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für die Radikalisierung sieht Chalghoumi in der

mangelnden Grundlage für eine nationale Identität:

„Den jungen Menschen mit Migrationshintergrund

fehlt die Orientierung. Sie wissen

nicht, ob sie Algerier sind oder Franzosen.

Wenn sie nicht wissen, wohin sie gehören, füllen

sie diese Leere und sagen: Ich bin Muslim.“

Trotz seiner offenen Worte gibt Chalghoumi

aber auch Rätsel auf. Etwa weil viele Fragen zu

seiner Person unbeantwortet bleiben: Warum

spielt er in den französischen Medien eine so

große Rolle, aber eine verschwindend kleine bei

den liberalen Muslimen? Und warum redet er so

ungern über seine Vergangenheit, als er als junger

Mann mehrere Jahre in Koranschulen in Syrien

und Pakistan verbracht hat, oder über die

Tabligh, eine Frömmigkeits- und Missionsbewegung,

der er einst nahestand? Chalghoumi wirkt

wie ein Vorzeige-Imam, fast zu schön, um wahr

zu sein. Dabei wäre es eine gute Nachricht,

wenn ein Imam wie er die schweigende Mehrheit

der französischen Muslime überzeugend

verkörpern würde. Solange das zu bezweifeln

ist, wirkt der engagierte Prediger etwas wie eine

traurige Kunstfigur. Nur die tödliche Gefahr, in

der er schwebt, ist zweifellos echt.

Bilanz der Corona-Versprechen

Mit dem Ausbruch der Pandemie im Frühjahr lief in Europa einiges schief – an den Grenzen, bei der Versorgung, in den

Kliniken. Im Fall einer zweiten Welle sollten sich die Fehler nicht wiederholen, hieß es aus Brüssel. Was ist daraus geworden?

Es waren dramatische Szenen, die

sich zu Beginn der Coronavirus-

Krise in Europa abspielten. Es

gab tagelange Lastwagenstaus

und Versorgungsengpässe – viele

Mitgliedsländer der Europäischen Union

(EU) hatten ohne jede Abstimmung einfach

ihre Grenzen dichtgemacht.

VON CHRISTOPH B. SCHILTZ

AUS BRÜSSEL

Ein deutscher Bundeswirtschaftsminister

weigerte sich dann auch noch, medizinische

Hilfsgüter für Nachbarländer herauszurücken.

In Italien infizierte sich derweil reihenweise

medizinisches Personal, weil es an

Schutzanzügen fehlte.

Wie konnte all das passieren? Ein Teil der

Antwort ist: Gesundheitsfragen sind vor allem

Sache der jeweiligen EU-Mitgliedstaaten.

Die Länder haben darum eine Weile gebraucht,

um zu akzeptieren, dass auch die

EU-Kommission in Brüssel als Koordinator,

Geldgeber und Ideengeber in der Corona-

Krise eine wichtige Rolle spielen kann. Seit

April will Europa zeigen, dass man aus dem

Corona-Chaos der ersten Wochen gelernt

hat. Es sollte mehr Zusammenarbeit, Solidarität

und Schlagkraft im Kampf gegen das Virus

geben. Was ist aus den diversen Versprechen

geworden?

KEIN REISECHAOS MEHR

Die EU-Kommission hat sogenannte grüne

Fahrbahnen vorgeschlagen, damit Lastwagen

innerhalb von 15 Minuten einen Grenzübergang

passieren können. Daran halten sich die

EU-Länder. Es klappt zwar nicht immer, zum

Beispiel wegen unterschiedlicher Quarantänevorschriften,

aber insgesamt ist das Konzept

ein Erfolg. Zudem wurden einheitliche

Ausnahmeregelungen für Pendler und den

kleinen Grenzverkehr gefunden, die mittlerweile

funktionieren. Die Grenzen im Schengen-Raum

sind bisher insgesamt offen geblieben,

die Reisenden müssen allerdings in

einigen Fällen triftige Gründe für den Grenzübertritt

haben, wie an der Grenze zwischen

Dänemark und Deutschland.

Fazit: Versprechen gehalten.

UNTERSTÜTZUNG FÜR DIE WIRTSCHAFT

Die Europäische Union hat einen Corona-

Wiederaufbauplan für die Mitgliedstaaten in

einem Umfang von 750 Milliarden Euro vorgelegt.

Damit soll vor allem Ländern wie Italien

und Spanien geholfen werden, deren

Wirtschaft von dem Virus besonders betroffen

ist. Das Geld soll für die Modernisierung

der Wirtschaft verwendet werden. Zudem

hatte die EU-Kommission im Frühjahr dieses

Jahres ein „Kurzarbeiterprogramm“ von bis

zu 100 Milliarden Euro aufgelegt, um „Arbeitsplätze

und Existenzgrundlagen zu erhalten“,

wie EU-Kommissionschefin Ursula

von der Leyen sagte. In dieser Woche wurden

die ersten 17 Milliarden Euro zur Finanzierung

von Kurzarbeitergeld in Italien, Spanien

und Polen ausgezahlt.

