31.08.2021 Aufrufe

ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung

DIE WELT DONNERSTAG, 29. OKTOBER 2020 * FORUM 3

LEITARTIKEL

so zerrissen sind. Und gleichzeitig: Wie könnten

sie es nicht sein? Wenige Tage nachdem ich

aus Deutschland eingereist war, besuchte ich

eine Trump-Rally im Bundesstaat Virginia. Ich

stand auf der Medientribüne. Wenige Meter

von mir entfernt sprach der Präsident zu seinen

Fans, die sich zu Hunderten eingefunden

hatten. „Da sind die Fake-News“, rief Trump

und deutete in unsere Richtung. Die Masse

drehte sich zu uns um, brach in Buhrufe aus.

Die Ablehnung stand in die Gesichter geschrieben.

Die Amerikaner kennen nicht mehr die gleiche

Wahrheit. In den sozialen Medien ist es

leicht, in der eigenen Echokammer zu bleiben.

Wer für Trump ist, schaut Fox News. Wer gegen

ihn ist, schaltet CNN ein. „Wir brauchen

ein gemeinsames Verständnis für Realität“,

sagt Roger McNamee, amerikanischer Geschäftsmann,

in der Netflix-Doku „Das Dilemma

mit den sozialen Medien“. Der Investor ist

früh bei Facebook eingestiegen, heute ist er

scharfer Kritiker der Plattform. „Wenn jeder

Anspruch auf seine eigenen Fakten hat, sind

Kompromisse nicht nötig. Man muss sich

nicht einmal austauschen“, sagt er. Das ist es,

was ich hier jeden Tag erlebe. Die Abwesenheit

von Austausch. In New Mexico traf ich den Besitzer

einer Pferderanch, die schon seinem Vater

gehört hatte. „Wir Amerikaner haben aufgehört,

miteinander zu reden“, sagte er.

Im heutigen Amerika scheint es erstaunlich,

dass zwei so gegensätzliche Menschen wie die

Richter Scalia und Ginsburg befreundet sein

konnten. Ginsburg wurde einmal in einem Interview

danach gefragt. „Er griff Ideen an,

nicht Menschen“, sagte sie. Kann man beides

noch trennen? Wenn ich Demokraten treffe,

tragen sie Masken. Ein Gewerkschafter in

Flint, Michigan, bestand kürzlich darauf, sich

für ein Interview im Freien zu treffen. Eine

Stunde lang unterhielten wir uns bei pfeifendem

Wind. Bei einer Wahlveranstaltung der

Republikaner in einem nahe gelegenen Ort

tummelten sich Dutzende in einem Saal – ohne

Masken, ohne Abstand, mit geschlossenen

Fenstern. Mit meiner FFP2-Maske fiel ich auf

wie ein bunter Hund. Masken sind hier keine

Schutzmaßnahme. Sie sind ein politisches

Statement.

Die neue amerikanische Unversöhnlichkeit

sorgt auch nachwachsende Generationen. Eine

Achtklässlerin aus dem Bundesstaat Utah

schrieb einen Aufsatz, aus dem die Moderatorin

während der Fernsehdebatte der Vizepräsidentschaftskandidaten

vorlas. „In den Nachrichten

sehe ich Streit zwischen Demokraten

und Republikanern. In den Nachrichten sehe

ich Bürger, die gegen Bürger kämpfen. In den

Nachrichten sehe ich Kandidaten gegnerischer

Parteien, die versuchen, sich gegenseitig niederzumachen“,

schrieb das Mädchen. Und

fragte: „Wenn unsere politische Führung nicht

miteinander auskommt, wie sollen dann die

Bürger miteinander auskommen?“

Ich konnte nicht umhin, die Antwort des Vizepräsidenten

Mike Pence als zynisch zu empfinden.

„Hier in Amerika können wir anderer

Meinung sein“, sagte er. „Wir können heftig

debattieren, wie Senatorin Harris und ich es

heute Abend auf dieser Bühne getan haben.

