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Gruess Gott - Herbst 2020

Wenn die Welt Kopf steht - Das Magazin über Gott und die Welt

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GOTT & DIE WELT<br />

WELT IN DER WAAGSCHALE<br />

Es markiert das Ende der Welt und soll Gerechtigkeit für alle bringen:<br />

das Jüngste Gericht. Aber was bedeutet es, wann kommt es – und kann<br />

man es essen? Eine Theologin, ein Richter und eine Köchin antworten.<br />

Das Jüngste Gericht als großes göttliches Abwägen<br />

über Gut und Böse am Ende der Zeit gab es schon<br />

im Alten Ägypten. In der christlichen Version kommt<br />

Jesus auf die Erde zurück und entscheidet, wer in<br />

den Himmel kommt gemäß ihres/seines Verhaltens.<br />

Es steht dafür, dass man all sein Tun und Handeln<br />

verantworten können muss vor einer höheren Instanz<br />

– als einzelner Mensch und als Gemeinschaft. Als<br />

Religionswissenschaftlerin stelle ich fest, dass diese<br />

Vorstellung nicht mehr sehr präsent ist. Die dominanten<br />

Vorstellungen von Glück und einem heilen Leben<br />

stellen heute vielmehr das Individuum mit seinen<br />

Bedürfnissen in den Mittelpunkt. Bei der Klimakrise<br />

unserer Tage merken die Menschen nun, dass eine<br />

Endzeit sich doch erschreckend nah anfühlen kann.<br />

Ich beobachte dabei, dass der Wunsch nach einer<br />

technischen Lösbarkeit im Zentrum steht, weniger<br />

die moralische Umkehr. Aber die ökonomische<br />

Wachstumsspirale hängt unmittelbar mit der Individualisierung<br />

und dem Glauben an eine „Machbarkeit“<br />

zusammen. Die offene Frage ist also, wie vereinzelte<br />

Individuen, die meinen, ihr Glück ganz für sich<br />

produzieren zu können, wieder zu einer Form der<br />

Gemeinschaft finden, die sich für ihr Handeln verantwortet<br />

und entsprechende politische Regeln aufstellt.<br />

Die Richterschaft hielt Seminar. Thema: das Richterbild.<br />

Zum Einstieg war die Benennung richterlicher<br />

Grundeigenschaften gefragt. Ein junger, noch<br />

brennender Kollege warf das Bestreben, „gerecht“<br />

zu urteilen, in die Runde. Diese reagierte befremdet.<br />

Einer drohte, sogleich zu gehen. Er habe die nutzlosen<br />

Diskussionen darüber, was „gerecht“ sei, satt.<br />

Erstaunlich: Alle Welt erwartet, bei Gericht<br />

Gerechtigkeit zu finden, aber die Richterschaft kann<br />

mit diesem Begriff nichts anfangen. Er entzieht sich<br />

nämlich einer allgemein gültigen Definition. Woran<br />

ist Maß zu nehmen? Die individuelle, soziale, religiöse,<br />

ideologische Prägung bringt den Einzelnen<br />

dazu, ein Urteil als gerecht oder ungerecht zu empfinden.<br />

Der pluralistisch-demokratische Richter<br />

entfernt sich zusehends von absoluten Standpunkten.<br />

Die eher undogmatische Abwägung, das Abgleichen,<br />

der gesellschaftlich verträgliche Kompromiss sind<br />

angesagt.<br />

Werden wir am Ende eines anderen belehrt? Vielleicht<br />

wird das Jüngste Gericht – so es uns erwartet<br />

– eine „Gerechtigkeit“ judizieren, die mit unseren<br />

einschlägigen Kategorien nichts gemein hat. Dann<br />

werden wir wirklich ein Seminar brauchen.<br />

ANNE KOCH, 49, ist Professorin für Interreligiosität an der<br />

Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz und<br />

Gastprofessorin an der Katholischen Privat-Universität Linz.<br />

WOLFGANG AISTLEITNER, 76, ehemaliger Richter in Linz,<br />

Autor und Spielleiter im Amateurtheaterbereich.<br />

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