ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP
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Digitale Schule
in nur 45 Minuten
Die Firma IServ bietet technische Infrastruktur für die Bildung an. Das System ist fix
und fertig – über 4000 Schulen haben sie bereits ausgerüstet. Viele Bundesländer
aber basteln lieber an eigenen teuren Lösungen, statt auf Privatanbieter zu setzen
Alles beginnt dort, wo die Not eigentlich
am größten ist: in einem
ganz normalen Klassenzimmer.
Ein Braunschweiger
Gymnasium ist Ende der 90er-
Jahre so fortschrittlich, dass es eine Computer-AG
anbietet. Ziel ist es, in diesem Kurs
eine eigene digitale Plattform für die Schule
zu entwickeln, und tatsächlich entsteht dort
etwas, das die Schule schnell von anderen
unterscheidet.
VON STEFAN FROMMANN
Das milliardenschwere Förderprogramm
„Digitalpakt Schule“ (5,5 Milliarden Euro,
davon fünf Milliarden vom Bund) wurde vor
mehr als einem Jahr für den Aufbau einer digitalen
Infrastruktur an Schulen aufgelegt.
Corona hat im Frühjahr schonungslos offengelegt,
wie es seither mit der geplanten Digitalisierung
bestellt ist. Das Schlimme: Es
sind deutsche Firmen, die seit vielen Jahren
Lösungen anbieten. Eine von ihnen nennt
sich IServ, eine Kurzform für Internet-Server.
Die Firma entsteht aus keinem Thinktank
des Silicon Valley, sondern quasi am
Hoffmann-von-Fallersleben-Gymnasium in
Braunschweig.
Jörg Ludwig ist einer der Teilnehmer jener
Arbeitsgemeinschaft. Computer sind
seine Leidenschaft wie für andere Jugendliche
in seinem Alter das Fußballspielen. Er
beschäftigt sich jeden Tag mit ihnen. Die Affinität
hat er von der Mutter, sie ist in der IT-
Branche tätig und führt ihren Sohn früh an
den Computer heran. Mit acht bringt sich
Jörg Ludwig selbst das Programmieren bei,
mit zehn entwickelt er sein erstes Spiel. In
der Schul-AG hat er sofort eine führende
Rolle. Dort lernt er Benjamin Heindl kennen,
heute Mit-Geschäftsführer bei IServ und
sein bester Freund. Die beiden versprechen
inzwischen: „Wir digitalisieren jede Schule
in 45 Minuten.“
Vor 20 Jahren schon schreiben Ludwig
und seine Mitschüler eine Software, um miteinander
kommunizieren zu können. Zwei
Lehrer fördern das Projekt. Mit ihrer Hilfe
nehmen die Nachwuchs-Programmierer am
Wettbewerb „Jugend forscht“ teil und gewinnen
auf der Landesebene Niedersachsen,
bundesweit werden sie Dritter. Der größte
Gewinn besteht jedoch darin, dass andere
Schulen auf ihr Projekt aufmerksam werden
und sich eine solche Kommunikationsplattform
auch wünschen. Acht Wochen dauern
die ersten Installationen, die Jungs nehmen
dafür 200 Euro und erkennen: Eigentlich ist
das ein Start-up wert.
2001 gründen sie ihre eigene Firma. Benjamin
Heindl stammt aus einem Bauunternehmer-Haushalt
und übernimmt den kaufmännischen
Part, während Ludwig fleißig
programmiert. IServ expandiert rasch. Mittlerweile
haben die beiden 90 Mitarbeiter,
zwei Millionen Nutzer und dürfen rund
4000 Schulen ihre Kunden nennen. Dass
noch immer so viele Schulen in der Kreidezeit
leben, dafür machen sie die Politik verantwortlich.
Dabei ist seit Beginn der Pandemie
die Nachfrage noch einmal um 70 Prozent
gestiegen.
Corona ist ein Beschleuniger der Schuldigitalisierung
und gleichzeitig der Finger in
einer Wunde, die so groß ist, dass Bundeskanzlerin
Angela Merkel sie zur Chefsache
erklärt hat. Zu chaotisch waren die Schulen
im Frühjahr in den Lockdown gestolpert.
Der geplante Fernunterricht offenbarte digitale
Schwächen, wie sie wohl niemand
dem Land der Dichter und Denker zugetraut
hätte.
„Katastrophal“ nennen Ludwig und
Heindl die Art und Weise, wie die Politik in
Deutschland seit Jahren beim Thema Schuldigitalisierung
agiert. Statt auf bestehende –
und funktionierende – Lösungen zu setzen,
versanden Millionen in irgendwelchen politisch
gewollten Projekten und Entwicklungen
einer zentralen Cloud. Heindl sagt: „Jahrelang
haben sie alles verschlafen. Jetzt sind
sie wach geworden und betreiben Wettbewerbsverzerrung.