Aber wenn die Debatte vorbei ist, kommen wir

als Amerikaner zusammen. Und genau das tun

die Menschen überall in diesem Land, in großen

und kleinen Städten.“

Wenn es doch so wäre.

tiker jene Art von Kulturkampf vermeiden,

der in anderen Ländern das gesellschaftliche

Klima vergiftet. Diese Erfahrung hat die CSU

machen müssen. Mittlerweile zeigt uns unsere

Schwesterpartei, dass klare politische Führung

kein Widerspruch zu einem integrativen

Stil sein muss. Wer beides verbindet, erreicht

die Mitte – und entzieht spalterischen Kräften

am Rand die Aufmerksamkeit. Auch mit

seinen zumindest missverständlichen Äußerungen

über Homosexuelle und mehr noch

mit seinen unmissverständlichen Äußerungen

über die Arbeitsmoral während der Corona-

Krise hat Merz sich in dieser Hinsicht nicht

empfohlen. Staatsmännisch klingt anders.

Die CDU braucht einen Kandidaten, der

das Erbe Angela Merkels nicht abwickelt,

sondern kritisch weiterentwickelt. Dem die

Menschen zutrauen, Corona zu bekämpfen,

genauso wie Visionen für die Zeit nach Corona

zu entwickeln. Wie das gelingen kann, lässt

sich gerade gut beobachten: In der Krise bewährt

sich derzeit nicht nur die Düsseldorfer

Staatskanzlei, sondern auch das Bundesgesundheitsministerium.

T Gordon Hoffmann und Manfred Pentz

sind Generalsekretäre

der CDU in Brandenburg und Hessen.

Als die Spannungen zwischen

Frankreich und der Türkei

am Dienstag einen vorläufigen

Höhepunkt erreicht zu

haben schienen, machte das

Satire-Magazin „Charlie

Hebdo“ das, wofür es berühmt

ist: Es setzte noch einen drauf. Das Titelblatt

zeigt eine Karikatur des türkischen

Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die

Überschrift lautet „Privat ist er sehr lustig“.

Zu sehen ist Erdogan in Unterhose, er hat eine

Dose Bier in der rechten Hand und entblößt

mit der linken das Gesäß einer verschleierten

Frau. Sein Blick ist angeschickert

lüstern. In seiner Sprechblase steht ein Satz,

der metaphysische Entspanntheit signalisiert:

„Ouuh, der Prophet.“

Die Reaktionen aus der Türkei ließen nicht

auf sich warten. Erdogans Kommunikationsdirektor

Fahrettin Altun twitterte, „Macrons antimuslimisches

Programm trägt Früchte“. Man

verurteile den „ekelhaften Versuch“ von „Charlie

Hebdo“, „kulturellen Rassismus und Hass“

zu verbreiten. Der stellvertretende Kulturminister

der Türkei, Dr. Serdar Cam, griff zu einer

für einen Kulturfunktionär ungewöhnlich herben

Formulierung: „‚Charlie Hebdo‘ – Ihr seid

Bastarde. Ihr seid Hurensöhne.“ Nachdem das

türkische Präsidialamt „die notwendigen juristischen

und diplomatischen Maßnahmen“ ankündigte,

erklärte die hörige Staatsanwaltschaft

in Ankara kurz darauf, man habe ein Ermittlungsverfahren

gegen die Verantwortlichen

von „Charlie Hebdo“ eingeleitet.

SASCHA LEHNARTZ

Mit Islamisten

kann man

nicht reden

Die Krise zwischen Frankreich und der Türkei ist

Vorbote eines neuen Kulturkampfes. Es geht um die

Frage, welcher Islam in Europa eine Zukunft hat.

Und wer die Deutungsmacht über ihn besitzt

Nüchtern muss man feststellen, dass der

Dialog der Kulturen zwischen der muslimischen

und der westlichen Welt gerade nicht

einmal mehr in Ansätzen gelingt. Zwei Wochen

nachdem ein offenbar von islamistischer

Hetze motivierter, 18 Jahre alter Mann tschetschenischer

Abstammung in einem Vorort

von Paris den Lehrer Samuel Paty bestialisch

ermordete, weil dieser im Unterricht das Thema

Meinungsfreiheit anhand von Mohammed-

Karikaturen diskutiert hatte, ist das eine deprimierende

Diagnose. Von einer Annäherung

in der entscheidenden Frage, wo die Wurzeln

des islamistischen Terrors liegen und wie er

effektiv (und das hieße gemeinsam) zu bekämpfen

wäre, scheint man fast 20 Jahre nach

den Anschlägen des 11. September 2001 weiter

entfernt denn je.

