ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP
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In der Corona-Krise wirft die Politik alle
Schuldenregeln über Bord. Das gilt für
Deutschland und die gesamte EU. Den renommierten
Wirtschaftshistoriker Werner
Plumpe erinnert dies an die großen
Wirtschaftskrisen der Vergangenheit. Gut ausgegangen
ist der allzu lockere Umgang mit
dem Geld fast nie.
VON DOROTHEA SIEMS
WELT: Herr Professor Plumpe, in der Corona-Krise
nimmt der Staat in Deutschland so
viele Kredite auf wie nie zuvor. Der EU wird
erstmals erlaubt, gemeinsame Schulden im
großen Stil aufzunehmen. Und auch in anderen
Weltregionen steigen die Schuldenstände
auf Rekordniveau. Ist diese Entwicklung
historisch betrachtet Erfolg versprechend?
WERNER PLUMPE: Diese Schuldenlage ist historisch
ohne Vorbild. In früheren Zeiten waren
Kriege in der Regel der Grund für eine
stark steigende Staatsverschuldung. Das galt
für Frankreich und seine Napoleonischen
Kriege ebenso wie etwa für Deutschland nach
dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Dass sich
Staaten extrem hoch verschulden, um Kriseninterventionen
zu betreiben, ist neu, und deshalb
lassen sich die Erfolgsaussichten nicht
vorhersagen: Es ist ein Test ohne große historische
Erfahrung, und die Erfahrungen, die es
aus den 70er-Jahren gibt, sind nicht vielversprechend.
Welche Idee steckt hinter dieser Strategie?
Die Politik vertraut auf die Idee der sich selbst
vertilgenden Staatsschuld. John Maynard Keynes
hat die Theorie vor dem Hintergrund der
1929 ausgebrochenen Weltwirtschaftskrise
entwickelt. Der Staat soll mit Krediten Investitionen
und Konsum fördern, um so Wachstum
anzureizen, das wiederum staatliche Einnahmen
bringt, mit denen die Schulden dann
zurückgezahlt werden.
Keynes’ Theorie verlangt, dass der Staat in
guten Zeiten Überschüsse macht und Kredite
zurückzahlt. Funktioniert das?
Nein, auch in Deutschland, wo ab den späten
60er-Jahren versucht wurde, mit kreditfinanzierten
Ausgaben Strukturpolitik zu treiben
und später die Konjunktur anzukurbeln, hat
die Politik im Aufschwung die Kredite nicht
zurückgezahlt. Stattdessen wurde weiter mit
Schulden Politik gemacht. Die Folge war, dass
in den 70er-Jahren zwar die Schulden immer
weiter stiegen, aber die Wirtschaft stagnierte,
während die Inflation anstieg. Damit war diese
Politik gescheitert.
In der 2008 ausgebrochenen Finanzkrise erlebte
Keynes aber weltweit eine Renaissance,
und nun in Corona-Zeiten gilt das
noch mehr. Was droht einem Land, wenn es
seine Verschuldung zu weit treibt?
Das kommt auf die Struktur der Verschuldung
an. Ist der Staat bei der eigenen Bevölkerung
verschuldet, dann ist eine Währungsreform
das Mittel der Wahl. Die Deutschen haben das
zwei Mal im 20. Jahrhundert erlebt. 1948 wurden
so aus 100 Mark 6,50 Mark.
Durch eine solche Enteignung wird
der Staat seine Schulden los. Schwieriger
ist es mit internationalen Kreditgebern,
die oft in der Lage sind,
harte Anpassungsmaßnahmen zu erzwingen,
um ihr Geld wiederzubekommen.
Das haben beispielsweise
Mexiko und Argentinien erlebt und
selbst ein großes Land wie Russland
Ende der 90er-Jahre. Für die Bevölkerung
des Schuldenstaates ist auch
dieser Weg mit Härten verbunden,
aber nicht so dramatisch wie eine
Währungsreform.
Gibt es gar keine Beispiele, wo die
Sache gut ausging?
Doch, eine Ausnahme gibt es: Die
USA schafften es nach dem Zweiten
Weltkrieg, von ihrem hohen Schuldenstand
wieder runterzukommen.
Die Amerikaner hatten damals das
Zinsniveau gedeckelt und erzielten
hohe Wachstumsraten bei einer über
dem Zinsniveau liegenden Inflationsrate.
Auf diese Weise gelang das
Abschmelzen des Schuldenstands.
Und darauf will jetzt auch die Europäische
Zentralbank hinaus: eine höhere
Inflation bei gleichzeitig niedrigen
Zinsen und höherem Wirtschaftswachstum.
Dann soll der
Schuldenberg wie Schnee in der Sonne
schmelzen. Zwar bedeutet auch
dieser Weg eine finanzielle Repression,
also Wohlstandsverlust. Doch wäre das weniger
spürbar als eine Enteignung über eine
Währungsreform.
„Dieser Weg
führt oft zu
brachialen
Lösungen“
Der Wirtschaftshistoriker
Werner Plumpe warnt vor den
Folgen massiver Staatsverschuldung
in Europa. Dem Bürger droht
eine Enteignung über Inflation
oder gar eine Währungsreform
Wird die schuldenfinanzierte Strategie der
EU aufgehen?
Das kann nur gelingen, wenn die EU erhebliche
Produktivitätsfortschritte erreicht – und
das ist leider nicht zu sehen. Jetzt wird so getan,
als ginge es vielen EU-Staaten wegen Corona
schlecht. Doch tatsächlich befanden sich
Länder wie Italien oder Frankreich schon vor
der Pandemie wirtschaftlich im Niedergang.
