CREDIT SUISSE Bulletin_4.05 54 Rosmarie Michel: «Mikrokredite sind keine Sozialhilfe, sondern Wegweiser aus der Armut.»
Text: Markus Balogh Fotos: Thomas Eugster «Ich mache Geschäfte auf Augenhöhe» Rosmarie Michel liesse sich als die grosse Dame des Kleinstkredits bezeichnen. Im Interview erklärt die schlag fertige Zürcherin, warum ökonomische und soziale Rendite gut zusammenpassen. Bulletin: Holen wir ein bisschen aus: Wo liegen die Wurzeln Ihres Engagements? Rosmarie Michel: Ich komme aus dem Gewerbe. Ich habe vom ersten Tag an gewusst, woher das Geld kommt, mit dem meine Eltern das Essen auf dem Tisch bezahlen. Und mir wurde früh bewus st gemacht, dass es unterschiedliche Einkommen gibt und unterschiedliche soziale Schichten mit jeweils unterschiedlichen sozialen Problemen. Das Gewerbe liefert doch aber einen eher konservativen Hintergrund, den man spontan weniger mit sozialem Engagement assoziiert. Damit bin ich nicht einverstanden. Die Umgebung, in der ich aufgewachsen bin, mag wertkonservativ gewesen sein, trotzdem war sie auch sehr liberal. Und zu diesem liberalen Geist gehört die Vorstellung, dass Erfolg auch Verpflichtungen mit sich bringt. Wer ins Leben geht und es recht macht, der hat dafür zu sorgen, dass es seiner Umgebung auch recht geht. Hat dieser liberale Geist zu Ihrer damals für eine Frau alles andere als selbstverständlichen Karriere geführt? In meiner Familie haben Frauen seit Generationen wichtige Positionen. Meine Vorbilder waren erfolgreiche Unternehmerinnen. Und ich habe es als selbstverständlich angeschaut, dass ich die gleichen Rechte und Pflichten, aber auch Chancen und Möglichkeiten habe wie ein Mann. Erst als ich aus dem Umfeld meiner Familie herausgetreten bin, habe ich realisiert: Auf freier Wildbahn funktioniert das nicht so. Hatten Sie damals, in den Fünfzigerjahren, viele Widerstände zu überwinden? Weder in der Politik noch in der Wirtschaft waren Frauen angemessen vertreten. Das hat mir nicht gepasst – auf der anderen Seite gehöre ich nicht zu denen, die mit einer Fackel in der Hand protestierend durch die Strassen laufen. Ich war neugierig, wollte wissen: Wieso ist das so? Und ich habe mich nicht gescheut, diesen Umstand in Frage zu stellen. Daraus haben sich die nächsten Schritte dann wie von alleine ergeben. Welche Schritte waren das? Ich hatte eine gute Ausbildung und war voller Tatendrang. Im Alter von 25 Jahren habe ich die Präsidentschaft einer kleinen Organisation mit etwa 3000 Mitgliedern übernommen. Keine grosse Sache, aber ich hatte ein gewisses Mass an Verantwortung. Ich war dann aus eigener Anstrengung erfolgreich, hatte dazu ein bisschen Glück und bin immer wieder auf Menschen gestossen, die mich aktiv gefördert haben. Das alles hat sich zu einem glücklichen Kreislauf zusammengefügt. Ein Kreislauf, der Sie zur Organisation Women’s World Banking geführt hat? Stimmt. WWB wurde 1975 von Bankerinnen in New York gegründet. Diese Frauen wollten ihre sozialen Verpflichtungen durch mehr als Spenden an Hilfsorganisationen wahrnehmen. Sie hatten erkannt, dass Entwicklungshilfe am nachhaltigsten wirkt, wenn sie die Autonomie der Empfänger unterstützt, wenn sie die Fähigkeit fördert, selber zu handeln und dadurch Verantwortung wahrzunehmen. Der Begriff ist in der Zwischenzeit etwas abgenutzt, aber es ging auch damals schon um Hilfe zur Selbsthilfe. Wie sieht diese Hilfe konkret aus? Women’s World Banking hat Instrumente entwickelt, die den Bedürfnissen der Kunden in den Entwicklungsländern entsprechen. Zum Beispiel Kleinstkredite, Unterstützung in Sachen Marketing und Kurse in Entrepreneurship. Das Ziel war, lokale Zellen zu bilden, die die Kleinstkreditnehmer unterstützen. Um das CREDIT SUISSE Bulletin_4.05 Rosmarie Michel Leader 55 zu erreichen, hat man begonnen, gemeinsam mit grossen Organisationen Netzwerke aufzuziehen. Haben Sie dazu Zahlen? Schätzungen gehen von weltweit etwa 500 Millionen Mikrounternehmen aus – die meisten von ihnen sind Frauen. Nur rund zehn Prozent von ihnen haben Zugang zu Finanzdienstleistungen. Der grösste Teil der Mikrokredite wird an Frauen ausbezahlt. Warum? In vielen Entwicklungsländern wird das Basishandwerk von Frauen ausgeführt. Fischen, kleine Reparaturen ausführen, Lebens mit telverarbeitung und anderes mehr. Die meisten von ihnen haben aber keine eigenen Mittel und auch keinen Zugang zu Kapital. Sie sind die Ärmsten der Armen. Aber Männer sind in diesen Ländern doch auch arm? Aber meistens sind die Frauen noch ärmer. Der Mann hat meistens schon ein Einkommen – wenn es auch klein sein mag. Und er hat einfacher Zugang zu Finanzinstitutionen. So ist es halt einfach. Es geht also nicht darum, politische Strukturen umzukrempeln? Nein, es stehen ganz pragmatische Überlegungen dahinter. Zum Beispiel, dass wir aus unseren Statistiken ablesen können, dass Frauen die zuverlässigeren Geschäftspartner sind, termingerechter ihre Kredite zurück zahlen, dass sie ihre Investitionen sozial wirk samer tätigen und stärker an ihre Kultur und an ihren Standort gebunden sind als Männer. Wie viele Kunden hat WWB? Es sind ungefähr 18 Millionen. Allein das African Microfinance Network AFMIN hat in 20 afrikanischen Ländern fast 6 Millionen Kleinstkreditnehmer. >