ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung
DIE WELT DONNERSTAG, 29. OKTOBER 2020 FINANZEN 23
Wenn beim Menschen
der Herdentrieb einsetzt,
wird es schnell
gefährlich – auch in
der Wirtschaft. Am
29. Oktober 1929 war es wieder einmal
so weit. Als an diesem Dienstag um 9.30
Uhr der Gong in der Großen Handelshalle
der New York Stock Exchange an
der Wall Street in Manhattan den Handelsbeginn
verkündete, brach alles zusammen:
Wer konnte, verkaufte seine
Aktien, ganz gleich zu welchem Preis. In
der ersten halben Stunde wechselten so
rund 3,26 Millionen Anteilsscheine bei
stetig fallenden Kursen den Eigentümer
– so viel, wie es noch wenige Monate zuvor
an einem ganzen durchschnittlichen
Handelstag waren.
VON SVEN FELIX KELLERHOFF
Pure Angst
ließ die
Wall Street
kollabieren
Am 29. Oktober 1929, dem
„schwarzen Dienstag“, übermannte
Panik die New Yorker Börse.
Die Folgen waren drastisch – für
die USA, aber ebenso für Europa
Fast in demselben Tempo ging es weiter.
Manche Papiere fanden für keinen
Preis mehr Käufer – so konnte kein offizieller
Kurs festgestellt werden. Andere
Börsenwerte, darunter auch von
mächtigen Konzernen, gaben dramatisch
nach – der des (faktischen) Telefonmonopolisten
AT & T um 12,1 Prozent,
der des Autoherstellers General
Motors verlor 15,8 Prozent, der Mischkonzern
ITT verzeichnete ein Minus
von 19,3 Prozent, die Standard Oil of
New Jersey 20,1 Prozent und der Chemiegigant
DuPont sogar 22,7 Prozent.
Es war der dritte Tag mit stark sinkenden
Kursen binnen weniger als einer
Woche. Am 24. Oktober, dem vorangegangenen
Donnerstag, war es losgegangen.
Schon an diesem Tag waren in den
ersten anderthalb Stunden des Parketthandels
1,6 Millionen Anteile verkauft
worden. Doch gegen 11 Uhr blieben fast
schlagartig die Kaufinteressenten aus.
„Wall Street in Panik, weil die Kurse
crashen“ titelte die „Brooklyn Daily
Eagle“ an diesem Nachmittag in ihrer
Stadtausgabe. Zeitweise schätzten
Händler die Kursverluste auf durchschnittlich
bis zu 30 Prozent, doch offiziell
gab es überhaupt keine verlässlichen
Daten.
In der Mittagspause verständigten
sich die drei führenden Geldhäuser
New Yorks, die Morgan Bank, die Chase
National Bank und die National City
Bank, auf ein gemeinsames Vorgehen:
Mit Mitteln der Institute sollte der Vizepräsident
der Börse Richard Whitney
selbst große Mengen Aktien kaufen, um
den Kursverfall aufzufangen. Dieses
Eingreifen der Banken dämpfte die Panik.
Insgesamt wurden bis 15 Uhr, als
der offizielle Börsenhandel schloss, fast
13 Millionen Aktien gehandelt – viermal
so viel wie an einem normalen Börsentag.
Trotzdem fiel der Dow Jones Index
dank der Stabilisierung nur um 2,1 Prozent,
nämlich von 305 auf 299 Punkte.
Als die Nachrichten über den vormittäglichen
Crash in New York Europa erreichten
– selbst Eilmeldungen benötigten
1929 per Telegraf für den Weg von
New York nach Berlin mindestens eine
Stunde, eher mehr –, waren die Börsen
in allen dortigen Hauptstädten schon
geschlossen. Umso schlimmer fielen die
Folgen am nächsten Morgen aus, dem
25. Oktober 1929 – er ging deshalb als
„Schwarzer Freitag“ ins Bewusstsein
der meisten europäischen Länder ein.
In New York hatten dagegen die beiden
folgenden Handelstage, Freitag und
Samstag, scheinbar eine Stabilisierung
gebracht; ins Wochenende jedenfalls
ging der Dow Jones mit knapp 299
Punkten. Am Montag allerdings war das
Vertrauen der Anleger in die Fähigkeit
der Banken aufgebraucht, die Lage zu
beruhigen – so setzte ein erneuter Kurssturz
ein. 13 Prozent verlor der Index,
bei allerdings verglichen mit den Vortagen
geringerem Handelsvolumen. 260
Punkte bedeuteten einen Rückfall auf
das Niveau fast genau ein Jahr zuvor.
Und dann kam der 29. Oktober 1929.
Es ging weitere 11,25 Prozent nach unten,
auf etwa 230 Punkte; gegenüber
dem bisherigen Allzeithoch von 381
Punkten am 3. September 1929 war das
ein Gesamtverlust von fast 40 Prozent.
Und das bei einem gigantischen Handelsvolumen
von mehr als 16 Millionen
Aktien. Nun gab es endgültig kein Halten
mehr. Der Grund war einfach: Viele
Investoren, vor allem kleine, aber
durchaus auch Profis, hatten im trügerischen
Vertrauen auf stetig steigende
Kurse in den vergangenen Jahren Aktien
auf Kredit erworben. Die Kurse
schienen nur eine Richtung zu kennen:
aufwärts! Ein Risiko, so glaubten viele,
bestehe nicht. Das war nach den Entwicklungen
verständlich, aber falsch.