Die Politik wird letztlich
auf dem Rücken der Schüler und Lehrer
ausgetragen.“
Viele Bundesländer stecken ihre Budgets
lieber in die Entwicklung eigener Lösungen.
Die kosten Zeit und noch mehr Geld, bestes
Beispiel dafür ist Baden-Württemberg. Das
AUTOS WERDEN
DOCH AUCH NICHT
VOM STAAT
PRODUZIERT.
ERST WETTBEWERB
BRINGT
INNOVATION, KEINE
EINHEITSLÖSUNG
JÖRG LUDWIG,
IServ-Geschäftsführer
Land musste sein 28,7-Millionen-Projekt
„Ella“ (Elektronische Lehr- und Lernassistenz)
nach drei Jahren wieder stoppen und
handelte sich vom Landesrechnungshof dafür
eine Rüge ein. In dem Gutachten heißt
es: „Ein Blick nach draußen kann helfen,
fachlich und wirtschaftlich überzeugende
Ergebnisse zu erzielen.“ Und: „Es sollten am
Markt erhältliche Angebote geprüft werden.“
Das jedoch geschah bislang nicht.
„Wir fühlen uns schlicht nicht ernst genommen“,
schimpft Ludwig. „Ich habe den
Eindruck, es geht gar nicht darum, etwas Positives
auf die Beine zu stellen, sondern darum,
sich selbst positiv darzustellen.“
Heindl ergänzt: „Die Länder möchten sagen
können, das ist unsere Lösung. Nicht, das
haben wir eingekauft.“
So bastelt auch NRW seit Jahren an einem
eigenen System. Das Land hält dadurch viele
Schulen davon ab, sich selbst ein System zu
kaufen. Nach dem Motto: Wartet bitte, ihr
bekommt von uns etwas Gutes umsonst.
„Bis heute haben sie jedoch nichts Vergleich-
,,
bares hinbekommen“, sagt Ludwig. Die
Stadt Wuppertal hat deshalb ungeachtet der
Landesvorgaben gehandelt und ihre Schulen
per Ausschreibung digitalisiert. Alle bekamen
IServ, während der Herbstferien auch
die 55 Grundschulen. Schuldezernent Stefan
Kühn sagt: „Es ist wichtig, unsere Schülerinnen
und Schüler ebenso wie die Lehrkräfte
für eine digitale Zukunft zu rüsten.“
IServ deckt vier Teilbereiche ab: Kommunikation
(Adressbuch, E-Mail, Messenger,
News, Diskussionsforen), Organisation (Dateiaustausch,
Klausurplan, Kalender, Stunden-
und Raumpläne, Umfragen), Netzwerkverwaltung
(Benutzer- und Geräteverwaltung,
Drucken, Softwareverteilung, Backup-
Server) und Pädagogik (Aufgaben, Online-
Medien, Texte, Klausurmodus, Videokonferenzen).
Das macht das System nicht nur für
Schüler, sondern auch für Lehrer und sogar
für die Verwaltung so attraktiv. Die Schüler
haben Zugang zum internen WLAN und
können es für ihre Recherchen nutzen. Die
Schule entscheidet individuell, welche Module
installiert werden sollen, dadurch
gleicht kein IServ dem anderen.
Die Kosten sind überschaubar, allerdings
fortlaufend, und genau das scheint ein Problem
darzustellen. Der Schulgipfel im Kanzleramt
nämlich hat keine Budgets freigesetzt,
sondern Fördertöpfe. Sie sind ausschließlich
für einmalige Investitionen geeignet.
Seitdem dürfen sich zwar rund
800.000 Lehrer über einen Dienst-Laptop
freuen, beim Ausbau einer bundesweiten Bildungsplattform
aber hakt es nach wie vor.
IServ nimmt laufende Lizenzgebühren. Dafür
bekommen die Schulen eine ständige Betreuung
und wissen, dass ihr System stetig
weiterentwickelt wird, verspricht Ludwig.
Neben einer Einrichtungspauschale in Höhe
von 500 Euro und einer Grundgebühr von
250 Euro zahlt die Schule pro Schüler vier
bis sechs Euro im Jahr. Der komplette Support
ist in diesem Flatrate-Preis inbegriffen.
Aber es gibt nicht nur IServ am Markt.
