ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung
KOMPAKT
BERLIN
Müller setzt sich
gegen Chebli durch
Der Weg für eine Bundestagskandidatur
von Berlins Regierendem Bürgermeister
Michael Müller (SPD) ist frei.
Bei einer Mitgliederbefragung im SPD-
Kreisverband Charlottenburg-Wilmersdorf
setzte sich der 55-Jährige gegen
die Staatssekretärin für bürgerschaftliches
Engagement, Sawsan Chebli (42),
durch. Das teilte der Kreisvorsitzende
Christian Gaebler nach Auszählung der
Stimmen mit. Rund 2500 Parteimitglieder
konnten zwischen dem Regierenden
Bürgermeister und seiner
Staatssekretärin wählen. Die zwölftägige
Befragung lief online oder per
Briefwahl. Endgültig aufgestellt wird
der SPD-Kandidat erst auf einer Wahlkreiskonferenz
im November. Das
Ergebnis des Mitgliedervotums gilt
aber als Vorentscheidung. Zwar ist es
formal nicht bindend, jedoch dürfte
der Kandidat gekürt werden, der bei
der Befragung vorn liegt. Sicher ist das
Direktmandat für den SPD-Kandidaten
nicht. Zuletzt gewann in dem Wahlkreis
die CDU.
BUNDESTAG
Abschied von
Thomas Oppermann
In einer bewegenden Trauerfeier hat
der Bundestag seines Vizepräsidenten
Thomas Oppermann gedacht. Bundestagspräsident
Wolfgang Schäuble
(CDU) würdigte den Verstorbenen als
„leidenschaftlichen Sozialdemokraten
und Parlamentarier“. Dieser habe sich
große Verdienste um den Parlamentarismus
und die Demokratie in Deutschland
erworben. Der SPD-Politiker Oppermann
war am Sonntag überraschend
im Alter von 66 Jahren gestorben.
Der Jurist gehörte seit 2005
dem Bundestag an und war seit 2017
dessen Vizepräsident. Von 2013 bis 2017
war er Chef der SPD-Fraktion.
FRANKREICH/TÜRKEI
Streit über Karikaturen
spitzt sich zu
Im Karikaturenstreit hat sich Frankreich
jede Kritik aus der Türkei verbeten.
Regierungssprecher Gabriel
Attal sagte nach einer Kabinettssitzung
unter Leitung von Präsident Emmanuel
Macron, Frankreich werde trotz
verschiedener „Versuche der Destabilisierung
und Einschüchterung“ seine
„Prinzipien und Werte niemals aufgeben“.
Dies gelte insbesondere für die
Meinungs- und Pressefreiheit. Der
Sprecher reagierte auf Äußerungen des
türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdogan, der die französische Satirezeitung
„Charlie Hebdo“ wegen ihrer
Karikaturen scharf attackiert hatte. Die
aktuelle Titelseite von „Charlie Hebdo“
zeigt Erdogan, der mit den Worten
„Ooh, der Prophet“ den Rock einer
verschleierten Frau hochhebt und ihr
nacktes Hinterteil enthüllt. Zuvor hatten
bereits die Mohammed-Karikaturen
von „Charlie Hebdo“ für Proteste
in der Türkei gesorgt.
SYRIEN
UN: Regierung stört
Verfassungsprozess
Die Vereinten Nationen und mehrere
westliche Staaten haben Syrien vorgeworfen,
aus wahltaktischen Gründen
den Verfassungsprozess in dem Bürgerkriegsland
zu verzögern. Der stellvertretende
UN-Botschafter der USA,
Richard Mills, appellierte an den UN-
Sicherheitsrat, alles in seiner Macht
Stehende zu tun, um die Regierung von
Präsident Baschar al-Assad daran zu
hindern, die Schaffung eines neuen
Gesellschaftsvertrags für Syrien noch
in diesem Jahr zu blockieren. Im April
2021 stehen in Syrien Präsidentschaftswahlen
an. Die UN werfen der syrischen
Regierung bereits im Vorfeld vor,
eine vom Sicherheitsrat empfohlene
Überwachung der Wahlen umgehen zu
wollen. Die US-Regierung unter Präsident
Donald Trump vermutet, dass
Assad mit einer Verzögerung des Verfassungsprozesses
bis nach der Wahl
die Arbeit des Sondergesandten der
Vereinten Nationen, Geir Pedersen,
zunichte machen will.
