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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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H Ö R E N & S E H E N<br />

Unerhörtes & neu Entdecktes<br />

von Christoph Schlüren<br />

AUS DEM VOLLEN SCHÖPFENDE<br />

ANTI-ASKESE<br />

Historische und aktuelle Aufnahmen vergessener Meister,<br />

legendärer Vorbilder und unübertroffener Giganten.<br />

Am 5. April war der 150. Geburtstag von Albert Roussel.<br />

Kein Rummel wie um Debussy oder Ravel an vergleichbaren<br />

Tagen – stand er doch, zusammen mit<br />

Paul Dukas und Florent Schmitt, im Schatten dieser<br />

beiden Gallionsfiguren der französischen Musik im<br />

Umbruch zur Moderne. Doch Roussel war nicht weniger originell,<br />

seine Stimme ist unverkennbar, und sie hat ihre Wild- und Rauheiten,<br />

eine querständige Radikalität. Roussel verwandelte sich vom<br />

Impressionisten zum Meister dunkel gewandeter, kompromisslos<br />

organisch verwobener Sinfonik. Warner Classics würdigt das Jubiläum<br />

mit einer umfassenden Werkschau auf efl CDs, unter Mitwirkung<br />

großer Dirigenten wie Cluytens, Munch und Martinon.<br />

Der 100. Geburtstag von Henryk Szeryng, des großen polnischen<br />

Geigers und Kulturbotschafters seiner Wahlheimat Mexiko,<br />

war bereits im vergangenen September, und bei Universal sind sämtliche<br />

Philips-, DG- und Decca-Aufnahmen dieses Giganten in einer<br />

schmucken 44-CD-Box erschienen. Szeryng verkörperte zu Glanzzeiten<br />

unübertroffene geigerische Makellosigkeit und wurde mit<br />

seinem runden, vollen, intensiven Ton zum Vorbild einer Generation.<br />

Es lohnt unbedingt, seinen Brahms, Tschaikowsky, Khatschaturian<br />

oder Szymanowski zu hören, aber auch das Schumann-Konzert<br />

oder die Paganini-Konzerte. Größte Violinkunst, die später<br />

leider vom Alkoholismus eingetrübt wurde.<br />

Eine wunderbare Geigerin mit bestechend sachlich-expressiver<br />

Haltung war die Deutsche Edith Peinemann,<br />

der SWR Classic eine Retrospektive auf<br />

fünf CDs widmet, worunter besonders die fesselnden<br />

Aufnahmen der Konzerte von Pfitzner<br />

und Bartók (Nummer zwei) unter der Leitung<br />

von Hans Rosbaud he raus ragen. Wer Pfitzner<br />

unter optimalen Verhältnissen lauschen möchte,<br />

sollte hier unbedingt zugreifen. Auch die Kammermusik,<br />

mit Partnern wie Helmut Barth oder Maria<br />

Bergmann, ist exzellent ausgeführt, so etwa die<br />

c-Moll-Sonate Beethovens.<br />

Auf der jüngsten Zehn-CD-Anthologie<br />

Vol. IV von Jewgeni Mrawinski bei Profil (Hänssler)<br />

leitet der legendäre russische Maestro neben<br />

vielen Großartigkeiten (darunter Beethovens Sinfonien<br />

Nummer zwei bis sieben) auch drei Violinkonzerte, unter<br />

denen das erste von Schostakowitsch mit David Oistrach ein<br />

unübertroffener Klassiker, das Konzert von Boris Kluyzner mit<br />

Michail Vaiman eine wertvolle Repertoire-Ergänzung, das äußerst<br />

selten zu hörende a-Moll-Konzert des Armeniers Arno Babadschanjan<br />

von <strong>19</strong>48 mit Leonid Kogan jedoch eine Offenbarung ist, die<br />

jeder Geiger zur Kenntnis nehmen sollte.<br />

Auch im Bereich der Neuaufnahmen tut sich gelegentlich Epochales.<br />

Was Martyn Brabbins mit den vier hochkomplex strukturierten<br />

Sinfonien Michael Tippetts, die im Konzert bei allen Schönheiten<br />

unüberwindlich sperrig erscheinen können, anstellt, hat Anflüge<br />

einer Quadratur des Kreises, und in ihrer Souveränität und blitzschnellen<br />

Erfassung der wilden Kontraste lassen diese Aufnahmen<br />

Vorgänger wie Solti oder Colin Davis durchweg verblassen (Hyperion<br />

Records). Als Highlight gibt es dazu die Ersteinspielung der frühen<br />

Sinfonie in B von <strong>19</strong>34, der Nullten, die in ihrer geheimnisvoll schillernden<br />

Pracht wie ein Wegweiser von Vaughan Williams zu den<br />

Rituellen Tänzen des Sommernachtstraums anmutet.<br />

Eine andere, deftige Natur war der Amerikaner George Antheil<br />

(<strong>19</strong>00–<strong>19</strong>59), durch seine Autobiografie bekannt als „Bad Boy of Music“.<br />

Nach bilderstürmerischem Beginnen fand Antheil ab Mitte der<br />

<strong>19</strong>30er-Jahre, angeregt von der sowjetischen Sinfonik,<br />

zu einem anti-asketischen, hemmungslos aus dem Vollen<br />

schöpfenden Orchesterstil. Seine Sinfonien Nummer<br />

drei bis sechs, entstanden <strong>19</strong>36 bis <strong>19</strong>48, offenbaren<br />

ein weites Spek trum herrlich effektgeladener, aber auch<br />

logisch entwickelter Klangarchitektur, saftig orchestriert,<br />

oft wie ein amerikanischer Prokofjew, und<br />

sind das ideale Feld zur Kraftentfaltung für John<br />

Storgårds, den finnischen „wilden Mann“ am Pult<br />

des BBC Philharmonic (Chandos Records). n<br />

„Albert Roussel Edition“ (Warner) | „Henryk Szeryng. Complete<br />

Philips, Mercury and Deutsche Grammophon Recordings“ (Decca) |<br />

„Edith Peinemann. The SWR Studio Recordings <strong>19</strong>52–<strong>19</strong>65“ (SWR<br />

Classic) | „Yevgeny Mravinsky Edition“ Vol. IV (Hänssler) |<br />

Michael Tippett: „Symphonies 3 & 4, B flat“, Rachel Nicholls,<br />

BBC Scottish Symphony Orchestra, Martyn Brabbins (Hyperion) |<br />

George Antheil: „Archipelago, Symphony No 3. u.a.”,<br />

BBC Philharmonic, John Storgårds (Chandos)<br />

36 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>

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