ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP
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DIE WELT DONNERSTAG, 29. OKTOBER 2020 * FORUM 3
LEITARTIKEL
so zerrissen sind. Und gleichzeitig: Wie könnten
sie es nicht sein? Wenige Tage nachdem ich
aus Deutschland eingereist war, besuchte ich
eine Trump-Rally im Bundesstaat Virginia. Ich
stand auf der Medientribüne. Wenige Meter
von mir entfernt sprach der Präsident zu seinen
Fans, die sich zu Hunderten eingefunden
hatten. „Da sind die Fake-News“, rief Trump
und deutete in unsere Richtung. Die Masse
drehte sich zu uns um, brach in Buhrufe aus.
Die Ablehnung stand in die Gesichter geschrieben.
Die Amerikaner kennen nicht mehr die gleiche
Wahrheit. In den sozialen Medien ist es
leicht, in der eigenen Echokammer zu bleiben.
Wer für Trump ist, schaut Fox News. Wer gegen
ihn ist, schaltet CNN ein. „Wir brauchen
ein gemeinsames Verständnis für Realität“,
sagt Roger McNamee, amerikanischer Geschäftsmann,
in der Netflix-Doku „Das Dilemma
mit den sozialen Medien“. Der Investor ist
früh bei Facebook eingestiegen, heute ist er
scharfer Kritiker der Plattform. „Wenn jeder
Anspruch auf seine eigenen Fakten hat, sind
Kompromisse nicht nötig. Man muss sich
nicht einmal austauschen“, sagt er. Das ist es,
was ich hier jeden Tag erlebe. Die Abwesenheit
von Austausch. In New Mexico traf ich den Besitzer
einer Pferderanch, die schon seinem Vater
gehört hatte. „Wir Amerikaner haben aufgehört,
miteinander zu reden“, sagte er.
Im heutigen Amerika scheint es erstaunlich,
dass zwei so gegensätzliche Menschen wie die
Richter Scalia und Ginsburg befreundet sein
konnten. Ginsburg wurde einmal in einem Interview
danach gefragt. „Er griff Ideen an,
nicht Menschen“, sagte sie. Kann man beides
noch trennen? Wenn ich Demokraten treffe,
tragen sie Masken. Ein Gewerkschafter in
Flint, Michigan, bestand kürzlich darauf, sich
für ein Interview im Freien zu treffen. Eine
Stunde lang unterhielten wir uns bei pfeifendem
Wind. Bei einer Wahlveranstaltung der
Republikaner in einem nahe gelegenen Ort
tummelten sich Dutzende in einem Saal – ohne
Masken, ohne Abstand, mit geschlossenen
Fenstern. Mit meiner FFP2-Maske fiel ich auf
wie ein bunter Hund. Masken sind hier keine
Schutzmaßnahme. Sie sind ein politisches
Statement.
Die neue amerikanische Unversöhnlichkeit
sorgt auch nachwachsende Generationen. Eine
Achtklässlerin aus dem Bundesstaat Utah
schrieb einen Aufsatz, aus dem die Moderatorin
während der Fernsehdebatte der Vizepräsidentschaftskandidaten
vorlas. „In den Nachrichten
sehe ich Streit zwischen Demokraten
und Republikanern. In den Nachrichten sehe
ich Bürger, die gegen Bürger kämpfen. In den
Nachrichten sehe ich Kandidaten gegnerischer
Parteien, die versuchen, sich gegenseitig niederzumachen“,
schrieb das Mädchen. Und
fragte: „Wenn unsere politische Führung nicht
miteinander auskommt, wie sollen dann die
Bürger miteinander auskommen?“
Ich konnte nicht umhin, die Antwort des Vizepräsidenten
Mike Pence als zynisch zu empfinden.
„Hier in Amerika können wir anderer
Meinung sein“, sagte er. „Wir können heftig
debattieren, wie Senatorin Harris und ich es
heute Abend auf dieser Bühne getan haben.