Mehrmals wird Zeit und Ort des
Treffpunkts verschoben. Am
Ende bittet Hassen Chalghoumi
zum Treffen in eine Brasserie
im schicken achten Arrondissement
von Paris, mit Blick auf den Eiffelturm.
Chalghoumi, 47, trägt einen grauen Anzug,
der leicht glänzt, und auf dem Kopf eine
weiße Takke, die Gebetskappe der Muslime. Vor
ihm steht ein mit frischen Früchten belegter
Käsekuchen, aber er wird keine Zeit finden, ihn
zu essen.
VON MARTINA MEISTER
AUS PARIS
Mit Allahs Hilfe
gegen
Extremisten
Ein Imam bekämpft seit Jahren radikalen Islamismus
in Frankreich – unter großen Gefahren.
Einer seiner gefährlichsten Widersacher soll nun auch
eine Schlüsselfigur beim Mord an Samuel Paty sein
Die Kameras eines Nachrichtensenders sind
schon in Stellung, das Interview arbeitet er neben
Gesprächen mit drei europäischen Zeitungen
in einer guten halben Stunde ab. Wie ein
Getriebener wird er dann zum nächsten Termin
rennen. Chalghoumi ist ein gefragter Mann in
Frankreich in den Stunden des islamistischen
Terrors – denn er bekämpft ihn.
Hassen Chalghoumi, 1972 in Tunis geboren,
seit 2000 französischer Staatsbürger, ist Imam.
Aber nicht irgendeiner. Er ist der Imam von
Drancy, einer tristen Vorstadt im Nordosten
von Paris, und er vertritt einen Islam der Aufklärung.
Er hat sich für das Verbot der Burka in
Frankreich eingesetzt. Er ist für Gleichberechtigung.
Er findet Blasphemie nicht schön, aber
ist der Auffassung, dass sich Frankreichs Muslime
daran gewöhnen müssten und Lehrer weiterhin
Mohammed-Karikaturen im Unterricht
zeigen sollten. Es sind mutige Positionen im
Frankreich des Herbstes 2020.
Vom „sehr liberalen Imam Chalghoumi“ ist
gern die Rede, wenn die französischen Medien
über ihn schreiben. Als „Imam der Aufklärung“
wird er auch bezeichnet, der Fernsehsender Arte
hat ihn als „Imam der Mäßigung“ porträtiert.
Er selbst sagte mal, er würde am liebsten ein
„republikanischer Imam“ sein – als sei es alles
andere als selbstverständlich, die Werte der Republik
mit denen des Islam zu vereinen.
Seine Feinde, die radikalen Islamisten, finden
dagegen andere Worte: Teufel, Verräter, Zionist.
Als „Imam der Juden“ beschimpfen sie ihn,
weil er mit dem jüdischen Schriftsteller Marek
Halter befreundet ist, nach Israel reist oder in
seiner Gemeinde Drancy der Deportation der
Juden gedenkt.
Wenige Tage nach der letzten Terrorattacke
besuchte Chalghoumi die Gemeinde Conflans-
Sainte-Honorine, wo der französische Geschichtslehrer
Samuel Paty in der Nähe seiner
Schule enthauptet wurde. „Ich habe geweint“,
sagt der Imam und verzieht sein faltenloses Gesicht.
„Nicht in Syrien ist das passiert, sondern
hier, in Frankreich“, sagt er fassungslos. Es sei
nun gut mit Kerzen und Blumen, mit Trauer
und Trauer. „Wacht endlich auf!“, ruft
Chalghoumi. Er ist ein Mann, der jeden Terroranschlag
sofort verurteilt. Das tun ihm nicht alle
Imame in Frankreich gleich. Er wünscht sich,
dass die schweigende Mehrheit das Wort ergreift,
„auch wenn das nicht Teil unserer Kultur
ist“. Eine Art „Not in my name“ also? Mit dieser
Botschaft hatten sich viele Muslime in der ganzen
Welt 2015 von den Anschlägen in Paris distanziert.
