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CRESCENDO 4/19 Juni-August 2019

CRESCENDO – das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Gidon Kremer, Augustin Hadelich, Benjamin Schmid und Maurice Steger.

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Chef ernannt und wird kommende Saison mit der Staatskapelle<br />

Dresden, dem Gewandhausorchester und dem Orchester des BR<br />

auftreten. Das Concertgebouw, das ihn einst wegen der sexuellen<br />

Übergriffe entlassen hat, gab kürzlich eine Pressemeldung heraus,<br />

dass man dem ehemaligen Chef danke, ihm viel Glück wünsche<br />

und dass man von nun an in die Zukunft und nicht in die Vergangenheit<br />

blicken wolle.<br />

Und auch nach der neuen Veröffentlichung im „Spiegel“ bleibt<br />

es weitgehend still. Keine der Hochschulen hat ernsthaft darüber<br />

nachgedacht, konkret zu handeln (einer der Professoren, dem<br />

sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, ist noch immer im Amt).<br />

Dabei gibt es immer mehr Stimmen von Opfern. Ich habe mich<br />

mit einem der Autoren des „Spiegel“-Texts unterhalten. Er hat mir<br />

Mails von weiteren Frauen weitergeleitet, die ähnliche Geschichten<br />

berichten. Es ist längst klar, dass sexuelle Übergriffe an unseren<br />

Hochschulen keine Einzelfälle sind. Dennoch gibt es keinerlei<br />

Codex an den Institutionen, durch den zumindest das Machtgefüge<br />

aufgehoben würde. Es wäre ein Leichtes, seine Lehrkräfte<br />

dazu aufzufordern, dass ihre Schüler, wenn sie in einem sexuellen<br />

Verhältnis zum Lehrer stehen, den Lehrer<br />

wechseln – um nicht in die Gefahr zu kommen,<br />

sexuell abhängig zu werden. Aber nichts davon.<br />

Stattdessen: Schweigen im Klassik-Wald. Aussitzen.<br />

Wegschauen. Weghören.<br />

Warum aber ist es so, dass wir besonders<br />

in der Welt der klassischen Musik mit sexuellen<br />

Übergriffen zu tun haben? Es scheint ein System<br />

zu sein, das Methode schafft. Das System der<br />

Klassik unterscheidet sich in vielen Dingen von<br />

anderen gesellschaftlichen Bereichen wie etwa<br />

dem Sport oder der Politik. Zum einen haben<br />

wir es noch immer mit dem uralten Mythos des<br />

Genies zu tun. Mit dem alten, bürgerlichen Glauben,<br />

große Kunst müsse unkonventionell sein, ein Genie könne nur<br />

dann kreativ sein, wenn es die Grenzen der Konventionen überschreitet<br />

– und dazu gehört für viele eben auch die erotische Freiheit.<br />

Eigentlich müssten wir im 21. Jahrhundert längst gelernt<br />

haben, dass der Geniekult des <strong>19</strong>. Jahrhunderts nur ein Mythos<br />

