BIBER 06_21 lr
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Dass sich die beiden locker miteinander unterhalten, sich
gegenseitig „Bruder“ nennen, und über ihre – paradoxerweise
gemeinsame - Vergangenheit sprechen, wäre vor einigen
Jahren noch undenkbar gewesen. Damals waren sie Rivalen
– nicht, weil sie persönlich was gegeneinander hatten, sondern
weil sie den verfeindeten Gruppen angehörten. Ob die Afghanen
oder die Tschetschenen „begonnen haben“? Das wissen
die beiden nicht, und es hat auch nie eine Rolle gespielt. Klar
ist, dass die Landesgeschichte beider Volksgruppen durch
Kriege geprägt ist. Kriege, vor denen sie nach Österreich
geflohen sind und nun meinen, ihren eigenen vermeintlichen
„Krieg“, wie er oft betitelt wird, auf Wiens Straßen austragen
zu müssen. „Das ist ja immer dasselbe Kräftemessen zwischen
den Afghanen und den Tschetschenen: Wer hat mehr Krieg
gesehen, wer ist stärker, wer ist ein Feigling? Und wir haben
uns als Jugendliche einfach verarschen lassen und sind da
reingeraten“, resümiert Magomed. „Man will sich behaupten
und sich nicht unterkriegen lassen. Da geht es nur um eines:
Wer ist stärker“, pflichtet ihm Navid bei.
„KLOPF NICHT AN
DIE GEFÄNGNISTÜR –
IRGENDWANN MACHEN
SIE DIR AUF.“
„Es handelt sich hier oft um junge Männer, die hier in Österreich
sozial marginalisiert und entwurzelt sind. Ihre Familiengeschichte
ist geprägt durch Krieg und Zerstörung. Und
Jugendliche gehen viel exzessiver damit um. Wenn die Gesellschaft
sie nicht annimmt, holen sie sich ihr Selbstwertgefühl
eben woanders“, so Soziologe Kenan Güngör. Jene, die dafür
empfänglich sind, würden sich laut Güngör bei jedem noch so
kleinen Knistern in ihrem Stolz verletzt fühlen und dann ginge
es darum, ihre Männlichkeit und Kampfbereitschaft zu beweisen.
„Dazu kommt noch der räumliche Konflikt: Diese Jugendlichen
hängen oft an denselben Orten ab, in Jugendzentren
oder in Parks. Es handelt sich auch um Revierstreitigkeiten,
darum, das eigene Revier zu markieren.“ Güngör merkt an,
dass die Gewaltkurve bei jungen Männern im Alter von 14-23
am höchsten sei, danach flache sie aber wieder ab. „Insgesamt
geht die Gewalt in Österreich zurück. Es fällt uns hier nur
so stark auf, da in unserer Gesellschaft Gewalt stark geächtet
wird.“ Dazu kommt laut Güngör noch die Tatsache, dass viele
Afghanen hier ohne ihre Familien nach Österreich kommen –
und hier durch ihre Peer-Gruppe in diese Konflikte gezogen
werden. Bei tschetschenischen Jugendlichen seien die Eltern
oft besorgt, aber auch machtlos.
„Die Tschetschenen waren zuerst da. Die sind aber mit
ihren Familien hier. Die können noch jemanden enttäuschen.
Wir Afghanen kommen oft alleine, ohne Eltern. Ich musste
schauen, wie ich zu Geld komme.“ Navid selbst ist mit als Kind
alleine aus Afghanistan zu Fuß nach Österreich gekommen
und ist hier schnell in falsche Kreise geraten. „Ich war aber
auch kein unbeschriebenes Blatt, bevor ich in diese Afghanen-
Tschetschenen-Sache reingeraten bin“, gibt Magomed zu, der
schon Jahre zuvor mit seiner Familie aus dem Tschetschenienkrieg
nach Österreich gekommen war. „Mein Vater hat mir
damals gesagt: Klopf nicht an die Gefängnistür – irgendwann
machen sie dir auf.“ Und genau das ist passiert – Magomed
landete für mehrere Monate im Jugendarrest. Schlägereien
und Anzeigen wegen Körperverletzung standen in seiner
Jugendzeit an der Tagesordnung.
„UNS WAR KLAR, DASS ES EIN
NACHSPIEL GEBEN WIRD.“
So auch beim Eklat 2016. Auslöser der Massenschlägerei
war ein Streit zwischen einem Araber und einem Afghanen.
Es kam zu einem verbalen Austausch, in dem sie gegenseitig
ihre Mütter beschimpft hatten. Daraufhin wollten die beiden
Jugendlichen Kräfte messen und haben sich zu einem Einsgegen-eins
in einem Park in Brigittenau verabredet. Zu dem
Zeitpunkt waren die Tschetschenen in der Überzahl, insgesamt
waren ungefähr 30 tschetschenische und zehn afghanische
Jugendliche vor Ort, die anfangs zugeschaut hatten. Der
Afghane gewann den Kampf. Das wiederum hat einem tschetschenischen
Freund des Unterlegenen nicht gefallen und ging
daraufhin auf einen anderen Afghanen los, brach ihm die Nase
und dann begann das Chaos. Über Whatsapp und Mundpropaganda
verbreitete sich schnell die Nachricht von der Massenschlägerei.
Immer mehr Jugendliche kamen hinzu. Der Kampf
ging in die zweite Runde.
Navid war gerade in der Millennium City, als er erfuhr, was
gerade los war. „Da gab es viel hin und her, irgendwann standen
dann ur viele Leute da.“
Und dann eskalierte der Konflikt komplett: Es flogen Fäuste,
Messer, Eisenstangen. „Einer von uns hat einen Messerstich
in die Lunge bekommen, und bei dem anderen wurde das
Herz knapp verfehlt. Die Afghanen sind abgehauen, bevor die
Polizei gekommen ist.“ Magomed und seine Freunde haben die
Schwerverletzten in ein nahegelegenes Jugendzentrum getragen.
