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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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K Ü N S T L E R<br />

Produkt eines Klassikmarktes,<br />

der Heilsbringer inthronisiert<br />

und Laufstegkarrieren produziert.<br />

Valentina Lisitsa hat es<br />

selbst geschafft, indem sie mit<br />

entspannt unprätentiösen Videos<br />

den Nerv des globalen jungen<br />

Publikums traf und zum ersten<br />

YouTube-Klassikstar aufstieg,<br />

der dann für die Flaggschiffe der<br />

Major Companies interessant<br />

wurde. In diese attraktive Position<br />

hat sie sich selbst gebracht.<br />

Und so ist auch ihre selbstbewusste<br />

Unabhängigkeit zu verstehen:<br />

Sie hat sich zu keinem<br />

Zeitpunkt verbogen und ist weniger<br />

denn je bereit dazu – was<br />

durchaus auch Irritation erzeugen<br />

kann. Doch lässt sich handwerklich<br />

nicht bestreiten, dass sie<br />

zu den führenden Pianisten<br />

unserer Zeit gehört, dass sie auch<br />

dahingehend kein Produkt<br />

irgendeines Hypes ist.<br />

Valentina Lisitsa erscheint<br />

zum Interview, nachdem sie<br />

gerade die Kompletteinspielung<br />

aller unbestritten authentischen<br />

Soloklavierwerke von Tschaikowsky hingelegt hat. Eine Komplettaufnahme,<br />

die kompletter als ihre Vorgänger ist, wie etwa die von<br />

Viktoria Postnikova, indem sie auch all das enthält, was man bisher<br />

erstaunlicherweise nicht für der Mühe wert hielt. Denn Tschaikowsky<br />

ist – all seiner Beliebtheit zum Trotz – ein verblüffend<br />

schlecht erschlossenes Kapitel der Musikgeschichte. Die Klavierkonzerte<br />

werden nach wie vor in Bearbeitungen gespielt, nur wenige<br />

Werke sind wirklich populär, diese dafür umso mehr: die letzten<br />

drei Sinfonien, die drei großen Ballette und ihre Suiten, die Solokonzerte,<br />

