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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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M U S I K & M O D E<br />

WOHER KOMMT<br />

EIGENTLICH ...<br />

... der Begriff „Mendelssohns Auge“ ?<br />

VON STEFAN SELL<br />

Johann Peter Lysers<br />

Zeichnung „Beethoven<br />

in Straßenkleidung“<br />

Ein hervorwachsendes Indiz auf dem Barometer<br />

von Mode und Musik sind die<br />

„Antennen der Seele“ – unsere Haare. Dazu<br />

gehört nicht nur die jeweilige Frisur, sondern<br />

auch die jeweils bevorzugte Kopfbedeckung<br />

bzw. der Kopfschmuck. In den Anfängen, als noch<br />

ausschließlich auf Knochenflöten, Tierpanzern,<br />

Felltrommeln und Musikbögen musiziert wurde,<br />

war die Haarmode ganzkörperlich. Später, als das<br />

meiste davon sich auf die Kopfregion zurückzog,<br />

wurde – ob lang oder kurz, gewellt oder gelockt,<br />

zerzaust oder verlaust – aus Haaren Frisur. So<br />

konnte das Haar von Frauen sich lust- und kunstvoll<br />

getürmt zu Schiffsmasthöhe aufschwingen,<br />

um samt Takelage und gesetzten Segeln durch die<br />

Salons des Rokoko zu ziehen. Im Barock waren<br />

Perücken en vogue.<br />

Bach kennen wir gar nicht ohne, und allein<br />

für den Sonnenkönig in Versailles arbeiteten 40<br />

Perückenmacher. Glaubte Mann im Mittelalter, Frauen mit rotem<br />

Haar müssten Hexen sein, demonstrierte der Bubikopf in den 20ern<br />

emanzipierte Frauen. Es kamen der Rock ’n’ Roll und die Schmalztolle,<br />

die Beatles boten Pilzköpfe und die Flower-Power-Zeit ließ<br />

Haare wieder wachsen und gedeihen.<br />

<strong>19</strong>68 widmete sich das Musical Hair ausschließlich den Kopfsprösslingen.<br />

Es hieß: „Ich will mein Haar nicht vom Stahlhelm<br />

frisieren lassen.“ Und die Musik wurde zur Rebellion gegen Bürgertum<br />

und Führungsschicht in Zeiten des Vietnamkriegs. Soul<br />

und Disco erklärten den Afro-Look zur Mode. Der Punk brachte<br />

den vielfarbigen Irokesenschnitt, die 80er Föhnfrisur und Poppertolle.<br />

Neben Dauerwelle und Rasta-Locken präsentierten Musiker<br />

wie Limahl den „Vokuhila“ (vorne kurz, hinten lang). Und immer<br />

wieder gab es modische Kopfbedeckungen wie die Baseballkappe<br />

beim Hip-Hop.<br />

Welch vieltriebige Zweige und Blüten das modische Suchen<br />

und Finden, die Haarpracht zu schmücken, hervorbringen konnte,<br />

erzählt folgende Begebenheit – und sie muss eine ganz besondere<br />

Frau gewesen sein: „Donna Gißmunda Rosenlaub, die weltberühmte<br />

Putzmacherin par excellence“, wie die Leipzigerin seinerzeit<br />

gerühmt wurde, war sie doch modische Trendsetterin insbesondere<br />

im Bereich des Musiklebens. Unter der Rubrik „Amüsantes<br />

Kaleidoscop“ wurde am 5. Januar 1841 mit der Überschrift „Mendelssohns<br />

Auge, eine Haube“ in Adolph Friedrich Richters „Pannonia“<br />

annonciert: „Der berühmte Compositeur<br />

Felix Mendelssohn-Bartholdy ist in Leipzig in<br />

der Mode und so beliebt, daß eine Putzmacherin<br />

Namens Gißmunda Rosenlaub (sehr romantisch)<br />

neue Concert-Barets unter dem Titel Mendelssohns<br />

Auge ankündigt, die auch wie Lyser<br />

in ‚Ost und West‘ berichtet, bei den Leipziger<br />

Damen vielen Beifall finden.“ Es handelte sich<br />

dabei um einen extravaganten Kopfschmuck,<br />

der Konzertbesucherinnen einen zweifelsfrei eleganten<br />

Auftritt ermöglichte.<br />

Johann Peter Lyser, der hier als Garant für<br />

den Beifall der Leipziger Damen genannt wurde,<br />

war Dichter, Maler und Musiker. Bereits mit 18<br />

ertaubt, widmete er sich der Schriftstellerei und<br />

veröffentlichte 1830 seinen unvollendet gebliebenen<br />

Roman Benjamin. Ein Roman aus der<br />

Mappe eines tauben Malers. Er war mit Heine<br />

befreundet, und Mendelssohn stand ihm wohl<br />

so nah, dass der Lyser sogar von dessen Schuldenlast und aus der<br />

Schuldenhaft befreite. Verständlich, dass er sich nicht nehmen ließ,<br />

gleich nach Mendelssohn Tod einen biografischen Nachruf zu verfassen,<br />

worin eben auch benannte Haube auftaucht: „Er (Mendelssohn)<br />

war der Liebling in den höheren Kreisen, besonders bei den<br />

Damen so sehr in Gunst, daß die bekannte fantastische Leipziger<br />

Putzhändlerin Gißmunda Rosenlaub einen neuen Kopfputz in den<br />

Zeitungen unter der Benennung ‚Mendelssohn’s Auge‘ ankündigte,<br />

und damit die glänzendsten Geschäfte machte. Mendelssohn war<br />

der Erste, der mit uns über solche Starrheiten lachte ...“ (5.12.1847,<br />

„Wiener Sonntagsblätter“). Man könnte meinen, Mendelssohn hätte<br />

mit seinem Elias-Terzett „Hebe deine Augen auf“ Vorsorge treffen<br />

wollen, falls mal ein Wind den Damen die „Concert-Barets“ vom<br />

Haupte fegen sollte.<br />

Lyser war in Hinsicht dessen, was man damals trug, ein zuverlässiger<br />

Chronist, hinterließ er uns doch Zeichnungen von „Beethoven<br />

in Straßenkleidung“, „Paganini der Hexenmeister“ beim Violinspiel,<br />

„Wie Franz Liszt sich in Wien zum Festessen hergeben<br />

muss“, skizzierte einen „Jüngling à la mode“ oder karikierte einen<br />

schmucken Soldaten unter dem Titel „Mein treues Bildt seh ich im<br />

Spiegel“, dem dort ein Esel gegenübertritt. Interessant ist, dass dieser<br />

Lyser in Robert Schumanns „Neue Zeitschrift für Musik“ als<br />

Musikkritiker wirkte. Wie er das bei seiner Taubheit bewerkstelligte,<br />

bleibt wohl für immer ein Geheimnis der Musikgeschichte. n<br />

72 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>

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