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CRESCENDO 2/18 März-Mai 2018

CRESCENDO - Das Magazin für klassische Musik und Lebensart. Interviews unter anderem mit Christa Ludwig, Philippe Entremont und Daniel Barenboim.

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K Ü N S T L E R<br />

MIT DEBUSSY AUF<br />

GEDANKENREISE<br />

Für Daniel Barenboim ist Claude Debussy ein verkanntes Genie. Wir sprachen mit dem<br />

Pianisten und Dirigenten über Impressionismus-Klischees und mächtige Vorbilder.<br />

VON CORINA KOLBE<br />

crescendo: Herr Barenboim, in<br />

dieser Saison dirigieren und<br />

spielen Sie viele Werke von<br />

Debussy. Zu seinem 100. Todestag<br />

widmen Sie ihm auch ein Klavieralbum.<br />

Wann haben Sie seine<br />

Musik kennengelernt?<br />

Daniel Barenboim: Als ich sehr<br />

jung war, spielte ich Children’s<br />

Corner. Ein Stück über Kinder, das eigentlich gar nicht für Kinder<br />

bestimmt ist. Damals habe ich mir auch einen Satz aus Estampes<br />

vorgenommen, nämlich Jardins sous la pluie, außerdem einige<br />

Préludes. Mit seiner Orchestermusik wurde ich erst später vertraut,<br />

als ich Chefdirigent des Orchestre de Paris war (1975–1989, Anm.<br />

der Red.). In der Zeit habe ich häufig Werke von Debussy aufgeführt.<br />

Gab es dafür Vorbilder?<br />

Durch Debussys eigene Aufnahmen seiner Klavierwerke auf<br />

Welte-Mignon-Rollen habe ich als Pianist viel gelernt. Fasziniert<br />

hat mich insbesondere der zweite Satz von Estampes, La soirée dans<br />

Grenade. Der Klang, die Dynamik und das Rubatospiel sind<br />

wunderbar. Aber bitte fragen Sie mich so etwas nicht, dann<br />

überlege ich, warum ich das überhaupt selbst aufgenommen habe?<br />

Auch Arturo Benedetti Michelangeli und Claudio Arrau waren<br />

große Debussy-Interpreten. Und wenn Martha Argerich Estampes<br />

spielt, zeigt sie eine ebenso große Kreativität und musikalische<br />

Empfindsamkeit wie der Komponist selbst.<br />

Sie kennen Martha Argerich seit Ihrer Kindheit in Buenos Aires<br />

und musizieren oft mit ihr.<br />

Gemeinsam haben wir so ziemlich alles gespielt, was es an<br />

Klavierwerken von Debussy gibt, Originalstücke und Bearbeitungen.<br />

Ende <strong>März</strong> treten wir bei den Festtagen der Staatsoper Berlin<br />

wieder zusammen auf. Natürlich steht Debussy auf dem Programm,<br />

unter anderem Six épigraphes antiques und Prélude à<br />

l’après-midi d’un faune für Klavier zu vier Händen und La mer auf<br />

zwei Klavieren.<br />

Welcher Dirigent hat Sie besonders beeinflusst?<br />

Die Begegnung mit Pierre Boulez war mir sehr wichtig. Er war ein<br />

analytischer Denker und sah das Moderne in Debussys Werken,<br />

ohne ihren Bezug zur Vergangenheit aus dem Blick zu verlieren.<br />

Von den Debussy-Dirigenten meiner Generation hat mich Claudio<br />

Abbado am stärksten beeindruckt. Für seine Aufführungen von<br />

La mer und La damoiselle élue habe ich ihn sehr bewundert. Der<br />

größte Meister aber war Sergiu Celibidache, er schien für diese<br />

Daniel Barenboim ist<br />

von Debussy fasziniert<br />

Musik geboren zu sein.<br />

Celibidache wurde auch als Interpret<br />

von Maurice Ravel geschätzt.<br />

Welche Verbindungen sehen Sie<br />

zwischen den beiden Komponisten?<br />

Viel mehr interessiert mich, was<br />

sie voneinander unterscheidet. Ich<br />

vermeide es, ihre Werke in einem<br />

Programm zusammenzubringen, denn dann würden sie mir zu<br />

ähnlich klingen. Man kann höchstens Ravels Boléro mit Ibéria von<br />

Debussy verbinden, aber das ist eine Ausnahme. Anders als Ravel<br />

war Debussy nicht besonders an Farben interessiert.<br />

Dabei wird Debussy oft als „Impressionist“ bezeichnet. Ist das<br />

ein unzutreffendes Klischee?<br />

Dieses Etikett ist falsch, denn in Wirklichkeit ließ er sich nicht von<br />

der Malerei inspirieren. Seine Fantasie wurde durch die Literatur<br />

und die Natur angeregt. Er hat einmal einen wunderbaren Satz<br />

gesagt, den ich immer wieder gern zitiere: „Wenn man sich keine<br />

Reise leisten kann, muss die Imagination einspringen.“<br />

Bei Debussy erlebt man nicht nur Gärten im Regen. Auch sonst<br />

spielt das Thema „Wasser“ bei ihm eine große Rolle.<br />

Dieser Aspekt fasziniert mich. Man braucht nur an La mer und<br />

Reflets dans l’eau aus der Sammlung Images I zu denken. Wasser<br />

oder Wind kommen bei ihm häufig vor, auch in einigen Préludes<br />

wie etwa La cathédrale engloutie und Le vent dans la plaine.<br />

Auf Ihrem neuen Album ist unter anderem das erste Buch der<br />

Préludes zu hören. Fiel es Ihnen schwer, eine Auswahl zu treffen?<br />

Nein, ich möchte schließlich für spätere Aufnahmen noch etwas<br />

übriglassen! In einem Konzert habe ich kürzlich auch Deux<br />

arabesques, zwei charmante frühe Stücke, sowie L’isle joyeuse<br />

gespielt. Ich bin ein sehr glücklicher Mensch, weil ich mich jetzt<br />

monatelang auf Debussy konzentrieren kann, als Pianist,<br />

Kammermusiker und Dirigent. Bei den Festtagen der Berliner<br />

Staatsoper führe ich mit Solisten, der Staatskapelle und dem<br />

Staatsopernchor die Bühnenmusik zu Le martyre de Saint<br />

Sébastien auf. Im <strong>Mai</strong> und Juni dirigiere ich das lyrische Drama<br />

Pelléas und Mélisande. Meiner Ansicht nach hat Debussy bisher<br />

nicht den Platz in der Musikwelt, den er<br />

verdient. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass<br />

mehr Werke von ihm gespielt werden. ■<br />

Claude Debussy: „Estampes, Clair de lune u. a.“, Daniel Barenboim<br />

(Deutsche Grammophon)<br />

FOTO: TILO KRAUSE / DG<br />

24 w w w . c r e s c e n d o . d e — April – <strong>Mai</strong> 20<strong>18</strong>

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