Fazit: Versprechen gehalten. Allerdings

dürften selbst diese Finanzmittel nicht ausreichen,

falls eine zweite Corona-Welle voll

auf die Konjunktur durchschlägt. Und: Niemand

kann wirklich kontrollieren, ob die riesigen

Geldsummen von den jeweiligen Regierungen

vor Ort auch tatsächlich vorschriftsmäßig

verwendet werden.

APPS BREMSEN DIE AUSBREITUNG

In vielen Ländern werden die Apps nur selten

heruntergeladen, wie etwa in Italien oder

Frankreich. In Österreich wiederum wurden

bei einer Million Downloads nur 412 Infektionen

gemeldet. Die EU-Kommission hat

jetzt ein Serversystem eingesetzt, das einen

europaweiten Austausch von Contact-Tracing-Apps

ermöglichen soll. Es sind aber

noch lange nicht alle Länder an Bord. Wer

Kontakte mit einem Infizierten hatte, wird

zudem häufig nicht mehr getestet.

Fazit: Die Warn-Apps sind kein effizientes

Mittel zur Eindämmung der Pandemie.

EU-LÄNDER HELFEN SICH GEGENSEITIG

Nach anfänglichen Schwierigkeiten stellen

sich die EU-Länder nun gegenseitig Intensivbetten

zur Verfügung. Im Rahmen des sogenannten

Zivilschutzmechanismus und eines

neu aufgelegten Programms der EU-

Kommission namens „rescEU“ findet zudem

ein überraschend intensiver Austausch von

Ärzten, Pflegern, medizinischen Geräten

und Hilfsmitteln statt. Erst in dieser Woche

vermittelte Brüssel 30 Beatmungsgeräte

nach Tschechien. Rumänische und norwegische

Ärzte helfen in Italien. Griechenland erhielt

90.000 Stück Hilfsgüter aus fünf EU-

Ländern, darunter Decken, Arzneien und

medizinisches Gerät.

Fazit: Versprechen gehalten.

KEINE CORONA-LÜGEN MEHR IM NETZ

Mit allerlei Ankündigungen zur Zusammenarbeit

mit Online-Plattformen, einer besseren

Überwachung des Internets und intensiver

Aufklärung versucht die EU, Desinformationen

über das Coronavirus zu verhindern.

Aber: Es gibt immer mehr Corona-Leugner,

die von haarsträubenden Lügen im Netz inspiriert

werden und sie weiterverbreiten.

Fazit: Nicht erfolgreich.

FAIRE VERTEILUNG VON IMPFSTOFFEN

„Wir müssen vorbereitet sein, wenn ein

Impfstoff gefunden ist“, sagte EU-Gesundheitskommissarin

Stella Kyriakides. Die EU-

Kommission unterstützt mit Milliardenbeträgen

die Corona-Forschung und sicherte

sich – zusätzlich zu einzelnen Mitgliedstaaten

– 800 Millionen Impfdosen. Brüssel erstellte

zudem einen strikten Fahrplan, welche

Vorkehrungen die Länder für den Tag X

europaweit treffen und welche Gruppen als

Erste geimpft werden sollen.

Fazit: Voraussichtlich wird jeder EU-Bürger

schnellstmöglich geimpft werden.

Es ist nicht der Staatspräsident, der

sich am Dienstag in einer Videobotschaft

an die polnische Nation wendet,

sondern der Chef der nationalkonservativen

Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit

(PiS). Wie versteinert blickt Jaroslaw

Kaczynski in die Kamera. Eigentlich lenkt er

seit fünf Jahren die Geschicke Polens aus

dem Hintergrund. Wenn Kaczynski auf die

Bühne tritt, dann wissen alle: Die Lage ist

ernst.

VON PHILIPP FRITZ

Kaczynski spricht von einer „Attacke, die

Polen zerstören soll“ und ruft dazu auf, das

Land zu beschützen. „Wir müssen die polnische

Kirche verteidigen.“ Viele Polen erinnert

der Auftritt an Wojciech Jaruzelski. Im

Dezember 1981 rief der damalige Premier und

KP-Chef der Volksrepublik das Kriegsrecht

aus. Zwar war davon keine Rede, die Ansprache

des PiS-Chefs aber interpretieren die Polen

als Anstachelung zur Gewalt.

Denn seit Donnerstagnacht vergangener

Woche marschieren Hunderttausende durch

polnische Städte und setzen sich damit über

die Corona-Auflagen der Regierung hinweg.

Sie protestieren gegen ein De-facto-Verbot

von Abtreibungen, das das Verfassungsgericht

mit einem Urteilsspruch in der vergangenen

Woche erwirkt hat. Polen hatte bereits

eines der strengsten Abtreibungsgesetze in

der EU. Dessen Verschärfung zwingt Frauen

nun dazu, selbst bei einer schweren Erkrankung

des Fötus zu gebären.