war. Jeden Tag beweisen große Künstler, dass man große Kunst<br />

auch mit demokratischen Mitteln erreichen kann, mit fairem Verhalten<br />

gegenüber seinen Mitkünstlern und, ja, vollkommen skandalfrei.<br />

Es ist höchste Zeit, dass auch wir als Publikum aufhören zu<br />

glauben, dass große Kunst nur von großen Arschlöchern gemacht<br />

werden kann.<br />

Eine weitere systemische Eigenheit der Klassik ist, dass ihr<br />

die Instanz einer wirklich kritischen und freien Presse weitgehend<br />

abgeht. Im Feuilleton spielt die klassische Musik kaum noch<br />

eine Rolle, und wenn, gibt es kaum noch einen Journalisten, der<br />

nicht in irgendeinem Abhängigkeitsverhältnis zu jenen Künstlern<br />

steht, über die er berichtet: Da ist die Einladung zu einer Konzertreise<br />

nach Abu Dhabi oder der Auftrag, ein Booklet oder ein<br />

Programmheft für einen Künstler oder ein Orchester zu schreiben.<br />

Keine Redaktion in Deutschland, nicht einmal die großer<br />

Zeitungen, ist noch in der Lage, einen Kritiker aus eigener Kasse<br />

nach, sagen wir, New York fliegen zu lassen. Meist werden diese<br />

Reisen von den Orchestern oder den Veranstaltern gezahlt. Freie<br />

und kritische Berichterstattung ist damit so gut wie ausgeschlossen.<br />

Hinzu kommt, dass die meisten Klassik-Journalisten nicht aus<br />

dem Journalismus kommen, sondern aus der Musik. Anders als im<br />

Sport oder in der Politik liegt damit der Fokus in der Regel nicht<br />

auf der sozialen Komponente der Kunst, sondern auf ihrer qualitativen<br />

musikalischen Umsetzung.<br />

SCHWEIGEN IM<br />

KLASSIK-WALD.<br />

AUSSITZEN.<br />

WEGSCHAUEN.<br />

WEGHÖREN<br />

Das, aber auch die Nischenkultur der Klassik, sorgt dafür,<br />

dass sowohl Hochschulen als auch Orchester und Theater Mikrokosmen<br />

sind, die kaum unter öffentlicher Beobachtung stehen, die<br />

es kaum noch gewohnt sind, sich für ihre staatlichen Subventionen<br />

öffentlich zu legitimieren, die weitgehend unter dem Radar<br />

der öffentlichen Kontrolle hindurchsegeln und die in der Regel<br />

mit eigenen, veralteten Hierarchien geführt werden. Kein Wunder,<br />

dass sich in dieser kleinen Welt, die ihre eigenen Helden hat,<br />

Strukturen etablieren, die kein Korrektiv mehr kennen. Es ist<br />

doch bezeichnend, dass sexuelle Übergriffe sogar an Musikhochschulen<br />

wie jener in Hamburg stattfinden, die nach außen eine<br />

besonders starke Gender-Fraktion haben und von liberalen Kräften<br />

geleitet werden. Aber wenn es um Forschungsgelder oder neue<br />

Aufträge geht, scheinen die eigenen Prinzipien über Bord geworfen<br />

zu werden.<br />

Und damit sind wir bei einem weiteren Merkmal der Klassik-<br />

Kultur: Während hochsubventionierte Klassik-Stars und Dirigenten<br />

(keiner von ihnen finanziert seine Abendgagen allein durch die<br />

Eintrittskarten) andauernd hofiert werden, als seien sie weltweite<br />

Superstars, glauben sie allmählich wirklich, dass<br />

sie unantastbar sind. Gleichzeitig zeigen die<br />

Erfahrungen der letzten Jahre, dass die Kulturpolitik<br />

weniger Interesse an den inneren Strukturen<br />

von Hochschulen, Theatern oder Orchestern<br />

haben als an der glamourösen Außenwirkung<br />

der Ensembles und ihrer Leiter. Oft ist es<br />

der Kulturpolitik wichtiger, eine schillernde<br />

Dirigenten-Persönlichkeit zu verpflichten, als<br />

sich die Mühe zu machen, die inneren Strukturen<br />

der Ensembles unter die Lupe zu nehmen.<br />

Doch genau an dieser Stelle scheint<br />

sich nun etwas zu tun. Während viele Theater,<br />

Orchester und Musikhochschulen noch in<br />

ihrem eigenen Saft schmoren, wird der Druck auf die Kulturpolitik<br />

durch die aktuelle Berichterstattung immer größer. Und so<br />

war es dann eben auch nicht die Leitung der Hochschulen, die die<br />

Beschwerden der Opfer ernst genommen hat, sondern die Politik.<br />

Und es ist das, was uns am Ende an der #MeToo-Debatte in der<br />

Klassik optimistisch stimmen könnte. Allmählich entsteht ein<br />

Bewusstsein, dass etwas nicht stimmt in der Welt, die uns eigentlich<br />

den Geist des Humanismus und der Menschenliebe eröffnen<br />

soll. Dafür aber ist es wichtig, dass auch wir als Publikum<br />

nicht wegschauen, dass wir als Journalisten dranbleiben, auch<br />

wenn Themen wie sexuelle Übergriffe der Schönheit der Kunst im<br />

Wege stehen. Dass wir aus der Welt der Klassik, und gerade aus<br />

der Welt der Oper, lernen, dass Madame Butterfly, Carmen, Tosca<br />

oder Salome eben keine Kunstfiguren sind, deren Schicksal sich<br />

erledigt hat, sobald der Vorhang gefallen ist, sondern dass sie auch<br />

dann unter uns sind, wenn wir das Theater verlassen.<br />

Wenn wir die Welt der klassischen Musik wieder in Ordnung<br />

bringen wollen, dürfen wir nicht wegschauen, uns nicht gelangweilt<br />

abwenden, keine Angst haben hinzuschauen und aufzuschreien<br />

– wir dürfen uns nicht einreden, dass die Musik als Wert<br />

an sich groß genug ist und wir uns nicht um die Bedingungen ihrer<br />

Produktion kümmern müssen. Das wäre so, als würden wir ein<br />

Schnitzel nach dem anderen in uns hineinstopfen, ohne zu fragen,<br />

woher es kommt. Gerade das Klassik-Publikum sollte sensibilisiert<br />

für jede Form der Ungerechtigkeit sein und in zahlreichen Konzerten<br />

und Opern gelernt haben, wie wichtig es ist, aufzustehen<br />

und Missstände anzuklagen – immer und immer wieder, bis sich<br />

die Strukturen geändert haben.<br />

■<br />

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