© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung4 POLITIK** DIE WELT DONNERSTAG, 29. OKTOBER 2020Wieder Essen abholen, wiederdie Hanteln zu Hausestemmen, wieder nur Musikaus der Konserve hören,wieder nachdenken müssendarüber, ob man sich beim Spaziergang zudritt verdächtig macht. Die neuen Corona-Regeln,die von der Bundesregierung als Wellenbrecher-Lockdownbeschrieben werden, beschränkendas soziale, kulturelle, sportlicheLeben erneut erheblich. Ab 2. November sollensie gelten – bis Ende des Monats. Ziel ist, dieZahl der neuen Ansteckungen flächendeckendwieder auf unter 50 Fälle pro 100.000 Einwohnerinnerhalb von sieben Tagen zu drücken.VON THOMAS VITZTHUMDie Bundeskanzlerin und die Regierungschefsder Länder einigten sich dafür auf einenKatalog, der dem vom März und April sehr ähnelt.Um zu verstehen, wer alles betroffen ist,ist es einfacher, sich zu vergegenwärtigen, fürwen Ausnahmen gelten. So werden die Schulenund Kindertagesstätten offen bleiben, derHandel darf weiter Waren verkaufen, die Industrieund das Handwerk brauchen sich nichtzu beschränken. Frisöre dürfen auch im NovemberHaare schneiden. Die Menschen könnenalso weiterhin zur Arbeit gehen, ihre Kinderin die Schule oder die Kita schicken. Siesollen sich aber nicht mehr außerhalb ihrervier Wände vergnügen, zerstreuen; der gesamteorganisierte Freizeitbereich wird geschlossen,Hotels, Gaststätten, Bars, Wellness-Einrichtungen,die Theater, Opernhäuser, Kinos,Fitnessstudios, Bordelle und so fort. Die Bürgerdürfen sich in der Öffentlichkeit nur nochDie Widersprüchlichkeitin der PandemieAb Montag wird das Leben heruntergefahren. Manche Branche, die auf eine Bestandsgarantie hoffte, siehtsich getäuscht. Schwierig wird die Durchsetzung der Regeln, wenn zu viele Bürger nach deren Logik fragenmit den Angehörigen eines weiteren Hausstandes,maximal mit bis zu zehn Personen treffen.Diese Art der Kontaktbeschränkung wiederholtdie Linie aus dem Frühjahr. Wer sich nichtdaran hält, muss mit Strafen rechnen.„Unser Gesundheitssystem wird heute nochmit dieser Herausforderung fertig. Aber wennes bei diesem Tempo bleibt, kommen wir binnenWochen an die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems.Es ist vollkommen klar, wirmüssen handeln, und zwar jetzt“, sagte KanzlerinAngela Merkel (CDU). BundesfinanzministerOlaf Scholz (SPD) will für die Umsatzausfälleder von Einschränkungen betroffenenUnternehmen Entschädigungen in Milliardenhöheauszahlen. Er schlug bei dem Treffen vor,kleineren Betrieben bis zu 75 Prozent ihrerUmsätze im Vergleich zum Vorjahresmonat zuersetzen. Größere Betriebe sollten bis zu 70Prozent erhalten. Es solle keine besonderenNachweispflichten geben. Die Kosten habeScholz auf sieben bis zehn Milliarden Euro fürvier Wochen beziffert. Aus Sicht von CSU-Chef Markus Söder ist das „ein einmalig gutesAngebot“. Es gilt nicht nur für Betriebe, sondernauch für Soloselbstständige.Der zu erwartende neuerliche Teil-Lockdownprovozierte schon im Vorfeld erregteDebatten und Statements. Sämtliche Branchenverbändeformulierten für ihren Sektoreine Art Unantastbarkeit. Wäre es nach all diesenVerlautbarungen gegangen, es hätte garkeine Beschlüsse geben können. Das unterschiedsich doch deutlich vom Frühjahr, als etwaBars und Clubs teils in vorauseilendem Gehorsamzumachten, noch bevor ihre Schließungüberhaupt verfügt worden war. Gleichesgalt für kulturelle Einrichtungen und sogargroße Wirtschaftsbetriebe. So hatte die Regierungseinerzeit nie vorgegeben, dass die Autobauerihre Produktion einstellen sollten. Dastaten diese – sogar zum Missfallen der Politik –von sich aus. Diesmal erfolgt das Herunterfahrendes Landes also unter erheblich mehr Widerständen.Eine Art Prohibitionsstimmung inder Bevölkerung war schon seit dem vorigenTreffen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerinvor zwei Wochen allenthalben spürbar.