ePaper_WELT_DWBU-HP_29.10.2020_Gesamtausgabe_DWBU-HP
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Das ideale Universum
für Social Distancing
Zum Teil gibt es nur eine Kneipe pro Planet: Die „Star
Wars“-Serie „The Mandalorian“ geht in die zweite Staffel
Ein halbes Jahr ist es her, dass ein
Mandalorianer namens Mando (beziehungsweise
Din Djarin, aber lassen
Sie uns bei Mando bleiben) seine eigene
Show in einem entlegenen Seitenarm des
„Star Wars“-Universums bekam, das seit einer
Weile ja wiederum ein Seitenarm des
Disney-Universums ist. Sie hieß „The Mandalorian“
und wurde schnell ein Riesenhit,
unter anderem dank Werner Herzog. Vor
allem aber dank eines knuddeligen Albino-
Zwergpinschers ohne Haare namens Baby
Yoda. Dazu gleich mehr.
VON JAN KÜVELER
Yoda und Werner Herzog sind sattsam
bekannt und seit vielen Jahrzehnten Teil
der Popkultur, Herzog zwar nicht direkt als
Teil von „Star Wars“, aber seine fanatische
Strenge, sein teutonischer Akzent und sein
metaphysischer Fokus lassen ihn als Bösewicht
in der Nachfolge von Darth Vader
und dem Imperator nur folgerichtig erscheinen.
Mandalorianer dagegen – das war
für die meisten etwas Neues.
Wer neugierig nachguckte, was es denn
damit auf sich haben könnte, wurde im Internet
schnell fündig. Denn zu einem nicht
unerheblichen Teil besteht das Internet aus
von akribischen Hobby-Historikern gespeisten
Enzyklopädien voller „Star Wars“-
Fakten. Da kann man lernen, dass das besondere
Gewehr, das Mando in einer der
acht „Mandalorian“-Folgen auf diese süßen
kleinen, aber trotzdem bösartigen Gestalten
(namens Javas) auf dem Sandplaneten
Tatooine richtet und das wie eine überdimensionierte
Stimmgabel aussieht, „Pulse
Rifle“ heißt. Hardcore-Nerds kennen es aus
einer lange vergessenen Animationsserie,
die sich dem Kopfgeldjäger Boba Fett widmete,
Mandalorianer wie Mando.
Zu den Mandalorianern muss man wissen,
dass sie keiner bestimmten Rasse angehören,
ihnen also nicht zwangsläufig Hörner
aus dem Kopf wachsen oder diese komischen
Zopftumore wie den anderen Viechern,
die bei Jabba the Hut an dem fleischfressenden
Krater herumhingen (im „Star
Wars“-Soziolekt: der Grube von Carkoon,
in der ein Sarlacc hauste). Mandalorianer
können also alles Mögliche sein. Mando ist
Mensch, man hätte es ahnen können, denn
ihn spielt Pedro Pascal, bekannt aus „Narcos“
und „Game of Thrones“, gewissermaßen
eine Mischung aus Harrison Ford und
Antonio Banderas. Vor allem behalten sie
grundsätzlich ihre Maske auf und verprügeln
jeden Covidioten, der ihnen dumm
kommt. Davon, dass tatsächlich Pascals
schelmischer Schnauzbart unter dem Helm
mit den dunklen Augenschlitzen
steckte, konnte
man sich erst in der letzten
Folge der ersten Staffel vergewissern,
als er ihn wirklich
abnehmen musste, wegen einer
akuten Kopfverletzung.
Also auch noch seltsam
prophetisch, das Ganze. In
Teilen der Welt war die Serie
schon früher gelaufen, aber
in Deutschland startete sie
auf Disney+ am 24. März,
mit neuen Folgen im Wochentakt.
Zwei Tage zuvor
hatte die Bundesregierung
die strengen Ausgangs- und
Kontaktbeschränkungen
verkündet. Man saß also im
Lockdown und schaute zu, wie ein dauermaskierter
Held durch ein Universum flog,
das so sehr Social Distancing praktizierte,
dass es mitunter pro Planet nur eine einzige
Kneipe gab. Und wer ihm dort zu
dicht auf die Pelle rückte – wie in Folge
Nummer eins ein sogenannter Quarren,
wie die einschlägigen Online-Nachschlagewerke
verraten –, musste es sich gefallen
lassen, von der Automatiktür zerteilt zu
werden.
Ultimative Tracking-Devices, die sogar
Sprünge durch den Hyperraum nachvollziehen
können und somit ein feuchter
Traum von Leuten wie Karl Lauterbach
sein müssten, sind im „Star Wars“-Universum
seit jeher allgegenwärtig. Ohne die
Dinger wäre kein Film je an sein Ende gekommen;
jeder Schurke hätte sich einfach
ein paar Hundert Lichtjahre nach links in
die Büsche schlagen können. Um das hellseherische
Maß vollzumachen, hat sogar
die Schwebschale von Baby Yoda einen eigenen
Quarantänemodus, den es immer
aktiviert, wenn die Luft dick wird. Jon Favreau,
„Iron Man“-Regisseur und Produzent
von „The Mandalorian“, ist wirklich
ein Visionär.
