langen Hals und<br />

FOTO: TANER AKYOL<br />

dem Wirbelkasten. Sie wird in verschiedenen<br />

Größen hergestellt, die<br />

jeweils einen eigenen Namen haben:<br />

die kleine Cura, die Standardform<br />

Bağlama und die große Meydan Sazı.<br />

In neuerer Zeit werden auch<br />

Bassbağlamas gebaut, um Ensemblemusik<br />

nach westlichem Vorbild spielen<br />

zu können. Die Bağlama ist meistens<br />

mit dreichörigen Stahlsaiten<br />

bezogen. Die Anzahl der Saiten variiert<br />

dabei je nach Stimmung und<br />

Größe des Instruments. Sie wird entweder<br />

mit einem Plektrum gespielt oder mit den Fingern nach der<br />

Şelpe-Spielweise gezupft.<br />

Der besondere Klangcharakter des Instruments und der<br />

damit gespielten Musik kommt neben der Bauart und Spielweise<br />

der Bağlama vor allem von den besonderen Tonskalen, auf denen<br />

diese Musik beruht. Die zur Verfügung stehenden Intervalle dieser<br />

Skalen sind feiner unterteilt als das Tonmaterial der westlichen<br />

Musik, sie entsprechen ungefähr Vierteltönen. Die klassische<br />

osmanische Kunstmusik, die an den Höfen entstand, kennt 600<br />

dieser sogenannten Maqam-Skalen. In der Volksmusik kommen<br />

nur sechs solcher Skalen zum Einsatz.<br />

Heute nimmt sich eine Generation jüngerer Komponisten,<br />

teilweise türkischstämmig, aber auch immer mehr westliche, der<br />

Bağlama an und komponiert für dieses Instrument. Die Bedingung<br />

eines Kompositionswettbewerbs, der 2008 von der Zeitgenössischen<br />

Musikstiftung Brandenburg ausgeschrieben wurde,<br />

war die Verwendung der Bağlama als Soloinstrument. Seit 2015 ist<br />

eine Teilnahme bei „Jugend musiziert“ mit diesem Instrument<br />

möglich, und seit 2016 gibt es die Möglichkeit zum Studium der<br />

Bağlama als Hauptinstrument für Lehramt an der Universität der<br />

Künste Berlin.<br />

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