Dass ausgerechnet Erdogan, dem manch einer

vor nicht allzu langer Zeit noch zutraute,

eine Vermittlerrolle zu spielen, die Türkei an

die EU heranzuführen und so ein leuchtendes

Beispiel für eine aufgeklärt-modernes, islamisch

geprägtes Gemeinwesen zu liefern, heute

die Empörung der Radikalen befeuert, ist

dabei nur eine von zahllosen bitteren Pointen.

Der türkische Präsident bedient sich dabei einer

Technik, wie sie in den sozialen Medien

weit verbreitet ist: Man reißt eine Aussage aus

ihrem Zusammenhang, versteht sie absichtlich

miss und unterstellt ihrem Urheber niederste

Absichten, ergo „Islamophobie“, „Rassismus“

oder gleich „Faschismus“. Die Maßlosigkeit

der Reaktion verstärkt dabei das Empörungspotenzial

der eigenen Anhänger. Diese bekommen

gratis ein Feindbild geliefert, auf das sie

ihre Gesamtfrustration entladen können.

Am vergangenen Wochenende hatte Erdogan

bei mehreren Auftritten in der türkischen

Provinz seinem französischen Konterpart

vorgeworfen, eine antimuslimische Politik zu

betreiben. So jemand, sagte Erdogan über Macron,

sei ein klinischer Fall und gehöre in psychiatrische

Behandlung. Am Montag rief Erdogan

zum Boykott französischer Waren auf

und bezeichnete europäische Staatschefs bei

der Gelegenheit als „Faschisten im wahrsten

Sinne“ und „Kettenglieder des Nationalsozialismus“.

Erdogan richtet sich mit diesen Tiraden

nicht nur an sein eigenes Volk, sondern versucht,

sich zur Leitfigur der Proteste zu machen,

die sich in der muslimischen Welt seit

gut einer Woche gegen Macron richten. Auslöser

war die Rede, die der französische Präsident

in der Pariser Sorbonne bei der Gedenkfeier

zu Ehren des ermordeten Lehrers Samuel

Paty hielt. Macron begann dort mit der Bemerkung,

er werde an diesem Abend nicht

über den radikalen Islamismus sprechen, der

zum Terrorismus führe, sondern über den

Menschen und den Lehrer, der getötet worden

sei, weil er seinen Schülern beibringen wollte,

wie man Bürger der Republik mit allen Freiheiten

und Pflichten wird. Dieser Samuel Paty,

sagte Macron, sei im Moment seines Todes

zum Gesicht der Französischen Republik geworden,

und „unseres Willens, die Terroristen

zu brechen, die Islamisten kleinzubekommen

und als Gemeinschaft freier Bürger in unserem

Land zu leben“.

Diese Freiheit zu verteidigen begreift Macron

als Vermächtnis des ermordeten Lehrers.

Im Namen von Freiheit und Laizität, so Macron,

verzichte man auch nicht auf Karikaturen

und Zeichnungen. Dieses Bekenntnis zu

den Werten der Aufklärung, welche grundsätzlich

die Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung

höher stellen als religiöse oder geschmackliche

Empfindlichkeiten Einzelner,

wird von politisch interessierter Seite in der islamischen

Welt gezielt fehlgedeutet als Willensbekundung

des französischen Präsidenten,

den Propheten um jeden Preis beleidigen

und den Islam verfolgen zu wollen.

Die Folge sind Proteste unter anderem in

Gaza, Marokko, im Libanon und in Ägypten. In

Katar und im Jemen räumten Geschäfte französische

Waren aus den Regalen, der libysche

Nationalrat schloss Frankreich von der Ölförderung

im Land aus. Der tschetschenische

Gangsterpräsident Ramsan Kadyrow verglich

Macron mit einem Terroristen, der Muslime in

den Terrorismus treibe. In Bangladesch folgten

Zehntausende dem Aufruf der Islamistenpartei

IAB, zu demonstrieren. Plakate zeigten

Macron als Schwein, seine Puppe wurde verbrannt.

Der Vorsitzende der IAB erklärte, Macron

bete den Teufel an. In Pakistan forderte

ein Imam per Videobotschaft den Premierminister

auf, eine Atombombe auf Frankreich zu

werfen. Es ist der mörderische Irrsinn solcher

Durchgeknallter, die ein Recep Tayyip Erdogan

munter mitbefeuert.