Aber wenn die Debatte vorbei ist, kommen wir
als Amerikaner zusammen. Und genau das tun
die Menschen überall in diesem Land, in großen
und kleinen Städten.“
Wenn es doch so wäre.
tiker jene Art von Kulturkampf vermeiden,
der in anderen Ländern das gesellschaftliche
Klima vergiftet. Diese Erfahrung hat die CSU
machen müssen. Mittlerweile zeigt uns unsere
Schwesterpartei, dass klare politische Führung
kein Widerspruch zu einem integrativen
Stil sein muss. Wer beides verbindet, erreicht
die Mitte – und entzieht spalterischen Kräften
am Rand die Aufmerksamkeit. Auch mit
seinen zumindest missverständlichen Äußerungen
über Homosexuelle und mehr noch
mit seinen unmissverständlichen Äußerungen
über die Arbeitsmoral während der Corona-
Krise hat Merz sich in dieser Hinsicht nicht
empfohlen. Staatsmännisch klingt anders.
Die CDU braucht einen Kandidaten, der
das Erbe Angela Merkels nicht abwickelt,
sondern kritisch weiterentwickelt. Dem die
Menschen zutrauen, Corona zu bekämpfen,
genauso wie Visionen für die Zeit nach Corona
zu entwickeln. Wie das gelingen kann, lässt
sich gerade gut beobachten: In der Krise bewährt
sich derzeit nicht nur die Düsseldorfer
Staatskanzlei, sondern auch das Bundesgesundheitsministerium.
T Gordon Hoffmann und Manfred Pentz
sind Generalsekretäre
der CDU in Brandenburg und Hessen.
Als die Spannungen zwischen
Frankreich und der Türkei
am Dienstag einen vorläufigen
Höhepunkt erreicht zu
haben schienen, machte das
Satire-Magazin „Charlie
Hebdo“ das, wofür es berühmt
ist: Es setzte noch einen drauf. Das Titelblatt
zeigt eine Karikatur des türkischen
Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Die
Überschrift lautet „Privat ist er sehr lustig“.
Zu sehen ist Erdogan in Unterhose, er hat eine
Dose Bier in der rechten Hand und entblößt
mit der linken das Gesäß einer verschleierten
Frau. Sein Blick ist angeschickert
lüstern. In seiner Sprechblase steht ein Satz,
der metaphysische Entspanntheit signalisiert:
„Ouuh, der Prophet.“
Die Reaktionen aus der Türkei ließen nicht
auf sich warten. Erdogans Kommunikationsdirektor
Fahrettin Altun twitterte, „Macrons antimuslimisches
Programm trägt Früchte“. Man
verurteile den „ekelhaften Versuch“ von „Charlie
Hebdo“, „kulturellen Rassismus und Hass“
zu verbreiten. Der stellvertretende Kulturminister
der Türkei, Dr. Serdar Cam, griff zu einer
für einen Kulturfunktionär ungewöhnlich herben
Formulierung: „‚Charlie Hebdo‘ – Ihr seid
Bastarde. Ihr seid Hurensöhne.“ Nachdem das
türkische Präsidialamt „die notwendigen juristischen
und diplomatischen Maßnahmen“ ankündigte,
erklärte die hörige Staatsanwaltschaft
in Ankara kurz darauf, man habe ein Ermittlungsverfahren
gegen die Verantwortlichen
von „Charlie Hebdo“ eingeleitet.
SASCHA LEHNARTZ
Mit Islamisten
kann man
nicht reden
Die Krise zwischen Frankreich und der Türkei ist
Vorbote eines neuen Kulturkampfes. Es geht um die
Frage, welcher Islam in Europa eine Zukunft hat.
Und wer die Deutungsmacht über ihn besitzt
Nüchtern muss man feststellen, dass der
Dialog der Kulturen zwischen der muslimischen
und der westlichen Welt gerade nicht
einmal mehr in Ansätzen gelingt. Zwei Wochen
nachdem ein offenbar von islamistischer
Hetze motivierter, 18 Jahre alter Mann tschetschenischer
Abstammung in einem Vorort
von Paris den Lehrer Samuel Paty bestialisch
ermordete, weil dieser im Unterricht das Thema
Meinungsfreiheit anhand von Mohammed-
Karikaturen diskutiert hatte, ist das eine deprimierende
Diagnose. Von einer Annäherung
in der entscheidenden Frage, wo die Wurzeln
des islamistischen Terrors liegen und wie er
effektiv (und das hieße gemeinsam) zu bekämpfen
wäre, scheint man fast 20 Jahre nach
den Anschlägen des 11. September 2001 weiter
entfernt denn je.