AEX Concept etwa, das auf einer Microsoft-
Lösung basiert, bietet ebenfalls eine seriöse
Alternative an, weitere wären die Bremer
Firma Univention und auch die Koblenzer
Firma Sdui. Doch alle deutschen Firmen
müssen Klinken putzen: Sie sprechen Schulleiter
oder interessierte Lehrer an, bieten für
ein paar Monate einen kostenlosen Testlauf.
Ludwig: „Meist wollen sie schon nach wenigen
Tagen das System behalten.“ Dass der
Staat immer wieder versucht, sich dazwischenzuschalten,
hält Ludwig für unangebracht:
„Autos werden doch auch nicht vom
Staat produziert. Erst Wettbewerb bringt Innovation,
keine Einheitslösung.“ Doch noch
immer behaupten Politiker, es gäbe kein gutes
Produkt, das die Schulen sofort digitalisieren
könnte. „Das ist schlicht falsch“,
schimpft Ludwig.
Ein Problem ist die Ausstattung der Schüler.
Eine Umfrage unter 396 Kommunen in
NRW ergab: 9,6 Schüler teilen sich dort einen
Desktop, 12,8 ein Tablet und 30,2 einen
Laptop. Ein Handy aber hat jeder Schüler,
und genau dort liegt die Krux. IServ lässt
sich einfach übers Handy bedienen.
Im März hatten Ludwig und Heindl Niedersachsens
Kultusminister per Mail angeschrieben
und ihm die Vorzüge von IServ
vorgestellt. Ende September, also sechs Monate
später, kam per Brief eine Antwort mit
einer Absage. „Das ist so etwa die Geschwindigkeit,
mit der sich die Politik bewegt. Das
ist sehr frustrierend“, findet Heindl, und
Ludwig sagt: „Der zeitliche Aspekt müsste
bei der Digitalisierung von Schulen doch im
Vordergrund stehen. Die Länder brauchen
halt vier bis fünf Jahre, bis sie ihre Schulen
digitalisiert haben, wir 45 Minuten, also genau
eine Schulstunde. Unser Produkt ist
nämlich fertig.“
Ein Blick über den berühmten Tellerrand
macht deutlich, wie rigoros andere Länder in
Sachen Schuldigitalisierung vorgehen. In Japan
gibt es ein flächendeckendes Konzept,
bei dem die Schüler von der Grundschule bis
zur Uni digital begleitet werden. Am Ende
steht ein fertiges Profil des Menschen mit all
seinen Stärken und Schwächen. Mit deutschen
Datenschutzbestimmungen wäre das
nicht vereinbar. Ludwig sagt: „Es gibt Länder,
die ihre Digitalisierung sogar noch viel
krasser betreiben, als wir uns das vorstellen
können.“ Er meint damit die Skandinavier,
wo Lehrer durch Lernprogramme ersetzt
werden.
In Norwegen zum Beispiel existiert eine
zentrale Lernplattform, in der alle wichtigen
Inhalte enthalten sind. Der Lehrer nennt
sich dort Coach. Sollte er zum Beispiel mit
seiner achten Klasse in Mathematik Pythagoras
durchgehen wollen, bietet ihm ein
Lernprogramm zehn verschiedene Ansätze
dafür. Er sucht sich den aus, der ihm am besten
gefällt, und schon werden an alle Schüler
automatisch Materialien verteilt. Es wird eine
Lernzielkontrolle erstellt, alle Tests werden
standardisiert durchlaufen, und der
Coach (Lehrer) sieht ganz genau, welcher
Schüler auf welchem Level ist, was verstanden
wurde und was nicht. Er kann gezielt
eingreifen, wenn es irgendwo bei einem
Schüler hakt.
Die kürzlich veröffentlichte Pisa-Studie
für das Jahr 2018 gibt den Skandinaviern
recht, die sämtliche Rankings dominieren.
Deutschland musste schmerzhaft erkennen,
wie groß der digitale Rückstand ist. Was die
Verfügbarkeit von effektiven Online-Lern-
Plattformen angeht, erreichte Deutschland
von 78 teilnehmenden Ländern nur Platz 66.
Nur ein Drittel verfügt über Online-Lern-
Plattformen wie IServ, der OECD-Durchschnitt
liegt bei 54 Prozent. Noch schlimmer
sieht es mit der digitalen Ausbildung der
Lehrer aus. Deutschland landete hier auf
Platz 76, dem drittletzten Rang. Corona hat
die Krisenanfälligkeit des deutschen Schulsystems
schonungslos offengelegt und bereits
bestehende Chancenungerechtigkeiten
erheblich verstärkt. Dabei warten gute Lösungen
„made in Germany“ nur darauf, eingesetzt
zu werden.