Wie haltlos die Vorwürfe der „Islamophobie“

gegen Macron sind, wird deutlich, wenn

man sich jene Rede genauer anschaut, in der er

vor nicht einmal drei Wochen – also noch vor

der Ermordung Patys – seinen Plan zur Bekämpfung

des „islamischen Separatismus“ erläutert

hatte. Macron bezeichnet in dieser Rede

zwar den Islam als „Religion in der Krise“,

macht aber sehr deutlich, dass es ihm nicht darum

geht, Muslime zu bekämpfen, sondern

ebenjenen radikalen Islam, dessen Ziel darin

besteht, die Republik von innen auszuhöhlen.

Die mittlerweile sehr gut organisierten

Strukturen islamistischer Organisationen haben

sich weitgehend ungehindert vor allem in

abgehängten Vororten ausbreiten können, aus

denen sich die Republik mitsamt ihrem Emanzipationsversprechen

zurückgezogen hatte.

Macron benennt relativ schonungslos Fehler,

welche die französische Politik auf diesen

„verlorenen Territorien“ jahrzehntelang gemacht

hat, und bekundet seine Entschlossenheit,

sie zu korrigieren. Dazu fordert er unter

anderem eine „Neustrukturierung“ des Islam

in Frankreich. Genau diese Formulierung kritisierte

Erdogan bereits vor Wochen heftig als

„anmaßend und unverschämt“.

Dass Erdogan auf diesen Ansatz so empfindlich

reagiert, ist wenig überraschend. Denn

was der französische Präsident hier skizziert,

ist der Aufbau eines Islams in und aus Frankreich,

der sich ausländischen Ein- und Geldflüssen

entzieht – und der fest auf dem Wertefundament

der Republik steht. Macron ist klar,

dass er hier eine Utopie entwirft, ein politisches

Projekt, das Jahrzehnte dauern wird.

Aber am Ende stünde ein Islam, der mit den

Ideen der Aufklärung vereinbar wäre. Die Krise

zwischen Frankreich und der Türkei erscheint

so als Vorbote einer neuen Episode im Kampf

der Kulturen. Es geht um die Frage, welcher Islam

in Europa eine Zukunft hat. Und wer die

Deutungsmacht über ihn besitzen soll.

Es ist klar, dass jemand wie Recep Tayyip Erdogan

und sämtliche Islamisten einen aufklärungskompatiblen

Islam nicht wollen. Er würde

ihr Geschäftsmodell ruinieren. Deshalb

schreien sie so laut „Islamophobie“.

#Free

them all

Byobe Malenga

Die Organisation Reporter

ohne Grenzen hat

die Behörden in der

Demokratischen Republik Kongo

dazu aufgerufen, den Journalisten

Byobe Malenga zu schützen.

Malenga, der als Korrespondent

für den britischen

Rundfunksender BBC und als

Direktor des Radiosenders Radio

Ngoma ya Amani arbeitet, war

Ende September das Ziel eines

bewaffneten Angriffs geworden.

Damals drangen drei maskierte

und mit Kalaschnikows bewaffnete

Männer in der Stadt Fizi in

die Redaktion von Radio Ngoma

ya Amani ein und suchten nach

Malenga. Nachdem dieser dort

nicht aufzufinden war, stürmten

sie seine Privatwohnung. Glücklicherweise

fanden sie den Journalisten

auch dort nicht vor.

Malenga verständigte nach

dem Vorfall unverzüglich die

kongolesischen Behörden. Diese

rieten ihm laut eigener Aussage

jedoch lediglich dazu, selbst

„Vorkehrungen zu treffen“. Aus

Angst um sein Leben floh der

Journalist daraufhin aus der

Stadt. Gegenüber Reporter

ohne Grenzen gab Malenga an,

seitdem über soziale Medien

mehrere Drohschreiben erhalten

zu haben. In vielen der

Nachrichten wird ihm vorgeworfen,

gegen die Regierung zu

arbeiten und die Mai-Mai, eine

Gruppe von regionalen Milizen

im Osten des Landes, zu unterstützten.

In Kooperation mit

REPORTER OHNE GRENZEN

Ihre Post an: DIE WELT, Brieffach 2410,

10888 Berlin, Fax: (030) 2591-71606,

E-Mail: forum@welt.de

Leserbriefe geben die Meinung unserer

Leser wieder, nicht die der Redaktion.

Wir freuen uns über jede Zuschrift,

müssen uns aber das Recht der Kürzung

vorbehalten. Aufgrund der sehr großen

Zahl von Leserbriefen, die bei uns eingehen,

sind wir leider nicht in der Lage, jede

einzelne Zuschrift zu beantworten.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!