Dass ausgerechnet Erdogan, dem manch einer
vor nicht allzu langer Zeit noch zutraute,
eine Vermittlerrolle zu spielen, die Türkei an
die EU heranzuführen und so ein leuchtendes
Beispiel für eine aufgeklärt-modernes, islamisch
geprägtes Gemeinwesen zu liefern, heute
die Empörung der Radikalen befeuert, ist
dabei nur eine von zahllosen bitteren Pointen.
Der türkische Präsident bedient sich dabei einer
Technik, wie sie in den sozialen Medien
weit verbreitet ist: Man reißt eine Aussage aus
ihrem Zusammenhang, versteht sie absichtlich
miss und unterstellt ihrem Urheber niederste
Absichten, ergo „Islamophobie“, „Rassismus“
oder gleich „Faschismus“. Die Maßlosigkeit
der Reaktion verstärkt dabei das Empörungspotenzial
der eigenen Anhänger. Diese bekommen
gratis ein Feindbild geliefert, auf das sie
ihre Gesamtfrustration entladen können.
Am vergangenen Wochenende hatte Erdogan
bei mehreren Auftritten in der türkischen
Provinz seinem französischen Konterpart
vorgeworfen, eine antimuslimische Politik zu
betreiben. So jemand, sagte Erdogan über Macron,
sei ein klinischer Fall und gehöre in psychiatrische
Behandlung. Am Montag rief Erdogan
zum Boykott französischer Waren auf
und bezeichnete europäische Staatschefs bei
der Gelegenheit als „Faschisten im wahrsten
Sinne“ und „Kettenglieder des Nationalsozialismus“.
Erdogan richtet sich mit diesen Tiraden
nicht nur an sein eigenes Volk, sondern versucht,
sich zur Leitfigur der Proteste zu machen,
die sich in der muslimischen Welt seit
gut einer Woche gegen Macron richten. Auslöser
war die Rede, die der französische Präsident
in der Pariser Sorbonne bei der Gedenkfeier
zu Ehren des ermordeten Lehrers Samuel
Paty hielt. Macron begann dort mit der Bemerkung,
er werde an diesem Abend nicht
über den radikalen Islamismus sprechen, der
zum Terrorismus führe, sondern über den
Menschen und den Lehrer, der getötet worden
sei, weil er seinen Schülern beibringen wollte,
wie man Bürger der Republik mit allen Freiheiten
und Pflichten wird. Dieser Samuel Paty,
sagte Macron, sei im Moment seines Todes
zum Gesicht der Französischen Republik geworden,
und „unseres Willens, die Terroristen
zu brechen, die Islamisten kleinzubekommen
und als Gemeinschaft freier Bürger in unserem
Land zu leben“.
Diese Freiheit zu verteidigen begreift Macron
als Vermächtnis des ermordeten Lehrers.
Im Namen von Freiheit und Laizität, so Macron,
verzichte man auch nicht auf Karikaturen
und Zeichnungen. Dieses Bekenntnis zu
den Werten der Aufklärung, welche grundsätzlich
die Freiheit der Kunst und der Meinungsäußerung
höher stellen als religiöse oder geschmackliche
Empfindlichkeiten Einzelner,
wird von politisch interessierter Seite in der islamischen
Welt gezielt fehlgedeutet als Willensbekundung
des französischen Präsidenten,
den Propheten um jeden Preis beleidigen
und den Islam verfolgen zu wollen.
Die Folge sind Proteste unter anderem in
Gaza, Marokko, im Libanon und in Ägypten. In
Katar und im Jemen räumten Geschäfte französische
Waren aus den Regalen, der libysche
Nationalrat schloss Frankreich von der Ölförderung
im Land aus. Der tschetschenische
Gangsterpräsident Ramsan Kadyrow verglich
Macron mit einem Terroristen, der Muslime in
den Terrorismus treibe. In Bangladesch folgten
Zehntausende dem Aufruf der Islamistenpartei
IAB, zu demonstrieren. Plakate zeigten
Macron als Schwein, seine Puppe wurde verbrannt.
Der Vorsitzende der IAB erklärte, Macron
bete den Teufel an. In Pakistan forderte
ein Imam per Videobotschaft den Premierminister
auf, eine Atombombe auf Frankreich zu
werfen. Es ist der mörderische Irrsinn solcher
Durchgeknallter, die ein Recep Tayyip Erdogan
munter mitbefeuert.