Angeführt wird der Protest von jungen

Frauen. Sie blockieren den Verkehr und erklären

ihrerseits den „Krieg“, so einer ihrer

Slogans. Für Mittwoch wurde zu einem Generalstreik

aufgerufen, weitere Aktionen

sind geplant. Ein Ende ist nicht in Sicht.

Der Protest richtet sich mittlerweile nicht

mehr nur gegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts,

sondern auch gegen die

einflussreiche katholische Kirche und den

Allmachtsanspruch der PiS, die seit 2015 die

Gerichte und die Medien nach und nach unter

ihre Kontrolle bringt. Immer häufiger

sind Forderungen nach Neuwahlen zu hören.

Die Sicherheitskräfte gehen teils brutal gegen

die Protestierenden vor, werden der Lage

aber nicht Herr. Im Parlament kommt es

zu Tumulten, weil Mitglieder der Linken

(Lewica) offen gegen das Abtreibungsverbot

protestieren.

Polens

doppelte

Krise

Das Land ist nicht

nur schwer von Corona

getroffen, es wird

auch von Protesten

gegen das neue

Abtreibungsverbot

erschüttert.

Ein Bruch droht

All das passiert vor einer sich zuspitzenden

Corona-Lage. Am Mittwoch gab das Gesundheitsministerium

18.820 Neuinfektionen

bekannt – für einen Tag. Das ist ein neuer

Negativrekord. Und das, obwohl kaum ein

EU-Land so wenige Tests durchführt wie Polen,

derzeit 0,9 auf 1000 Einwohner. Dabei

fallen 21,4 Prozent der Tests positiv aus. Zum

Vergleich: In Deutschland liegt dieser Wert

aktuell bei 3,3 Prozent. Kein Gesundheitssystem

in der EU ist so nah am Zusammenbruch

wie das polnische. Anfang Oktober bereits

starb der erste Mann vor einem Krankenhaus,

weil es keine Kapazitäten mehr zur Behandlung

gab. Seitdem reihen sich Krankenwagen

in langen Schlangen vor Kliniken.Ärzte

klagen über fehlendes Personal und Gerät.

Eine Folge der Massenproteste dürfte sein,

dass in den nächsten Tagen die Zahl der

Neuinfektionen noch stärker steigt. Die Regierung

hat derweil verschärfte Corona-

Maßnahmen erlassen, das ganze Land wurde

zur „roten Zone“ erklärt. Es gilt eine allgemeine

Maskenpflicht, Jugendliche dürfen

ohne Eltern den Wohnort nicht verlassen,

Rentner müssen zu Hause bleiben, Zusammenkünfte

ab fünf Personen sind verboten.

Beobachter vermuten, dass aufgrund der

Proteste ein Ausnahmezustand verhängt

werden könnte – der in Wahrheit der Eindämmung

der Corona-Situation dient. Die

PiS müsste sich so nicht dazu bekennen, das

Land nicht ausreichend auf die sogenannte

zweite Welle vorbereitet zu haben. In Staatsmedien

wird die Pandemie bereits relativiert:

Es dominieren Berichte, in denen Regierungskritiker

als „linke Faschisten“ bezeichnet

werden, insinuiert wird eine Steuerung

der Proteste aus dem Ausland.

Die PiS dürfte Widerstand gegen das Urteil

des Verfassungsgerichts erwartet haben

– unklar ist, ob auch mit einer solchen Intensität.

Es kommt zu Übergriffen auf Demonstranten,

und auch die Aktivisten wenden immer

härtere Methoden an. So veröffentlichte

eine Gruppe die Privatadressen von Abtreibungsgegnern.

Andere Protestierende stören

Gottesdienste, Kirchen werden mittlerweile

unter Duldung der Sicherheitskräfte von

Rechtsradikalen „bewacht“. Der Staat

scheint das Gewaltmonopol aus der Hand zu

geben und setzt auf eine radikale Minderheit

– gegen eine Mehrheit.

Die nämlich steht nicht hinter der Entscheidung

des Verfassungsgerichts. 73 Prozent

sprechen sich laut einer aktuellen Umfrage

des Meinungsforschungsinstituts Kantar

gegen die Verschärfung des Abtreibungsrechts

aus.

Wut macht sich aber nicht nur wegen des

Urteils breit, sondern auch, weil es vom Verfassungsgericht

gefällt wurde, das der PiS als

eine Art Ersatzparlament dient. So zeigen

die Proteste auch, dass das Vertrauen in Polens

Rechtsstaat schwer erschüttert ist.

Selbst die Corona-Krise hält die Menschen

nicht davon ab, das zu artikulieren. Das Land

schlittert in eine handfeste Staatskrise.

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