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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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K Ü N S T L E R<br />

darunter 22 Sinfonien, vier<br />

Kammersinfonien, sechs Opern<br />

sowie Ballette, Film- und Zirkusmusik.<br />

„Auf der Suche nach<br />

Stücken für mein Ensemble<br />

machte ich Ausflüge in die Welt<br />

der unbekannten Musik. Weinberg<br />

war zu dem Zeitpunkt<br />

schon tot. Mittlerweile habe ich<br />

an die 15 Werke von ihm<br />

gespielt.“<br />

Zum 100. Geburtstag des<br />

Komponisten im Dezember hat<br />

Kremer zum ersten Mal die 24<br />

Präludien, die Weinberg für Rostropowitsch<br />

schrieb, in seiner<br />

eigenen Bearbeitung für Violine<br />

aufgenommen. „Die Musikwelt<br />

hat ihn lange Zeit stark unterschätzt.<br />

Zu seinem Geburtstag<br />

möchte ich ihm Gerechtigkeit<br />

widerfahren lassen.“ Warum Rostropowitsch das ihm gewidmete<br />

Werk nie aufgeführt hat, weiß Kremer nicht. Er selbst wurde erst<br />

durch andere Cellisten darauf aufmerksam. „Als ich dann hörte,<br />

dass eines der Präludien einen Bezug zu Schumann hatte, klickte<br />

es plötzlich bei mir. Ich beschloss, den Zyklus für Violine zu setzen.<br />

Damit ist ein neues Werk entstanden, das hoffentlich viele Geiger<br />

animieren wird, diese Musik zu spielen.“<br />

Auf einem kleinen abgelegenen Landgut im äußersten Osten<br />

Litauens hat Kremer die Präludien auf CD eingespielt. „Dieser Ort<br />

vermittelt die Intimität und Ruhe, die diese Musik braucht, um auf<br />

uns zu wirken.“ Wenn er den Zyklus im Konzert aufführt, werden<br />

dazu oft eindringliche Schwarz-Weiß-Bilder des litauischen Fotografen<br />

Antanas Sutkus an die Bühnenwand projiziert. „Es ist nicht<br />

einfach, beides miteinander in Einklang zu bringen“, erzählt er. „Die<br />

wunderbaren Fotos kommen und gehen, während ich weiterspiele.<br />

Sie sollen nicht von der Musik ablenken, sondern das Hörerlebnis<br />

intensivieren. Im Grunde geht es um Emotionen, die Töne und Bilder<br />

gleichermaßen auslösen können.“ Die Präludien und die Bilder<br />

sind als Brücke zu einer Welt gedacht, die es heute nicht mehr gibt.<br />

Das Projekt trägt daher den beziehungsreichen Titel „Preludes to a<br />

lost time“, in Anlehnung an Marcel Prousts literarisches Meisterwerk<br />

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Mitschnitt eines<br />

Konzerts im Gogol Center in Moskau ist in Paul Smacznys Filmporträt<br />

Gidon Kremer – Finding Our Own Voice zu sehen, das Accentus<br />

im Mai als DVD herausbringt.<br />

Die Gründe, warum Weinberg lange Zeit ein Schattendasein<br />

führte, sind vielfältig. Die Erfahrung von Flucht, Vertreibung und<br />

Verfolgung hat sein Leben tief geprägt. Im Dezember <strong>19</strong><strong>19</strong> in Warschau<br />

geboren, schrieb der Sohn eines Musikers seine ersten Stücke<br />

bereits als Jugendlicher und studierte am Konservatorium Klavier.<br />

Wegen seiner jüdischen Herkunft floh er bei Ausbruch des Zweiten<br />

Weltkriegs vor den Nazis in die weißrussische Stadt Minsk, wo er<br />

sich bei Wassili Solotarjow, einem Schüler von Nikolai Rimski-Korsakow,<br />

in Komposition ausbilden ließ. Als die Wehrmacht im Sommer<br />

<strong>19</strong>41 die Sowjetunion überfiel, rettete er sich nach Taschkent<br />

in Usbekistan. Seine Eltern und die jüngere Schwester, die in Polen<br />

geblieben waren, wurden im KZ ermordet.<br />

Als Dmitri Schostakowitsch auf Weinbergs Erste Sinfonie aufmerksam<br />

wurde, lud er den jungen Künstler <strong>19</strong>43 nach Moskau ein,<br />

wo er bis zu seinem Tod <strong>19</strong>96 lebte. Weinberg hatte ein enges Verhältnis<br />

