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14 WIRTSCHAFT
DIE WELT DONNERSTAG, 29. OKTOBER 2020
Hongkongs Abstieg
hat bereits begonnen
Wegen der Kontrollübernahme der chinesischen Regierung verlassen immer mehr Westler Asiens Finanzzentrum.
Touristen bleiben fern, Sanktionen drohen. Andere Städte der Region könnten profitieren
Vor den Toren Hongkongs entsteht
eine neue Stadt – im Wasser. 1700
Hektar künstliche Inseln sollen im
Südchinesischen Meer aufgeschüttet
werden, um ein Wirtschaftszentrum
aus dem Boden zu stampfen. Kostenpunkt
des Prestigeprojekts namens „Lantau Tomorrow“:
mindestens 60 Milliarden Euro.
VON JAN KLAUTH
Das entspricht etwa dem Bruttoinlandsprodukt
Luxemburgs – oder mehr als der Hälfte
der Hongkonger Steuerreserven 2019.
Oberster Bauträger ist Carrie Lam: die Regierungschefin
der Sonderverwaltungszone, von
Kritikern als Marionette Pekings bezeichnet.
Für Clara Cheung ist das Projekt ein weiterer
Beweis für den Ausverkauf ihrer Heimatstadt.
Die 40-Jährige ist Lokalpolitikerin in
Hongkong. Die Inseln seien schon jetzt ein
„weißer Elefant“, eine Investitionsruine also,
die vor allem einem Zweck diene: Chinas Kontrolle
über Hongkong auszuweiten. „Wie
schon bei anderen milliardenschweren Bauvorhaben,
etwa dem Bau der U-Bahn, gehen
auch jetzt die Aufträge an Firmen vom chinesischen
Festland“, meint Cheung. Das schaffe
nicht nur Abhängigkeit, sondern könne Hongkong
auf die Sanktionsliste der USA befördern.
Davon ist die Hafenstadt bislang verschont
geblieben – noch ist sie Asiens wichtigstes Finanzzentrum.
Allerdings verliert Hongkong
durch Chinas Griff und die Einführung des
neuen nationalen Sicherheitsgesetzes immer
mehr von seiner Internationalität und Anziehungskraft,
die Wirtschaft kriselt. Das Gesetz
kriminalisiert alles, was Peking als Staatsgefährdung
betrachtet – mit lebenslanger Haft
als Höchststrafe. „Der Zustand von Rechtsstaatlichkeit,
Presse- und Meinungsfreiheit in
Hongkong nähert sich rapide dem in China
an“, sagt die FDP-Bundestagsabgeordnete Bettina
Stark-Watzinger.
Die Folge: Hongkong wird unattraktiv. Die
Zahl der ausgestellten Arbeitsvisa sank in der
ersten Jahreshälfte 2020 um mehr als 60 Prozent
von knapp 20.000 auf 7700. Das hat Auswirkungen
auf die Wirtschaft. Politische Unruhen,
die Pandemie und das Sicherheitsgesetz
sorgten nicht nur für einen Einbruch der
Die „Hong Kong Diaries“
Junge Journalisten der neu gegründeten
FreeTech – Academy of Journalism and
Technology, in die die bisherige Axel Springer
Akademie integriert und um einen
technologischen Ausbildungsstrang ergänzt
wird, haben einen Weg gefunden,
selten gewordene Bilder von den Protesten
und Stimmen aus Honkong einzufangen,
ohne vor Ort zu sein. Zum Projekt
gehören ein 20-minütiger Dokumentarfilm
und acht multimediale Tagebücher.
Die Chats wurden auf Englisch geführt
und die Inhalte kuratiert.
lukrativen Tourismusindustrie in der Acht-
Millionen-Metropole, sondern schaden auch
dem Einzelhandel: Dessen Umsatz sank gegenüber
2019 um fast 25 Prozent.
Schon als 2019 die Proteste der Pro-Demokratie-Bewegung
aufflammten, blieben viele
Touristen fern – vor allem, nachdem Teile der
Bewegung zu Gewalt tendierten. Corona verstärkt
den Trend: Zwar verzeichnet Hongkong
im internationalen Vergleich geringe Infektionszahlen,
trotzdem sind seit dem Frühjahr
die Grenzen für Nichteinwohner dicht. All das
verändert die Stadt. „Die Kontrollübernahme
Chinas wird zur Abwanderung internationaler
Unternehmen führen“, prophezeit Lokalpolitikerin
Cheung. Noch leben mehr als 90.000 Expats
in der Stadt. Doch sie beobachte einen
Stimmungsumschwung. Darüber berichtet sie
im Multimediaprojekt „Hong Kong Diaries“
der FreeTech – Academy of Journalism and
Technology (gehört wie WELT zur Axel Springer
SE). „Viele wollen die Stadt verlassen. Für
sie ist Hongkong kein freier und sicherer Ort
mehr.“ Nun verschreckt vor allem die Kontrollübernahme
Pekings Auswanderer – und
führt zu Umplanungen vor Amtsantritt: Prominentestes
Beispiel ist bislang der neue
Asien-Pazifik-CEO der Deutschen Bank, Alexander
von zur Mühlen. Die Geschäfte leitet er
künftig in Singapur statt in Hongkong. Vor einer
offiziellen Begründung drückt sich die
Bank bisher – wohl um Peking nicht zu verstimmen.
