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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart.
Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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M U S I K & M O D E<br />

FOTO: PATRICK SWIRC; FORSTER; ARNOLD PÖSCHL; WERNER KMETITSCH; BERND UHLIG; WOLFGANG RUNKEL; BARBARA AUMÜLLER<br />

<strong>CRESCENDO</strong>: Die Tragödie um Notre-Dame ...<br />

Was empfinden Sie?<br />

Christian Lacroix: Fatalismus. Es könnte auch ein<br />

Zeichen für Aufbruch sein. Die Zuversicht könnte wieder<br />

in unsere Seele, unseren Geist einziehen. In unserem Couture-Salon<br />

brach kurz vor der Eröffnung <strong>19</strong>87 Feuer aus, nachdem die<br />

Dekorations- und Malerarbeiten fertiggestellt waren. Heute bin ich<br />

der Meinung, dass dies eine Art „Reinigung“ war. Vielleicht braucht<br />

die katholische Kirche mit all ihren Skandalen auch einen Wiederaufbau.<br />

Notre-Dame war nicht unbedingt meine<br />

Kirche, und ich bin nicht so oft dort gewesen, ab und<br />

an zu den prächtigen Orgelkonzerten, die es dort jeden<br />

Samstag gab. Ich mag eher archaische, herbe, einfache<br />

Kapellen.<br />

Gar nicht herb: Ihr „Notre-Dame“, ein Hotel am<br />

Saint Michel, das Sie 2010 neu ausstatteten mit<br />

barocken, bunten und opulenten Stoffen. Das hätte<br />

wahrscheinlich auch dem Sonnenkönig Ludwig<br />

XIV. gefallen.<br />

Ich liebe den Ort mit dem herrlichen Blick auf die<br />

Seine und auf die Kathedrale. Für die Lobby fand ich<br />

sogar eine aus Holz geschnitzte Uhr aus dem <strong>19</strong>.<br />

Jahrhundert in Form einer Notre-Dame-Kathedrale!<br />

Woher der extravagante Geschmack, dieser Sinn für Opulenz?<br />

Vom exzentrischen Großvater vielleicht oder der Großtante, von<br />

der Sie eine Haarsträhne mit sich tragen?<br />

Wenn Sie nach ihnen fragen, bedeutet das, dass Sie bereits etwas<br />

über beide gelesen haben!!! Es gäbe so viel zu erzählen!! Beide<br />

waren sehr streng und fordernd, aber zugleich liebevoll. Durch sie<br />

bekam ich so etwas wie eine „Wirbelsäule“. Er war der Vater meiner<br />

Mutter, und sie war meine Tante. Sie hatten einen Sinn für natürliche<br />

Eleganz. Sie waren beide stolz, aber nicht nachtragend – stark<br />

und zart. Er hatte sehr viel Humor und führte am Sonntagabend<br />

immer eine Art Charade vor, indem er sich über aktuelle Dinge<br />

lustig machte mit Kostümen und Perücken vom Dachboden. Seine<br />

Anzüge hatten immer grünes Seidenfutter, und er ließ sein Fahrrad<br />

in Gold lackieren. Sie waren beide sehr mutig, vor allem meine<br />

Tante, die sich der Gestapo widersetzte. Mein Großvater weigerte<br />

sich, während des amerikanischen und englischen Bombardements<br />

im <strong>August</strong> <strong>19</strong>44, in den Bunker zu gehen. Er schaute sich die<br />

Christian Lacroix<br />

„Show“ lieber aus einer kleinen Höhle am Flussufer an und beobachtete,<br />

wie die Brücken zusammenstürzten, um dann die toten<br />

Fische einzusammeln. Ihr Haus war fast völlig zerstört. Dennoch<br />

wollte er, dass die Großmutter, die verzweifelt aus dem Bunker<br />

zurückkehrte, die Fische kochte. Möbel sollte sie verbrennen, um<br />

die elf Gäste zu bewirten, die er zum Abendessen eingeladen hatte.<br />

Die Familie väterlicherseits kam aus einer anderen Schicht. Man<br />

war sich nicht so nah, schätzte sich aber.<br />

Welche Rolle spielte die Musik?<br />

Ich hörte als Kind Beethovens Fünfte und natürlich<br />

Bizets Carmen, die Lieblingswerke der Südländer. Und<br />

das klassische Radioprogramm am Sonntagmittag. In<br />

der damals sehr berühmten Debatte um Maria Callas<br />

und ihre Rivalin Renata Tebaldi stand mein Großvater<br />

auf der Seite der Tebaldi. Auf mich aber hatte die<br />

Stimme der Callas tiefgreifenden Einfluss; wie auch<br />

Bachs Toccaten und Fugen und die Brandenburgischen<br />

Konzerte, der ganze Chopin. Aber auch englische<br />

Barockmusik wie Purcell, da Alfred Deller oft nach<br />

Arles kam, wo ich aufwuchs. Ich war fasziniert. Bis<br />

heute bedauere ich sehr, dass ich kein Instrument<br />

spielen kann. Aber ich fürchte, ich habe kein Ohr.<br />

Unvergesslich für mich, wie mein Großvater zu Weihnachten<br />

Gounods Ave Maria sang mit seiner damals sehr alten Mutter, die<br />

Tränen in die Augen bekam.<br />

Woher die Liebe zum Theater?<br />

Ich war immer auf der Suche nach etwas, was größer ist als das<br />

Leben. Ich war gelangweilt vom alltäglichen, normalen Leben,<br />

vielleicht hatte ich nur Angst davor. Ich bevorzugte die Illusion des<br />

Theaters, der Fantasie. Bücher, Musik, Stimmen – diese spirituelle<br />

andere Welt inspirierten mich. Filme übrigens auch. Ich war<br />

glücklich, wenn man mich ins Theater, ins Kino oder in die Oper<br />

mitnahm. Dort konnte man so viel Ungewöhnliches erleben.<br />

Jeder spricht von Individualität. Trotzdem laufen alle gleich<br />

herum. Warum?<br />

Viele koppeln Individualität an Egoismus oder Egozentrik. Dabei<br />

ist sie Freiheit. Doch dazu braucht man Charakterstärke. Soziale<br />

Medien haben einen erschreckenden Einfluss. Schüchternen und<br />

unsicheren Menschen wird ein Allerweltstil auferlegt, damit man<br />

ja nur im globalen Dorf bleibt. Wie in einer Sekte. Sneakers,<br />

62 w w w . c r e s c e n d o . d e — <strong>Juni</strong> – Juli – <strong>August</strong> 20<strong>19</strong>

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