zu seinem Mentor. Die düstere Grundstimmung, die Schostakowitschs<br />

Werke durchzieht, ist auch bei Weinberg zu spüren. Die<br />

Freundschaft zwischen ihnen habe immer wieder Anlass zu Missverständnissen<br />

gegeben, bedauert Kremer. „Oft hieß es, Weinberg<br />

„DIESE MUSIK BRAUCHT INTIMITÄT UND<br />

RUHE, UM AUF UNS ZU WIRKEN“<br />

FOTO: GIEDRE DIRVANAUSKAITE<br />

sei lediglich Schostakowitschs<br />

Schüler und ein zweitrangiger<br />

Komponist gewesen. Dabei<br />

spricht vieles dafür, dass sie sich<br />

gegenseitig beeinflusst haben.<br />

Das erkennt man beispielsweise<br />

bei Weinbergs Zehnter Sinfonie,<br />

die kurz vor Schostakowitschs<br />

14. Sinfonie entstand“, erklärt er.<br />

„Weinbergs Sinfonie wurde zwar<br />

ohne Sänger und Schlagwerk<br />

konzipiert, doch der Einsatz der<br />

Streichinstrumente ist ähnlich<br />

wie bei Schostakowitsch. Ich<br />

denke, dass sie Brüder im Geiste<br />

waren und dass sie das, was sie<br />

an der Realität störte, in ihre<br />

Musik hineinprojizierten.“<br />

Wie Schostakowitsch geriet<br />

auch Weinberg wegen seines<br />

Kompositionsstils ins Visier der<br />

sowjetischen Behörden. Ihm wurden „formalistische Tendenzen“<br />

vorgeworfen, weil seine Werke nicht der offiziellen Kulturdoktrin<br />

entsprachen. Um finanziell zu überleben, schrieb er Film- und Zirkusmusik.<br />

Weinberg wurde in der Sowjetunion nicht nur wegen<br />

seiner polnischen Herkunft diskriminiert. Er bekam auch antisemitische<br />

Kampagnen am eigenen Leib zu spüren. Sein Schwiegervater<br />

Solomon Michoels, Gründer des Moskauer Jüdischen Theaters,<br />

starb <strong>19</strong>48 bei einem Mordanschlag, den die Geheimpolizei als<br />

Autounfall inszeniert hatte. <strong>19</strong>53 wurde der Komponist unter dem<br />

Vorwand inhaftiert, sich für die Ausrufung einer jüdischen Republik<br />

auf der Krim eingesetzt zu haben. Der selbst vom Regime drangsalierte<br />

Schostakowitsch forderte in einem mutigen Brief die Freilassung<br />

des Freundes. Die Gefängnistore öffneten sich für ihn aber<br />

erst nach dem Tod Stalins einige Monate später. Einem größeren<br />

Publikum wurde Weinberg posthum bekannt, als die szenische<br />

Uraufführung seiner Oper Die Passagierin 2010 bei den Bregenzer<br />

Festspielen als Sensation gefeiert wurde.<br />

Gidon Kremer engagiert sich dafür, Weinbergs Musik in die<br />

Welt hinauszutragen. Zu seinem 70. Geburtstag und zum 20-jährigen<br />

Bestehen der Kremerata Baltica spielten Kremer und sein<br />

Ensemble 2017 alle Kammersinfonien Weinbergs sowie das Klavierquintett<br />

op. 18 mit der Pianistin Yulianna Avdeeva ein. Anfang Mai<br />

erscheint ein Doppelalbum, auf dem das City of Birmingham Symphony<br />

Orchestra unter Leitung seiner Chefin Mirga Gražinytė-Tyla<br />

gemeinsam mit der Kremerata zu hören ist. „Neben der Zweiten<br />

Sinfonie, einem Jugendwerk, haben wir die letzte vollendete Sinfonie<br />

mit dem Beinamen Kaddish aufgenommen. Ein unglaubliches<br />

Werk!“, schwärmt Kremer.<br />

Mit seinem Kammerorchester plant er in diesem Jahr noch<br />

eine Weinberg-Hommage, die mit visuellen Elementen verbunden<br />

ist. Im <strong>Juni</strong> wird diese Performance beim Holland Festival in Amsterdam<br />

ihre Weltpremiere erleben. Der Titel „Chronicle of Current<br />

Events“ ist eine Anspielung auf eine Zeitschrift, die in der Sowjetunion<br />

in den 70er-Jahren im Untergrund zirkulierte. „Bei der Aufführung<br />

werden wir Videos zeigen, die russische Künstler in Zusammenarbeit<br />

mit dem in Russland inhaftierten Regisseur Kirill Serebrennikow<br />

gemacht haben“, verrät Kremer. „Weinbergs Musik wird<br />

keine bloße Zuspielung zu den Bildern sein, sondern die Bilder<br />

werden unter dem Eindruck der Musik entstehen.<br />

Auch mit diesem Experiment wollen wir dazu beitragen,<br />

seinen 100. Geburtstag würdig zu feiern.“<br />

<br />

n<br />

Mieczysław Weinberg: „24 Preludes“, Gidon Kremer (Accentus)<br />

16 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>

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