Romeo und Julia, Capriccio Italien, die Ouvertüre 1812,<br />

die Streicher-Serenade, Souvenir de Florence, das Klaviertrio und<br />

ein paar Einzelsätze – aber wer kennt den Rest? Für das Interview<br />

kam Valentina Lisitsa am Nachmittag mit dem Zug aus Baden-Baden<br />

nach München und fuhr am Abend zurück nach Saarbrücken,<br />

um dort am nächsten Tag einen Meisterkurs zu geben. Und mitnichten<br />

strahlte sie professionelle Routine aus. Auch den Blick auf<br />

die Uhr überließ sie anderen.<br />

Was ist der Ausgangspunkt bei so einem Projekt wie dieser<br />

Tschaikowsky-Gesamtschau? „Bei Tschaikowsky wie auch bei Rachmaninow<br />

ist es, um die Musiksprache zu verstehen, notwendig, die<br />

Romanzen, also die Lieder kennenzulernen, ihre Vokalmusik, also<br />

wie der Komponist die Bedeutung der Worte mit der Musik zusammenbringt.<br />

Wie man bei Mozart die Opern, bei Schubert oder<br />

Brahms die Lieder kennen sollte. Nicht umsonst spricht man von<br />

der ‚Stimme des Komponisten‘, von der Art, wie er singt.“<br />

Bei der Sprachbarriere, die im Russischen auch noch zusätzlich<br />

eine Buchstabenbarriere ist, verwundert es nicht, dass das Wissen<br />

darüber nicht sehr verbreitet ist, und so übersetzt sie aus einem<br />

der Lieder, deren Text vom Komponisten selbst stammt:<br />

„Quäle mich, so viel du willst, aber bitte mit Liebe! […]<br />

Gibt es denn kein Mitleid in deinem grausamen Herzen? […]<br />

Töte mich, aber bitte liebe mich!“<br />

TSCHAIKOWSKY IST EIN VERBLÜFFEND<br />

SCHLECHT ERSCHLOSSENES<br />

KAPITEL DER MUSIKGESCHICHTE<br />

FOTO: GILBERT FRANCOIS<br />

Das erinnert an den Hit<br />

Cold as Ice von Foreigner, aber<br />

Tschaikowsky war der bessere<br />

Komponist. Er spricht so unmittelbar<br />

aus seinem Herzen zum<br />

Hörer, dass viele glauben, seine<br />

Musik sei einfach Äußerung von<br />

Emotion und Leidenschaft, und<br />

es genüge, sich mit entsprechender<br />

Leidenschaft in ihre emotionalen<br />

Aufwallungen hineinzustürzen.<br />

Sie lacht: „Das verstehen<br />

viele nicht. Er ging strategischer<br />

vor als alle anderen russischen<br />

Komponisten seiner Zeit, gerade<br />

auch als die Petersburger Nationalrussen.<br />

Alles ist ganz klar<br />

konzipiert und strukturiert, und<br />

es ist eben ein echtes Wunder,<br />

dass diese mächtigen Architekturen<br />

so mit Leben erfüllt sind,<br />

dass man von diesem Grundriss<br />

so leicht nichts wahrnimmt.<br />

Wodurch die klaren Proportionen<br />

und harmonischen Verbindungen<br />

unterbewusst wirken<br />

können.“<br />

Ob sie wohl ein Beispiel<br />

geben kann, wie sie sich den<br />

weniger bekannten Stücken angenähert hat? „Jaja, die Valse- Caprice<br />

op. 4 – ein recht umfangreiches Stück, es gibt keine Standards: Was<br />

mache ich damit? An einem Tag unterwegs hatte ich nur ein altes,<br />

verstimmtes Klavier zur Verfügung, das fast klang wie eine Gitarre.<br />

Und plötzlich offenbarte sich mir der Sinn des Stücks! Ich entdeckte<br />

die heute vergessene Tradition volkstümlicher russischer Romanzen<br />

mit Gitarrenbegleitung, zum Beispiel der großen Sängerin Antonia<br />

Neshdanova. Ein Klavier muss ein Orchester sein können, ein<br />

A-cappella- Chor oder eben auch eine Gitarre.“<br />

Und welche Musik auf ihrem neuen Album legt sie den Hörern<br />

nun am meisten ans Herz? „Unbedingt das Nussknacker-Ballett!<br />

Sergei Taneyev, Tschaikowskys großer Schüler und enger Freund,<br />

erhielt den Auftrag, einen Klavierauszug zu erstellen. Er versuchte,<br />

alles hineinzupacken, und schnell kamen die Klagen der Kunden<br />

wegen ‚Unspielbarkeit‘. Also erstellte Tschaikowsky daraus, was er<br />

eine ‚vereinfachte Fassung‘ nannte – es ist immer noch wirklich<br />

virtuose Musik, und zugleich zeigt es ganz klar, was dem Komponisten<br />

wichtig war. In dieser ‚Black and White‘-Version gibt es<br />

Abschnitte, die bereits wie Schostakowitsch klingen. Auch die<br />

Abschluss-CD mit den Arrangements von Märschen und Ouvertüren<br />

enthält echte Überraschungen. Aber das Herzstück des Ganzen<br />

sind die 18 Morceaux op. 72, die zwischen dem Nussknacker und<br />

der Pathétique entstanden sind und deren Rezeption seit jeher darunter<br />

leidet, dass Tschaikowsky selbst sie abwertend als ‚Brotarbeit‘<br />

bezeichnete, also eines Aristokraten unwürdig. Diese durchweg<br />

wunderbare Musik wird bis heute vollkommen ignoriert, außer<br />

Pletnev hat fast niemand sie als Ganzes im Konzert<br />

gespielt. Ich wünsche mir, dass mein Album<br />

viele Pianisten in aller Welt inspiriert, sich dieser<br />

Musik zu widmen.“<br />

n<br />

Tschaikowsky: „Complete Works for Solo Piano“, Valentina Lisitsa (Decca)<br />

30 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>

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