Ja, auch wenn er das so natürlich nicht
formulieren würde. Wenn ihm etwa junge Muslime
sagen, der Terror habe nichts mit ihrer Religion
zu tun, kann Chalghoumi regelrecht wütend
werden. Er spielt am Tisch einen Dialog
nach: „Und ob das was mit dir zu tun hat“, sagt
er ihnen. „Diese Kriminellen töten im Namen
Allahs, im Namen des Islam!“
Chalghoumi hat lange darüber gescherzt,
dass er mit seinen vielen Leibwächtern zu den
bestgeschützten Männern der Republik gehört,
„gleich hinter dem Präsidenten“. Inzwischen
macht er keine Witze mehr. In seiner Moschee
in Drancy trägt er beim Freitagsgebet eine kugelsichere
Weste, erzählt der Imam. Er ist
schon auf offener Straße angegriffen worden,
die Reifen seines Autos wurden zerstochen, seine
Wohnung ist demoliert worden. Seine Facebook-Seite,
sagt er, sei eine „Wand des Hasses“.
„Ich stehe im Visier der Radikalen. Wenn ich
nicht unter Personenschutz stünde, wäre ich
längst wie Samuel Paty enthauptet worden.“
Der Imam weiß, welchen Einfluss Islamisten im
Land haben – und er weiß, wer sie sind. Darunter
etwa der radikale Prediger Abdelhakim Sefrioui.
Gegen den Islamisten ist vergangene
Woche ein Verfahren eingeleitet worden, weil
er sich eingemischt hatte in den Konflikt eines
Vaters mit dem Geschichtslehrer seiner Tochter.
Sefrioui hatte mit dem Vater die Schule in
Conflans-Sainte-Honorine aufgesucht und
Druck auf die Rektorin ausgeübt. Auch hat er
Videos in die sozialen Netzwerke gestellt, in denen
er Paty als „Gauner“ bezeichnete. Jetzt
wird untersucht, inwiefern der Hassprediger
Mitverantwortung trägt für die Ermordung des
Lehrers. Natürlich hat Sefrioui nicht direkt zur
Gewalt aufgerufen. Er kennt die Grenzen der
Legalität und überschritt sie bislang nie. „Es
sind nicht Leute wie er, die zur Tat schreiten“,
sagt Chalghoumi, „es sind die Jungen, die 18-
Jährigen, die das tun.“ Um dieses Problem zu
bekämpfen, so fordert der Imam, müsse Frankreich
seine Rechtsprechung anpassen und die
„desaströse Rolle“ der sozialen Netzwerke begreifen:
„Das Gesetz bestraft den Täter. Aber
der Diskurs bereitet die Tat direkt vor.“
Chalghoumi war selbst schon betroffen von
den Hassreden Sefriouis. Der Islamist hatte mit
seinen Anhängern sechs Monate vor Chalghoumis
Moschee in Drancy gecampt und gegen den
„Imam der Juden“ gehetzt, ihn als „käuflichen“
beschimpft. Das war vor zehn Jahren. Seither
lebt Chalghoumi unter Polizeischutz, wechselt
alle paar Tage die Wohnung. Das jüngste seiner
fünf Kinder hat lange gebraucht, um zu verstehen,
warum es in der Schule einen falschen Namen
tragen muss. „Ich bezahle einen sehr hohen
Preis“, so Chalghoumi.
Dass die Gefahr nicht abnimmt, hat auch mit
Chalghoumis andauerndem Engagement gegen
islamistischen Terror zu tun. So hat der Prediger
vor drei Jahren den „Marsch der Imame“ organisiert,
von einem Tatort des Terrors zu einem
anderen Tatort des Terrors. Auch in Berlin
hat er dabei Station gemacht, am Breitscheidplatz.
Im Februar dieses Jahres hat Chalghoumi
zudem in Paris die erste Konferenz der Imame
gegen Radikalisierung organisiert. Demnächst
will er der Regierung eine Sammlung von Vorschlägen
übergeben, wie mit dem Islamismus
im Land umzugehen ist.
Er bedauert, dass es in Frankreich keine
„theologische Referenz“ für die Muslime gibt
und dass die Imame aus dem Ausland kommen –
zu denen auch er selbst gehört. Eine Erklärung