Am 20. Oktober 1929 hatten verschiedene
Sonntagszeitungen in New York
und andernorts in den USA spekuliert,
die Banken könnten von ihren Kreditnehmern
zusätzlich zu den ohnehin
verpfändeten Aktienpaketen frisches
Geld als Sicherheit fordern. Das war
zwar bis zum Morgen des 29. Oktober
noch nicht konkret geworden, doch die
Verluste des Montags sorgten dafür,
dass die Sorge überhandnahm: Verkaufen
um jeden Preis wurde zur vorherrschenden
Devise.
Viele Anleger hatten sich hoffnungslos
durch Wertpapierkäufe verschuldet.
Sie konnten keinerlei liquide Mittel
mehr beschaffen, um eventuelle Forderungen
zu erfüllen – sie mussten ihre
Aktien verkaufen, um an Bargeld zu
kommen. Damit setzte sich die Herde in
Bewegung.
Die Wirtschaft war 1929 zwar noch
nicht annähernd so stark global vernetzt
wie 90 Jahre später – zumindest
die Realwirtschaft nicht. Dennoch erwiesen
sich die Abhängigkeiten als stark
genug, um weltweit schlimme Folgen zu
haben. Das hatte vor allem mit Geld zu
tun. Denn viele europäische Unternehmen
und Kommunen, in Deutschland
etwa Köln, waren seit Mitte der 1920er-
Jahre abhängig von oft relativ kurzfristigen
Krediten aus den USA.
Angesichts des reihenweisen Zusammenbrechens
von amerikanischen Banken,
die mit nun abzuschreibenden Krediten
für Aktienkäufe von Kleinanlegern
ihr Eigenkapital völlig aufgebraucht
hatten, blieb die fest eingeplan-
WALL STREET
IN PANIK, WEIL DIE
KURSE CRASHEN
„BROOKLYN DAILY EAGLE“
te regelmäßige Verlängerung dieser
Darlehen aus. Im Gegenteil zogen viele
Institute ihre kurzfristig verliehenen
Mittel aus Europa ab. Unternehmen
und Kommunen, die auf Pump investiert
hatten, ging zur Jahreswende 1929/
30 oder bald danach buchstäblich das
Geld aus. Mitten im ohnehin umsatzschwächsten
Winterquartal mussten
die Firmen Mitarbeiter in Scharen entlassen
– in Deutschland etwas früher, in
Großbritannien und Frankreich später.
Viele Betroffene reagierten auf die
naheliegende Weise: Sie hielten das ihnen
verbliebene Geld beisammen, reduzierten
Ausgaben, sparten also – und be-
förderten dadurch die Krise weiter. Das
Eingreifen der New Yorker Großbanken
hatte, so der vorherrschende Eindruck,
nichts gebracht; also würde auch weiteres
„deficit spending“ verpuffen. Eine
Fehleinschätzung mit fatalen Folgen,
wie man im Nachhinein erkannte.
Doch diese Einsicht kam wesentlich
zu spät, zumal in Deutschland die SPDgeführte
Große Koalition unter Kanzler
Hermann Müller Ende März 1930 zerbrach
und sein Nachfolger Heinrich
Brüning die Wirtschaftskrise zumindest
als Gelegenheit betrachtete, die verhassten
Reparationsforderungen möglichst
rasch erlassen zu bekommen – ein
Kurs, für den es seiner Meinung nach
keine Alternative gab. Brüning setzte
auf Deflation, also Preisrückgang; ein
wesentliches Mittel war die Ausgabenreduktion,
die jedoch zwangsläufig den
Rückgang der Nachfrage beschleunigte:
ein Teufelskreis. Diesen Fehler machten
allerdings nicht nur deutsche Politiker
und Wirtschaftsfachleute. Auch die US-
Notenbank reduzierte die Summe des
umlaufenden Geldes 1930 um fast ein
Drittel. Das war genau die falsche Reaktion,
wie zahlreiche Ökonomen seither
analysiert und wie weitere Wirtschaftskrisen
gezeigt haben, zuletzt die Banken-
und Finanzkrise 2008/09.
An der Wall Street wirkte der destruktive
Herdentrieb noch bis Mitte
1932 weiter – der Dow Jones fiel schließlich
auf nur noch 41 Punkte, rechnerisch
derselbe Wert wie bei seiner Einführung
1896. Fast ein Viertel der arbeitsfähigen
Bevölkerung in den USA hatte weder
Job noch Einkommen, die Sozialleistungen
waren zum Leben zu wenig
und oft nicht einmal genug, um das
Sterben zu verhindern.
Erst als der neue US-Präsident Franklin
D. Roosevelt ab März 1933 mit kreditfinanzierten
Investitionsprogrammen
gegensteuerte, um Arbeitsplätze zu
schaffen, änderte sich das. In Deutschland
regierte derweil schon ein neuer
Reichskanzler: Er hörte auf den Namen
Adolf Hitler.
ANZEIGE
1 %
p.a.
Setzen Sie Akzente für Ihre Geldanlage.
Bei Kauf oder Übertrag von Wertpapieren ab 25.000 €
für 6 Monate Festgeld in gleicher Höhe.
Angebot freibleibend.
089 59 99 80
www.merkur-privatbank.de