„Dieser Umzug hat eine Signalwirkung, das
könnte die Richtung prägen“, glaubt hingegen
Heribert Dieter, Wirtschaftsforscher bei der
Stiftung Wissenschaft und Politik und bis vor
Kurzem Gastprofessor in Hongkong. Allein
rund 700 deutsche Firmen sitzen in Hongkong.
Die Sonderverwaltungszone ist eine
Drehscheibe für finanzielle Dienstleistungen –
größter Konkurrent in Asien ist Singapur.
Doch nicht nur das Sicherheitsgesetz sorgt
für Verunsicherung in den Asienzentralen
westlicher Firmen. Lokalpolitikerin Cheung
moniert: „Die chinesische Regierung ist von
Korruption durchsetzt, Anklagen und Verhaftungen
erfolgen willkürlich.“ Westliche Unternehmen
und deren Angestellte seien davon
nicht ausgenommen – sie rechnet mit einem
zunehmenden Abschreckungseffekt.
Auch die zunehmende Einmischung der chinesischen
Staatsführung beobachten Unternehmen
mit Sorge. „In Hongkong versucht die
Kommunistische Partei über direkte politische
Steuerung ihren Staatskapitalismus plakativ
zu stützen“, meint Stark-Watzinger. Nur ein
Beispiel: der jüngste Gang des chinesischen
Fintech Ant Financial an die Hongkonger Börse.
„Auf Direktive Pekings werden wir vermutlich
weitere prominente Börsengänge chinesischer
Unternehmen in Hongkong sehen“,
glaubt die FDP-Abgeordnete.
Wer als Westler hingegen in Hongkong
bleibt, verscherzt es sich mit Peking ungern.
„Sich gegen Chinas Politik zu positionieren, ist
für die meisten Unternehmen ein Balanceakt.
Man sieht die fragwürdigen Entwicklungen auf
der einen Seite, andererseits möchte niemand
auf Gewinne verzichten“, so Dieter. Wie angespannt
die Lage ist, zeigt das Beispiel der deutschen
Außenhandelskammer in der Stadt: Deren
Chef Wolfgang Ehmann übte im Interview
zurückhaltende Kritik an Peking. Auf Nachfrage
von WELT äußert er sein Bedauern und
schreibt, man sei „bis auf Weiteres angewiesen,
keine Interviews zu geben“.
Andere Westler scheinen mit dem Abbau demokratischer
Rechte oft kein Problem zu haben
– zumindest vordergründig. So sprach
zum Beispiel die britische HSBC-Bank ihre
volle Unterstützung für das Sicherheitsgesetz
aus, kaum war es verabschiedet. Es könne helfen,
„langfristiges wirtschaftliches Wachstum
und soziale Stabilität zu erhalten“. Ökonom
Dieter geht vom Gegenteil aus. „Viel hängt von
den Mitarbeitern ab. Sie können nicht mehr
frei sprechen, die Frustration äußert sich nun
im Privaten. Unternehmen werden bald
Schwierigkeiten haben, Mitarbeiter nach
Hongkong zu rekrutieren.“ Noch pessimistischer
seien die Aussichten für ausländische
Journalisten und Wissenschaftler. „Sie können
kaum noch in China arbeiten und sehen sich
zunehmend auch in Hongkong von einer
scharfen Zensur bedroht.“ Dieters weiß, wovon
er spricht: Ein Kollege, ebenfalls Professor,
wurde entlassen, weil er sich mit der Pro-
Demokratie-Bewegung solidarisiere.
Dass Singapur Hongkong in den nächsten
Jahren abhängt, glaubt nicht nur Dieter.
„Wenn die Freiheit geht, bleibt das Geld noch
eine Zeit erhalten. Der Bedeutungsverlust in
Hongkong wird zeitlich hinterherhinken. Ein
florierender Wirtschaftsstandort braucht eine
freie Presse und Gerichte, die unabhängig ihre
Urteile sprechen“, sagt die FDP-Abgeordnete
Stark-Watzinger. „In Asien stehen Singapur
und andere Standorte als Alternativen bereit.“
Eine Abwanderung des ausländischen Kapitals
in den bei Expats ebenfalls beliebten Inselstaat
ist nicht garantiert: Singapur steckt seit
Monaten in einer Rezension, die sich durch
den pandemiebedingten Einbruch von Tourismus
und Außenhandel noch verstärkte. Meinungs-
und Pressefreiheit sind dort ebenfalls
eingeschränkt und die Lebenshaltungskosten
ähnlich hoch wie in Hongkong. Sollten weite
Teile des Finanzsektors aus Hongkong abwandern,
könnten noch weitere Städte profitieren,
glaubt Dieter: Tokio, Seoul oder Sydney etwa.