„Lass uns noch XY machen, bevor es verbotenist“, war ein oft gehörter Satz. Die Erwartung,dass ein solcher Lockdown kommt, war längstda, Umfragen aus den vergangenen Tagen bestätigendas. Doch hat gerade diese Erwartungshaltungund das daraus resultierendeVerhalten wohl seinen Teil dazu beigetragen,dass die zuletzt beschlossenen Maßnahmennoch keine Wirkung zeigen und die Zahlenweiterhin stark ansteigen. Die größte Herausforderungfür die Bürger liegt nun wohl nichtnur in der Einhaltung der neuen Regeln – sonderndarin, ihre Widersprüchlichkeit zu akzeptieren.Vielleicht ist Letzteres sogar schwierigerund wiegt für die weitere Bewältigung derPandemie schwerer.Jeder kennt wohl einen Gastronomen, dersich akribisch an Hygienemaßnahmen gehaltenhat, jeder Konzertbesucher weiß, dass dieOpern- und Konzerthäuser schon heute aseptischenSälen gleichen. Ein Nagelstudio wirdsich wundern, warum es schließen muss, aberder Frisör nebenan nicht. Vielleicht, weil GesundheitsministerJens Spahn (CDU) vor einigenWochen meinte, man würde Frisöre heuteanders als im März nicht noch einmal schließen?Solche Fragen und Gegenüberstellungensind zigfach möglich und plausibel. Die Maßnahmensind nicht logisch. Sie treffen viele zuUnrecht. Auch Wissenschaftler, unter ihnenführende Virologen, haben sich just am Tagdes Treffens gegen einen neuerlichen Pauschal-Lockdowngewandt. Andere fordertenihn hingegen nachdrücklich. Auch solche Interventionender Experten führen zu Widersprüchen,mit denen nun jeder Bürger fertigwerdenmuss.Sichere Branchen und Sektoren werden fürandere, weniger sichere mitverhaftet, einfachweil sie ebenfalls dem Freizeitleben angehören.Söder zeigt Verständnis: „Es haben sich soviele Leute Mühe gegeben. Wir sind auf einemLevel, wo wir nicht mehr genau nachvollziehenkönnen, wo Infektionen stattfinden und wo sieverbreitet werden. Deshalb müssen wir dengroßen Ansatz wählen.“ Die Kanzlerin und ihrAmtschef Helge Braun haben das Freizeitverhaltenals den entscheidenden Treiber der Infektionenidentifiziert. Es geht ihnen dabeinicht um Logik und Nachvollziehbarkeit, esgeht noch nicht einmal um wissenschaftlicheEvidenz. Die Leute sollen einfach ihre Kontaktereduzieren, deshalb werden ihnen möglichstviele Anlässe genommen, andere zu treffen.Der Gedanke ist schlüssig, auch wenn es dieMaßnahmen in sich nicht sind. Die Bundesregierungwill dem Vernehmen nach eine Kontaktreduzierungum die Hälfte erreichen. Derzeitliegt der Reproduktionsfaktor bei etwa 1,3.Nach Berechnungen des Kanzleramts würdedies Ende des Jahres zu womöglich 100.000Ansteckungen täglich führen. Um die 4000 proTag könnten hingegen gerade noch verkraftbarsein. Am Mittwoch wurden rund 15.000 gezählt.Die weitere Eskalation will Merkel umjeden Preis verhindern. Um die Sache etwasschmeichelhafter klingen zu lassen, wird vonoffizieller Seite betont, dass die November-Maßnahmen helfen sollen, die Weihnachtszeitwieder unbeschwerter verbringen zu können.Ein höchst riskantes Versprechen. Wenn diesnicht gelingt, wird der Frust in der Bevölkerungsich noch deutlicher zeigen.Wahr ist, dass in den Statistiken des Robert-Koch-Instituts ein großer weißer Fleck existiert.Gut 75 Prozent der Infektionen könnenauf kein bekanntes Ansteckungsereignis odereinen bestimmten Ort zurückgeführt werden.Wenn also etwa Gastronomen behaupten, dassihre Betriebe sicher seien, so fehlt dafür derletzte Beweis ebenso wie für die gegenteiligeBehauptung. Doch was die jetzigen Maßnahmenso unlogisch erscheinen lässt und somitihre Durchsetzbarkeit gefährdet, ist die Tatsache,dass die Sektoren, die offen bleiben, teilsnoch weniger Regeln unterliegen. In Schulenund Kitas etwa gibt es kein Abstandsgebot.Aber hier zählt eben etwas anderes, wie BerlinsRegierender Bürgermeister Michael Müller(SPD) sagte: „Wir haben gesehen, was es fürdramatische soziale Folgen hat, wenn die Kindernicht in die Schule gehen können. Es sindGewaltübergriffe in einer dramatischen Zahlnach oben gegangen. Wenn wir hier nicht eingreifenwollen, heißt das, dass wir in anderenBereichen mehr machen müssen.“Der neuerliche Lockdown funktioniert wohlnur, wenn die Leute ihr logisches Denkenebenfalls beschränken – und zu Hause bleiben.Gleichwohl ist evident, dass in den vielen Widersprüchenähnlich wie in der Debatte überdas Beherbergungsverbot die Gefahr lauert,dass sie zu einer Erosion der Zustimmung zuden Maßnahmen führen. Bund und Länder habenden Keim dafür gesät, dass es auch erheblichmehr Widerstand gibt. Gerichte dürften inden nächsten Tagen einige der genannten Widersprücheanprangern. Besonders hinderlichfür den zweifelsohne notwendigen Erfolg desLockdowns ist zudem, dass eine Bewegungähnlich wie jene im Frühjahr, die das „stay home“– oder „wir bleiben zu Hause“ zum gutengesellschaftlichen Ton erhob, diesmal fehlt. Esgibt noch weniger als im März eine Garantiedafür, dass die Menschen sich nicht einfach zuhausetreffen, ob nun erlaubt oder nicht. Plänedes SPD-Gesundheitspolitikers Karl Lauterbach,auch Kontrollen von Wohnungen durchzuführen,stießen am Mittwoch auf Befremdenund teils Entsetzen.
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