ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP
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WISSEN
DIE WELT DONNERSTAG, 29. OKTOBER 2020 SEITE 32
gilt selbst für ein sehr kleines Land wie das
unsere. Man muss sich vor Augen führen: Diese
Leute sind oft schwer krank, teilweise müssen
sie künstlich beatmet werden, in einer
solchen Situation ist es immer schwierig und
gefährlich, einen Menschen zu transportieren.
Und es ist ausgesprochen aufwändig. All
das lässt sich in vielen Fällen nicht mehr vermeiden,
weil viele Krankenhäuser völlig überlastet
sind. Während der ersten Welle haben
wir die gesamte Notfallversorgung für mehrere
Wochen stoppen müssen – diesen Zeitpunkt
haben wir jetzt versucht, so lange wie
möglich hinauszuschieben. Das ist leider
nicht mehr länger möglich.
Ihre Regierung hat Restaurants und Bars
geschlossen und andere strenge Maßnahmen
ergriffen. Macht sich das nicht auf den
Intensivstationen bemerkbar?
Es dauert zwei, drei Wochen, bis solche Veränderungen
auch in den Krankenhäusern zu
spüren sind – viele Menschen trugen ja schon
damals den Erreger in sich, ohne bereits
schwere Symptome zu zeigen. Wir müssen also
damit rechnen, dass die Zahlen in den
nächsten Tagen sogar noch weiter ansteigen
werden – das heißt, wir müssen uns auf eine
schlimmere Phase vorbereiten.
Was ist Ihre Sorge?
Eigentlich hat Belgien genau wie Deutschland
im internationalen Vergleich sehr große Intensivkapazitäten
– anders als zum Beispiel
die Niederländer. Aber ein Intensiv-Bett mehr
oder weniger allein hilft wenig weiter, wenn
sie nicht die hochqualifizierten Pfleger und
Ärzte haben, die die Menschen darin versorgen.
Da können sie noch so viel Platz und Maschinen
haben. Und sollten unter denen – sei
es durch das Virus, sei es durch die immense
Belastung – auch noch zusätzliche Krankheitsfälle
auftreten, dann werden wir richtig,
richtig Probleme bekommen.
Angenommen man hätte Ihnen auch fünf
Wochen Zeit gegeben, um die Katastrophe
aufzuhalten. Wie hätten Sie sich vorbereitet?
Ich denke, alles steht und fällt mit der Frage,
wie weit es gelingt, die eigene Bevölkerung zu
motivieren. Wir in den Krankenhäusern können
uns noch so gut präparieren, letztendlich
haben wir keinerlei Einfluss darauf, wie groß
die Zahl der Patienten und damit die Welle
wird, mit der wir zu kämpfen haben werden.
Das hängt letztendlich vom Verhalten von elf
Millionen Belgiern und 80 Millionen Deutschen
ab.
Was raten Sie?
Als Politiker muss man jetzt den Mut haben,
unangenehme Entscheidungen zu treffen.
Und dann alles tun, um den Menschen zu erklären,
warum diese Einschränkungen notwendig
sind. Und das auf allen Kanälen. Wir
dürfen die sozialen Medien nicht unseren
Gegnern und den Fake News überlassen. Ich
bin zwar kein Virologe oder Epidemiologie,
aber letztendlich geht es vor allem um eins:
Wir alle müssen unsere sozialen Kontakte reduzieren
und auf bestimmte Aktivitäten verzichten,
sonst wird sich der Erreger immer
weiter ausbreiten. Und dort, wo das nicht
geht, eine Maske tragen. Den deutschen Kliniken
kann ich vor allem einen Rat geben: Trainiert
eure Leute, in fünf Wochen kann man
noch eine Menge erreichen. Und stellt euch
das Worst-Case-Szenario vor und versucht
euch darauf vorzubereiten.
„Trainiert eure Leute.