Wie haltlos die Vorwürfe der „Islamophobie“
gegen Macron sind, wird deutlich, wenn
man sich jene Rede genauer anschaut, in der er
vor nicht einmal drei Wochen – also noch vor
der Ermordung Patys – seinen Plan zur Bekämpfung
des „islamischen Separatismus“ erläutert
hatte. Macron bezeichnet in dieser Rede
zwar den Islam als „Religion in der Krise“,
macht aber sehr deutlich, dass es ihm nicht darum
geht, Muslime zu bekämpfen, sondern
ebenjenen radikalen Islam, dessen Ziel darin
besteht, die Republik von innen auszuhöhlen.
Die mittlerweile sehr gut organisierten
Strukturen islamistischer Organisationen haben
sich weitgehend ungehindert vor allem in
abgehängten Vororten ausbreiten können, aus
denen sich die Republik mitsamt ihrem Emanzipationsversprechen
zurückgezogen hatte.
Macron benennt relativ schonungslos Fehler,
welche die französische Politik auf diesen
„verlorenen Territorien“ jahrzehntelang gemacht
hat, und bekundet seine Entschlossenheit,
sie zu korrigieren. Dazu fordert er unter
anderem eine „Neustrukturierung“ des Islam
in Frankreich. Genau diese Formulierung kritisierte
Erdogan bereits vor Wochen heftig als
„anmaßend und unverschämt“.
Dass Erdogan auf diesen Ansatz so empfindlich
reagiert, ist wenig überraschend. Denn
was der französische Präsident hier skizziert,
ist der Aufbau eines Islams in und aus Frankreich,
der sich ausländischen Ein- und Geldflüssen
entzieht – und der fest auf dem Wertefundament
der Republik steht. Macron ist klar,
dass er hier eine Utopie entwirft, ein politisches
Projekt, das Jahrzehnte dauern wird.
Aber am Ende stünde ein Islam, der mit den
Ideen der Aufklärung vereinbar wäre. Die Krise
zwischen Frankreich und der Türkei erscheint
so als Vorbote einer neuen Episode im Kampf
der Kulturen. Es geht um die Frage, welcher Islam
in Europa eine Zukunft hat. Und wer die
Deutungsmacht über ihn besitzen soll.
Es ist klar, dass jemand wie Recep Tayyip Erdogan
und sämtliche Islamisten einen aufklärungskompatiblen
Islam nicht wollen. Er würde
ihr Geschäftsmodell ruinieren. Deshalb
schreien sie so laut „Islamophobie“.
#Free
them all
Byobe Malenga
Die Organisation Reporter
ohne Grenzen hat
die Behörden in der
Demokratischen Republik Kongo
dazu aufgerufen, den Journalisten
Byobe Malenga zu schützen.
Malenga, der als Korrespondent
für den britischen
Rundfunksender BBC und als
Direktor des Radiosenders Radio
Ngoma ya Amani arbeitet, war
Ende September das Ziel eines
bewaffneten Angriffs geworden.
Damals drangen drei maskierte
und mit Kalaschnikows bewaffnete
Männer in der Stadt Fizi in
die Redaktion von Radio Ngoma
ya Amani ein und suchten nach
Malenga. Nachdem dieser dort
nicht aufzufinden war, stürmten
sie seine Privatwohnung. Glücklicherweise
fanden sie den Journalisten
auch dort nicht vor.
Malenga verständigte nach
dem Vorfall unverzüglich die
kongolesischen Behörden. Diese
rieten ihm laut eigener Aussage
jedoch lediglich dazu, selbst
„Vorkehrungen zu treffen“. Aus
Angst um sein Leben floh der
Journalist daraufhin aus der
Stadt. Gegenüber Reporter
ohne Grenzen gab Malenga an,
seitdem über soziale Medien
mehrere Drohschreiben erhalten
zu haben. In vielen der
Nachrichten wird ihm vorgeworfen,
gegen die Regierung zu
arbeiten und die Mai-Mai, eine
Gruppe von regionalen Milizen
im Osten des Landes, zu unterstützten.
In Kooperation mit
REPORTER OHNE GRENZEN
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10888 Berlin, Fax: (030) 2591-71606,
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Leserbriefe geben die Meinung unserer
Leser wieder, nicht die der Redaktion.
Wir freuen uns über jede Zuschrift,
müssen uns aber das Recht der Kürzung
vorbehalten. Aufgrund der sehr großen
Zahl von Leserbriefen, die bei uns eingehen,
sind wir leider nicht in der Lage, jede
einzelne Zuschrift zu beantworten.