Die fehlende wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit
einiger Mitgliedstaaten ist die Wurzel
des Übels. Und die europäische Krisenpolitik
ändert an dem Grundproblem gar nichts,
sondern verschärft es stattdessen.
Wie das?
Die EU argumentiert mit der Solidarität, die in
der Krise gezeigt werden soll. Zwar habe ich
für dieses Argument große Sympathie. Doch
die finanzielle Solidarität, die bewiesen werden
soll, droht lediglich den Status quo zu konservieren
– und der ist in ökonomischer Hinsicht
nicht gut. Veraltete Strukturen werden
künstlich am Leben und eigentlich bankrotte
Unternehmen am Markt gehalten. Die Gefahr
der Zombifizierung der Wirtschaft ist offenkundig.
So wird man nicht wettbewerbsfähig.
Droht mit dem Wiederaufbaufonds, für den
die EU gemeinsam 750 Milliarden Euro an
Krediten aufnehmen will, eine neue Schuldenspirale?
Die entscheidende Frage ist: Wie will man da
wieder rauskommen? Die gemeinsame Schuldenaufnahme
begünstigt Länder wie Italien
oder Frankreich, die ansonsten höhere Zinsen
für neue Kredite zahlen müssten. Mit den gemeinsamen
Schulden nimmt man den Reformdruck
von diesen Ländern. Ohne Wachstum
werden die Schulden irgendwann erdrückend.
Historisch führten solche Wege oft zu brachialen
Lösungen wie einer Währungsreform, die
auch mit dem Euro möglich wäre. Die Alternative
wären anhaltende Transfers vom Norden
in den Süden. Doch auf Dauer funktioniert
auch die Subventionierung nicht mehr, spätestens
wenn ein Teil der Länder – zum Beispiel
die „sparsamen vier“, also Schweden, die Niederlande,
Dänemark und Österreich – aussteigen,
weil sie sich das nicht mehr leisten wollen.
Die sogenannte Solidarität, die jetzt beschworen
wird, birgt also große Risiken.
Müsste Europa eine Konjunkturkrise besser
mal aushalten, anstatt mit hohen Schulden
überkommene Strukturen zu konservieren?
Eigentlich schon, doch in einer Demokratie ist
eine solche Rosskur, die mit erheblichen politischen
Kosten verbunden wäre, schwierig. Deshalb
ist es nachvollziehbar, dass Regierungen
das vermeiden wollen. Trotzdem müssen wir
Europäer uns fragen, wie sich die notwendigen
Reformen erreichen lassen. In Deutschland ist
die Regierung Schröder mit den Hartz-Reformen
und der Agenda 2010 den Weg der inneren
Abwertung gegangen, der zu wirtschaftlicher
Dynamik geführt hat. Auch Griechenland, das
sich vor Corona zuletzt gut entwickelt hatte,
beweist, dass es geht.
Italien oder Frankreich lassen sich aber von
Brüssel keine Reformen vorschreiben.
Sich internationalem Druck zu beugen passt
nicht zum Selbstbild größerer Länder. Hier ist
eine kluge Regierungspolitik gefordert. Die Bereitschaft
zu Reformen muss aus den Ländern
selbst kommen. Leider zeigt sich aber auch in
Frankreich, wo entsprechende Bemühungen
von Präsident Macron blockiert wurden, wie
groß die Widerstände sind. Höhere Staatsschulden
sind kurzfristig der leichtere Weg.
Birgt der ultralockere Kurs der
EZB-Geldpolitik Risiken?
Ja, für die EZB ist die Erhaltung der
Euro-Zone das übergeordnete Ziel,
nicht die Geldwertstabilität. Mit dem
Kauf von Staatsanleihen betreibt sie
erkennbar eine monetäre Staatsfinanzierung,
zumal sie Ländern wie
Italien entgegen der ursprünglichen
Quotenregelung überproportional
viele Anleihen abnimmt. Nach den
EU-Verträgen ist eine monetäre
Staatsfinanzierung ausdrücklich unzulässig,
aber die roten Linien werden
von der EZB stetig weiterverschoben.
Und die nationalen Regierungen
lassen das zu. Überdies hat
die Zentralbank kürzlich ihr Inflationsziel
verändert: Bisher galt die Vorgabe
„bis zu zwei Prozent Inflation“,
jetzt heißt es „zwei Prozent“. De
facto fördert man also bewusst die
Inflation, um auf Basis eines fragwürdigen
ökonomischen Modells auf diese
Weise wirtschaftliches Wachstum
anzureizen. In Wirklichkeit werden
nur unwirtschaftliche Strukturen
konserviert und das sparende Publikum
durch die niedrigen Zinsen bei
steigender Inflation womöglich noch
enteignet.
Sind unsolide Staatsfinanzen historisch
eher die Regel oder die Ausnahme?
In der Tat zeigt die Geschichte, dass der Staat
dazu neigt, bei der Verfolgung politischer Ziele
seine finanziellen Möglichkeiten zu überdehnen
und dadurch die Stabilität zu gefährden.
Historisch sind solide Staatsfinanzen mit
geringer Inflation deshalb eher selten, obwohl
diese Zeiten in der Regel mit hoher wirtschaftlicher
Performanz verbunden waren. In
Deutschland galt das für die Zeit zwischen
1890 und 1914 sowie in den 50er- und 60er-Jahren.
Es waren die niedrigen Inflationsraten,
die in diesen Phasen zum starken Wachstum
wesentlich beigetragen haben. Geldwertstabilität
führt nicht automatisch zu hohem
Wachstum; es ist hierfür aber eine günstige
Bedingung.