Nutzt die Chance“
In Belgien sind die Kliniken völlig überlastet mit Covid-19-Patienten. Ein
Intensivmediziner erklärt die Zustände während der zweiten Welle – und gibt
Ratschläge für Deutschland, das leicht in die gleiche Situation kommen kann
Die Corona-Epidemie hat in Belgien
ein Ausmaß erreicht, das
Deutschland in etwa fünf Wochen
bevorsteht – sagen zumindest
Berechnungen voraus. Der
Intensivmediziner Geert Meyfroidt, 49, ist
Professor an der Universität Leuven und Präsident
des Fachverbands der belgischen Intensivmediziner.
Ein Gespräch mit einem unüberhörbar
gestressten Arzt.
VON MICHAEL BRENDLER
WELT: Ihr Land, so hat ein Wissenschaftler
ausgerechnet, erlebt gerade ein Stadium
der Epidemie, das uns in fünf Wochen bevorsteht.
Worauf müssen wir uns einstellen?
GEERT MEYFROIDT: Wir erleben hier gerade
eine sehr, sehr schwierige Phase der Epidemie.
In Flandern und der Region um Leuven, in der
mein Krankenhaus liegt, ist die Situation zwar
noch nicht ganz so schlimm, aber in Brüssel
und Wallonien sind viele Intensivstationen zu
mehr als der Hälfte gefüllt mit Corona-Infizierten.
Das ist eine sehr kritische Situation,
weil die Versorgung solcher Patienten viel aufwändiger
als die von anderen Kranken ist.
Mit welchen Folgen?
Für viele, die diese Hilfe dringend benötigen
würden, bleibt zu wenig Zeit übrig. Zudem ist
all das auch mit einer unerhörten Belastung
für Ärzte, Schwestern und Pfleger verbunden.
Manche hatten nicht einmal ausreichend Gelegenheit,
sich von der ersten Welle zu erholen.
Damals waren manche Kollegen richtig
traumatisiert, ja hatten geradezu Angst, zum
Dienst zu gehen. Zu erleben, dass man nicht
in der Lage ist, den Menschen so zu helfen,
wie man es gewohnt ist, kann ausgesprochen
belastend sein. Die Folge sind hohe Ausfallraten
– und damit noch größere Belastungen für
diejenigen, die übrig bleiben.
Mit welchen Problemen kämpfen sie?
Eine der größten Herausforderungen ist es sicherlich,
die Patienten umzuverteilen – das
Haben Sie eine These, warum Deutschland
noch so viel besser wegkommt?
Wenn eines wichtig ist bei dieser Pandemie,
dann ist es das Timing: Es kommt weniger darauf
an, welche gesellschaftlichen Maßnahmen
du genau ergreifst – es kommt darauf an,
dass du sie so früh wie möglich ergreifst. Time
trumps perfection, wie die Amerikaner sagen.
Wenn du einem kleinen Feuer Zeit gibst,
sich auszubreiten, brennt – ehe du dich versiehst
– der ganze Wald. Dieses Virus bestraft
gnadenlos jede Form der Arroganz oder Unterschätzung.
Unsere Notstandsregierung,
die wir bis vor Kurzem hatten, hat sich leider
zu viel Zeit gelassen.
Wie sah das konkret aus?
Es gab schon im August und September Anzeichen
dafür, dass die Dinge in die falsche Richtung
laufen. Aber denjenigen, die vor der Katastrophe
warnen wollten, fiel es sehr schwer,
sich Gehör zu verschaffen. Alle dachten nur
daran, endlich die Einschränkungen aus dem
Frühjahr zu lockern. Das hat uns diesen Schlamassel
eingehandelt. Man hat etwa den Studenten
erlaubt, in die Unis zurückzukehren
und das Virus am Wochenende nach Hause zu
ihren Familien und Freunden zu tragen. Deshalb
sehen wir hier in Belgien euer Land bisher
als eine Art Vorbild an – ihr wart sehr effizient
darin, das ist zumindest unser Eindruck,
sehr früh sehr strenge lokale Maßnahmen zu
ergreifen. Und man sieht: Aktuell seid ihr
mehr oder weniger das einzige Land in Europa,
das auf der Landkarte noch nicht rot leuchtet.
Ich kann nur sagen: Nutzt diese Chance!