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blu Juli / August 2021

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MUSIK<br />

NACHGEFRAGT<br />

TOM ODELL:<br />

„ziemlich traumatische Phase“<br />

Es ist noch gar nicht so lange<br />

her, da war es undenkbar, dass<br />

Musiker*innen über ihre psychische Gesundheit<br />

sprechen. Sicher, man wusste<br />

von ihren Drogenexzesse und anderen<br />

Eskapaden, aber irgendwie gehörte das<br />

einfach dazu und die Frage, warum sie<br />

sich in Suchtmittel flüchteten, wurde<br />

meist mit dem Fingerzeig auf die Probleme<br />

abgetan, die man nun mal als Star<br />

so hat. Dass viele von ihnen schon vor<br />

der Karriere oft Hilfe benötigt hätten,<br />

war kein Thema. Geschweige denn, was<br />

Erfolg wirklich mit einer Seele anstellen<br />

kann. Doch seit einigen Jahren verarbeiten<br />

Musiker*innen solche Erfahrungen<br />

nicht nur mehr und mehr ungeschminkt<br />

in ihren Liedern, sie sprechen offen und<br />

ehrlich über ihre Ängste, ihren Stress,<br />

über Panikattacken oder Depressionen<br />

und weiterreichende Diagnosen. So<br />

stehen sie uns jetzt nicht nur metaphorisch<br />

in und mit ihren Werken bei,<br />

sondern zeigen sich für alle Welt sichtbar<br />

als genauso gebrochene Menschen, wie<br />

wir alle.<br />

Einer von ihnen ist Tom Odell, der in den<br />

letzten Jahren seinen eigenen Weg im<br />

Umgang mit Angst und Panikattacken<br />

finden musste, und das nun nicht nur<br />

auf seinem neuen Album „Monsters“<br />

thematisiert. „Das lauerte schon länger in<br />

den Schatten“, sagt er. „Doch irgendwann<br />

begann es wirklich Einfluss auf mein Leben<br />

zu nehmen. Ich kam an den Punkt, dass<br />

ich nicht mehr arbeiten konnte. Ich war<br />

in München, als ich meine erste große<br />

Panikattacke hatte und im Krankenhaus<br />

endete. Ein paar Monate später passierte<br />

es dann wieder …“ Er gesteht, dass er gar<br />

nicht vorhatte, das in seiner Musik zu<br />

verarbeiten – aber auf der anderen Seite<br />

stellte er fest, dass das alles war, worüber<br />

er schrieb und schreiben konnte. „Es war<br />

einfach eine ziemlich traumatische Phase.“<br />

Er betont, dass es ihm zurzeit gut geht<br />

und dass es ihm sogar schwerfällt, genau<br />

zu beschreiben, wie es sich angefühlt<br />

hat – ein Problem, dass jeder kennt, der<br />

versucht, diese inneren Vorgänge anderen<br />

verständlich zu machen. Aber gerade hier<br />

kommt die Kunst als vielleicht der beste<br />

Weg ins Spiel, um solche Erfahrungen zu<br />

kommunizieren. Zum Beispiel ein Track wie<br />

„Noise“, der zwischen den intensiven, aber<br />

trotzdem wunderbaren Melodien der meisten<br />

neuen Lieder wie ein Überfall auf die<br />

Psyche ist, und in seinem Effekt durchaus<br />

das Gefühl einer aus dem Nichts kommenden<br />

Panikattacke nachfühlbar macht.<br />

„Es ist so erschreckend, weil du eigentlich<br />

nicht weißt, was plötzlich los ist“, sagt Tom.<br />

Diesen Zustand fängt er in „Noise“ oder<br />

auch in „Problems“ auf einzigartige Weise<br />

ein. Diese Tracks „fühlen sich so ungefiltert<br />

und rau an, regelrecht unangenehm“. Er<br />

und sein Team haben sich stark von Frank<br />

Ocean, Travis Scott und den vielen jungen<br />

Rappern inspiriert gefühlt, die offen und<br />

direkt ihr Innenleben kommunizieren.<br />

Auch auf dem Rest des Albums ist der<br />

Einfluss der jüngsten Generation hörbar.<br />

Die Lieder klingen bewusst wie Bedroom-<br />

Pop-Aufnahmen, ohne sich deswegen<br />

klein zu machen oder sich zurückzuhalten.<br />

Außerdem lässt Tom das erste Mal elektronische<br />

Einflüsse in seiner Musik zu und<br />

erreicht dadurch neue Klangwelten. Nicht<br />

alles dreht sich dabei direkt um seine eigenen<br />

Probleme – diese Erfahrungen haben<br />

vielmehr seine Sinne und Aufmerksamkeit<br />

für die Dramen unserer Welt geschärft,<br />

denen er sich auf vielen Arten annimmt.<br />

Denn letztlich ist auch der Zustand<br />

dieses Systems mit seinen Krisen, seinen<br />

Ungerechtigkeiten und überbordenden<br />

Erwartungen genau das, was auf jede<br />

einzelne Psyche zurückfällt … und nicht nur<br />

Tom täglich vor die Frage stellt, wie man<br />

mit sich und der Welt eigentlich umgehen<br />

soll. „Monsters“ hat keine Antworten. Aber<br />

es ist voller Erfahrungen und Einsichten.<br />

Und es ist gut, dass er das alles mit uns<br />

teilt.<br />

*Interview: Christian K. L. Fischer

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