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Dass sich die beiden locker miteinander unterhalten, sich

gegenseitig „Bruder“ nennen, und über ihre – paradoxerweise

gemeinsame - Vergangenheit sprechen, wäre vor einigen

Jahren noch undenkbar gewesen. Damals waren sie Rivalen

– nicht, weil sie persönlich was gegeneinander hatten, sondern

weil sie den verfeindeten Gruppen angehörten. Ob die Afghanen

oder die Tschetschenen „begonnen haben“? Das wissen

die beiden nicht, und es hat auch nie eine Rolle gespielt. Klar

ist, dass die Landesgeschichte beider Volksgruppen durch

Kriege geprägt ist. Kriege, vor denen sie nach Österreich

geflohen sind und nun meinen, ihren eigenen vermeintlichen

„Krieg“, wie er oft betitelt wird, auf Wiens Straßen austragen

zu müssen. „Das ist ja immer dasselbe Kräftemessen zwischen

den Afghanen und den Tschetschenen: Wer hat mehr Krieg

gesehen, wer ist stärker, wer ist ein Feigling? Und wir haben

uns als Jugendliche einfach verarschen lassen und sind da

reingeraten“, resümiert Magomed. „Man will sich behaupten

und sich nicht unterkriegen lassen. Da geht es nur um eines:

Wer ist stärker“, pflichtet ihm Navid bei.

„KLOPF NICHT AN

DIE GEFÄNGNISTÜR –

IRGENDWANN MACHEN

SIE DIR AUF.“

„Es handelt sich hier oft um junge Männer, die hier in Österreich

sozial marginalisiert und entwurzelt sind. Ihre Familiengeschichte

ist geprägt durch Krieg und Zerstörung. Und

Jugendliche gehen viel exzessiver damit um. Wenn die Gesellschaft

sie nicht annimmt, holen sie sich ihr Selbstwertgefühl

eben woanders“, so Soziologe Kenan Güngör. Jene, die dafür

empfänglich sind, würden sich laut Güngör bei jedem noch so

kleinen Knistern in ihrem Stolz verletzt fühlen und dann ginge

es darum, ihre Männlichkeit und Kampfbereitschaft zu beweisen.

„Dazu kommt noch der räumliche Konflikt: Diese Jugendlichen

hängen oft an denselben Orten ab, in Jugendzentren

oder in Parks. Es handelt sich auch um Revierstreitigkeiten,

darum, das eigene Revier zu markieren.“ Güngör merkt an,

dass die Gewaltkurve bei jungen Männern im Alter von 14-23

am höchsten sei, danach flache sie aber wieder ab. „Insgesamt

geht die Gewalt in Österreich zurück. Es fällt uns hier nur

so stark auf, da in unserer Gesellschaft Gewalt stark geächtet

wird.“ Dazu kommt laut Güngör noch die Tatsache, dass viele

Afghanen hier ohne ihre Familien nach Österreich kommen –

und hier durch ihre Peer-Gruppe in diese Konflikte gezogen

werden. Bei tschetschenischen Jugendlichen seien die Eltern

oft besorgt, aber auch machtlos.

„Die Tschetschenen waren zuerst da. Die sind aber mit

ihren Familien hier. Die können noch jemanden enttäuschen.

Wir Afghanen kommen oft alleine, ohne Eltern. Ich musste

schauen, wie ich zu Geld komme.“ Navid selbst ist mit als Kind

alleine aus Afghanistan zu Fuß nach Österreich gekommen

und ist hier schnell in falsche Kreise geraten. „Ich war aber

auch kein unbeschriebenes Blatt, bevor ich in diese Afghanen-

Tschetschenen-Sache reingeraten bin“, gibt Magomed zu, der

schon Jahre zuvor mit seiner Familie aus dem Tschetschenienkrieg

nach Österreich gekommen war. „Mein Vater hat mir

damals gesagt: Klopf nicht an die Gefängnistür – irgendwann

machen sie dir auf.“ Und genau das ist passiert – Magomed

landete für mehrere Monate im Jugendarrest. Schlägereien

und Anzeigen wegen Körperverletzung standen in seiner

Jugendzeit an der Tagesordnung.

„UNS WAR KLAR, DASS ES EIN

NACHSPIEL GEBEN WIRD.“

So auch beim Eklat 2016. Auslöser der Massenschlägerei

war ein Streit zwischen einem Araber und einem Afghanen.

Es kam zu einem verbalen Austausch, in dem sie gegenseitig

ihre Mütter beschimpft hatten. Daraufhin wollten die beiden

Jugendlichen Kräfte messen und haben sich zu einem Einsgegen-eins

in einem Park in Brigittenau verabredet. Zu dem

Zeitpunkt waren die Tschetschenen in der Überzahl, insgesamt

waren ungefähr 30 tschetschenische und zehn afghanische

Jugendliche vor Ort, die anfangs zugeschaut hatten. Der

Afghane gewann den Kampf. Das wiederum hat einem tschetschenischen

Freund des Unterlegenen nicht gefallen und ging

daraufhin auf einen anderen Afghanen los, brach ihm die Nase

und dann begann das Chaos. Über Whatsapp und Mundpropaganda

verbreitete sich schnell die Nachricht von der Massenschlägerei.

Immer mehr Jugendliche kamen hinzu. Der Kampf

ging in die zweite Runde.

Navid war gerade in der Millennium City, als er erfuhr, was

gerade los war. „Da gab es viel hin und her, irgendwann standen

dann ur viele Leute da.“

Und dann eskalierte der Konflikt komplett: Es flogen Fäuste,

Messer, Eisenstangen. „Einer von uns hat einen Messerstich

in die Lunge bekommen, und bei dem anderen wurde das

Herz knapp verfehlt. Die Afghanen sind abgehauen, bevor die

Polizei gekommen ist.“ Magomed und seine Freunde haben die

Schwerverletzten in ein nahegelegenes Jugendzentrum getragen.