Es gab keinen Gewinner und keinen Verlierer, die Anzahl
der Beteiligten auf beiden Seiten änderte sich laufend. Es
wurde schwer, die Übersicht zu bewahren. Auch für die Polizei.
„Uns war aber klar, dass es ein Nachspiel geben wird“, erklärt
Magomed. „Wir wollten das aber unter uns regeln.“
EIN „UNBETEILIGT“ GAB
ES AB DA NICHT MEHR
Vor allem deshalb, weil die Täter nur milde Bewährungsstrafen
erhalten hatten, und das, obwohl fast Menschen gestorben
sind, die an dem ursprünglichen Konflikt gar nicht beteiligt
waren.
Ein „unbeteiligt“ gab es ab dem Vorfall am Handelskai dann
aber nicht mehr: Du stehst entweder auf der einen oder auf
der anderen Seite. Die Gruppen stachelten sich immer weiter
an: „Meine Freunde und ich haben unsere Probleme früher
mit Fäusten geregelt. Das war unser Ehrenkodex damals.
Irgendwann habe ich mich in Wien durch diese ganze Szene,
in der ich war, aber nicht mehr sicher gefühlt und habe
mir eine Pistole besorgt, die ich immer dabei hatte, wenn ich
rausgegangen bin“, gibt Magomed zu. „Das war aus heutiger
Sicht komplett behindert, ich wäre für mein halbes Leben ins
Gefängnis gewandert, wenn man mich damit erwischt hätte“,
schüttelt er den Kopf. Eingesetzt hat er die Waffe nie. Er hat die
Kurve gekratzt, genau wie Navid.
Der Konflikt eskalierte komplett:
Es flogen Fäuste, Messer, Eisenstangen.
Bei beiden war ihre Religion, der Islam, ein Faktor, der sie
von ihren Fehlern weggebracht hat. „Gewiss, das Gebet hält
davon ab, das Schändliche und das Verwerfliche zu tun. Diese
Sure (29 Vers 45) aus dem Koran hat Navid damals zum Nachdenken
gebracht und ihn wieder auf die richtige Bahn geleitet.
So war es auch bei Magomed, der einen Hadith (anm. d. Red:
Hadithe sind Überlieferungen über die Lebensweise des Propheten
Mohammed) zitiert, auf den er sich bis heute bezieht:
„Der wahre Starke ist nicht derjenige, der im Zweikampf siegt,
sondern der, der die Kontrolle über sich selbst bewahrt.“
Aber in der Szene dreht sich das Rad immer weiter: Ehre,
Stolz und Kräftemessen stehen über jeglicher Vernunft. Zumindest
bei den Jugendlichen. Der afghanische Kulturverein hat
nach dem Eklat 2016 mit dem tschetschenischen Kulturverein
Kontakt aufgenommen. Es wurde versucht, zu deeskalieren,
den Jugendlichen klarzumachen, dass sie ein schlechtes Licht
auf ihre Volksgruppen werfen. Eltern haben mit anderen Eltern
versucht zu vermitteln. „Das war für uns aber nur Gelaber. Wir
wollten damals nicht auf die Älteren hören“, so Magomed.
Tatsächlich gibt es innerhalb der beiden Communities sogenannte
Streitschlichter, die gerufen werden, wenn es Konflikte
gibt, die unlösbar scheinen. Da geht es viel um die Perspektive
der Opfer und Wiedergutmachung durch Entschuldigungen,
aber auch Entschädigungszahlungen, wenn es beispielsweise
Arztkosten gibt. „Die Vorgehensweise ist eigentlich sehr nahe
an dem, was wir in Österreich als außergerichtlichen Tatausgleich
kennen“, so der Sozialarbeiter Reicher. „Um diesen
Konflikt zu lösen, müssen wir aktiv mit den Communities
zusammenarbeiten.“
Und das wünschen sich die Älteren in den Communities
auch: „Dieser Konflikt hat uns früher viele Sorgen bereitet, deshalb
haben wir versucht, dass sich die Jugendlichen auf eine
positive Art näher kommen“, erzählt Ghoussudin Mir, Vorstand
des afghanischen Kulturvereins AKIS. Gemeinsam mit dem
tschetschenischen Kulturverein Ichkeria wurden Sportveranstaltungen,
gemeinsame Essen und Gespräche mit Gelehrten
angeboten, bei denen sich die Jugendlichen von beiden
„Seiten“ begegnet sind. Aber Hussein Iskhanov von Ichkeria
weiß, dass das allein nicht ausreicht: „Wir dürfen aber keine
Zeit verlieren. Es wächst mittlerweile eine neue Generation
heran, die gute Vorbilder braucht und keine solchen, die ihnen
mit Beispielen wie Drogendealen und Schlägereien im Park
vorangehen“, so Iskhanov.
„DIESER KINDERGARTEN,
DEN WIR DA AUFGEFÜHRT
HABEN, BEREITET UNS BIS
HEUTE PROBLEME.“
Magomed aber ist sich sicher, dass die Jugendlichen, die
heutzutage in den Konflikt verstrickt sind, genauso wenig auf
die Erwachsenen aus ihren Communitys hören wollen: „Wenn
sie auf jemanden, der ihre Kultur oder das, was sie da glauben
zu repräsentieren, hören werden, dann auf uns. Und ich kann
nur sagen: Diese Scheiße wirkt sich negativ auf das restliche
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