Es gab keinen Gewinner und keinen Verlierer, die Anzahl

der Beteiligten auf beiden Seiten änderte sich laufend. Es

wurde schwer, die Übersicht zu bewahren. Auch für die Polizei.

„Uns war aber klar, dass es ein Nachspiel geben wird“, erklärt

Magomed. „Wir wollten das aber unter uns regeln.“

EIN „UNBETEILIGT“ GAB

ES AB DA NICHT MEHR

Vor allem deshalb, weil die Täter nur milde Bewährungsstrafen

erhalten hatten, und das, obwohl fast Menschen gestorben

sind, die an dem ursprünglichen Konflikt gar nicht beteiligt

waren.

Ein „unbeteiligt“ gab es ab dem Vorfall am Handelskai dann

aber nicht mehr: Du stehst entweder auf der einen oder auf

der anderen Seite. Die Gruppen stachelten sich immer weiter

an: „Meine Freunde und ich haben unsere Probleme früher

mit Fäusten geregelt. Das war unser Ehrenkodex damals.

Irgendwann habe ich mich in Wien durch diese ganze Szene,

in der ich war, aber nicht mehr sicher gefühlt und habe

mir eine Pistole besorgt, die ich immer dabei hatte, wenn ich

rausgegangen bin“, gibt Magomed zu. „Das war aus heutiger

Sicht komplett behindert, ich wäre für mein halbes Leben ins

Gefängnis gewandert, wenn man mich damit erwischt hätte“,

schüttelt er den Kopf. Eingesetzt hat er die Waffe nie. Er hat die

Kurve gekratzt, genau wie Navid.

Der Konflikt eskalierte komplett:

Es flogen Fäuste, Messer, Eisenstangen.

Bei beiden war ihre Religion, der Islam, ein Faktor, der sie

von ihren Fehlern weggebracht hat. „Gewiss, das Gebet hält

davon ab, das Schändliche und das Verwerfliche zu tun. Diese

Sure (29 Vers 45) aus dem Koran hat Navid damals zum Nachdenken

gebracht und ihn wieder auf die richtige Bahn geleitet.

So war es auch bei Magomed, der einen Hadith (anm. d. Red:

Hadithe sind Überlieferungen über die Lebensweise des Propheten

Mohammed) zitiert, auf den er sich bis heute bezieht:

„Der wahre Starke ist nicht derjenige, der im Zweikampf siegt,

sondern der, der die Kontrolle über sich selbst bewahrt.“

Aber in der Szene dreht sich das Rad immer weiter: Ehre,

Stolz und Kräftemessen stehen über jeglicher Vernunft. Zumindest

bei den Jugendlichen. Der afghanische Kulturverein hat

nach dem Eklat 2016 mit dem tschetschenischen Kulturverein

Kontakt aufgenommen. Es wurde versucht, zu deeskalieren,

den Jugendlichen klarzumachen, dass sie ein schlechtes Licht

auf ihre Volksgruppen werfen. Eltern haben mit anderen Eltern

versucht zu vermitteln. „Das war für uns aber nur Gelaber. Wir

wollten damals nicht auf die Älteren hören“, so Magomed.

Tatsächlich gibt es innerhalb der beiden Communities sogenannte

Streitschlichter, die gerufen werden, wenn es Konflikte

gibt, die unlösbar scheinen. Da geht es viel um die Perspektive

der Opfer und Wiedergutmachung durch Entschuldigungen,

aber auch Entschädigungszahlungen, wenn es beispielsweise

Arztkosten gibt. „Die Vorgehensweise ist eigentlich sehr nahe

an dem, was wir in Österreich als außergerichtlichen Tatausgleich

kennen“, so der Sozialarbeiter Reicher. „Um diesen

Konflikt zu lösen, müssen wir aktiv mit den Communities

zusammenarbeiten.“

Und das wünschen sich die Älteren in den Communities

auch: „Dieser Konflikt hat uns früher viele Sorgen bereitet, deshalb

haben wir versucht, dass sich die Jugendlichen auf eine

positive Art näher kommen“, erzählt Ghoussudin Mir, Vorstand

des afghanischen Kulturvereins AKIS. Gemeinsam mit dem

tschetschenischen Kulturverein Ichkeria wurden Sportveranstaltungen,

gemeinsame Essen und Gespräche mit Gelehrten

angeboten, bei denen sich die Jugendlichen von beiden

„Seiten“ begegnet sind. Aber Hussein Iskhanov von Ichkeria

weiß, dass das allein nicht ausreicht: „Wir dürfen aber keine

Zeit verlieren. Es wächst mittlerweile eine neue Generation

heran, die gute Vorbilder braucht und keine solchen, die ihnen

mit Beispielen wie Drogendealen und Schlägereien im Park

vorangehen“, so Iskhanov.

„DIESER KINDERGARTEN,

DEN WIR DA AUFGEFÜHRT

HABEN, BEREITET UNS BIS

HEUTE PROBLEME.“

Magomed aber ist sich sicher, dass die Jugendlichen, die

heutzutage in den Konflikt verstrickt sind, genauso wenig auf

die Erwachsenen aus ihren Communitys hören wollen: „Wenn

sie auf jemanden, der ihre Kultur oder das, was sie da glauben

zu repräsentieren, hören werden, dann auf uns. Und ich kann

nur sagen: Diese Scheiße wirkt sich negativ auf das restliche

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