,,
Dass es so schnell weitergehen konnte –
am 30. November startet die zweite Staffel
– und wohl auch weiterhin weitergehen
wird, denn vor ein paar Tagen wurde bekannt,
dass Disney eine dritte Staffel schon
in Auftrag gegeben hat, liegt auch daran,
dass diese weit, weit entfernte Galaxie mit
ihren Myriaden Planeten, Kreaturen und
Handlungssträngen mehr oder weniger
komplett in Favreaus Garage entsteht.
Nach Erfahrungen mit dem „Dschungelbuch“
(2018) und dem „König der Löwen“
(2019) hat er für „The Mandalorian“ ein Set
aus LED-Screens bauen lassen, die einen
Kreis mit knapp 23 Meter Durchmesser beschreiben.
An der Decke hängt noch so ein
Ding. Dadurch kann man in Sekundenschnelle
zwischen dem typischen „Star
Wars“-Weltall mit seinen hunderttausend
funkelnden Sternen und einem der ebenso
typischen Sonnenuntergangsstimmungen
auf Sandplaneten hin- und herschalten. Die
Sonnenuntergänge dauern dafür bei Bedarf
gut und gern zehn Stunden. Besonders in
Corona-Zeiten ein Traum-Set-up für eine
kleine Crew, die Schauspieler filmt, die zu
großen Teilen entweder aus Gummi sind
oder eben Masken tragen.
Apropos Gummi: Eine galaktische Legende
(die „Star Wars“-Entsprechung zur
„urban legend“) besagt, dass niemand anderes
als Werner Herzog – also der Mensch,
der todesmutig in Vulkankrater schaut, mit
zugekoksten Hauptleuten afrikanischer
Kindersoldaten verhandelt oder mit Klaus
Kinski Schiffe über Berge zieht – dafür verantwortlich
ist, dass Baby Yoda zum Internet-Knuddeldarling
Nummer eins der ersten
Hälfte von 2020 werden konnte. Eine
bizarre Vorstellung, andererseits liegt gerade
in der Hervorbringung von Bizarrerien
Herzogs USP. Er befeuert diese Legende
nach Kräften. In einem Interview mit der
„New York Times“ sagte er über die kleine
Puppe, also niedlich finde er sie überhaupt
nicht. Stattdessen sei sie „eine phänomenale
Leistung mechanischer Formkunst“. Als
er sie das erste Mal gesehen habe, habe ihn
ihre Einzigartigkeit sofort überzeugt. „Und
dann“, erzählte er weiter, „fragten sich die
Produzenten: ‚Sollten wir keine Fallback-
Option haben mit Green Screen und sie
komplett digital nachbauen?‘ Ich sagte ihnen:
‚Das wäre feige. Ihr seid die Wegbereiter.
Zeigt der Welt, was ihr könnt.‘“ Der
Rest ist, wie vermutlich immer bei Herzog,
Geschichte. Die hydraulische Puppe soll
übrigens rund fünf Millionen Dollar gekostet
haben. Die Actionfigur von Hasbro, die
auch jedimäßig die Augen schließen kann,
ist erheblich günstiger, aber eben auch nur
ein minderwertiger Klon.
DAS WÄRE FEIGE. IHR SEID
DIE WEGBEREITER. ZEIGT DER
WELT, WAS IHR KÖNNT
WERNER HERZOG
So viel Liebe aus unwahrscheinlicher
Richtung wurde auch den anderen Figuren
zuteil, die „The Mandalorian“ bevölkern,
zum Beispiel dem Ugnaught-Farmer Kuiil,
der einem sprechenden Karpfen zu ähneln
schien, bis man sein Reittier erblickte, das
noch mehr aussah wie ein Karpfen, gekreuzt
mit Pac-Man. Kuiil, ein netter
Grantler, der bald ins Gras beißen musste,
wurde herzallerliebst von Nick Nolte gesprochen.
Oder der Revolverheld-Droide
IG-11, dem der neuseeländische Regie-Shooting-Star
Taika Waititi („Jojo Rabbit“) die
Stimme lieh. Waititi gehört darüber hinaus
auch zum inspirierten Regieteam um Favreau.
In der neuen Staffel soll unter anderen
Robert Rodriguez dazustoßen und bei
den Schauspielern Rosario Dawson als Ahsoka
Tano, eine Figur, bekannt aus Film
und Serie über die Klonkriege, und Temuera
Morrison als Kopfgeldjäger Boba Fett,
den man eigentlich tot geglaubt hatte, seit
er 1983 in „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ im
Rachen des Sarlacc verschwunden war.
So viel für die erste Orientierung. Am
Freitag geht’s wieder los, auf die Suche
nach Baby Yodas Heimatplaneten und nach
dem mandalorianischen Dunkelschwert.
Corona und Cholera. Beide Seuchen
haben nicht nur eine gewisse
Sterblichkeit und den ähnlichen
Klang der Namen miteinander
gemeinsam. So, wie seit Monaten
die Grippewelle durch den Erreger Covid-19
rund um den Globus Opfer fordert und
die unterschiedlichsten Gesellschaften zu
drastischen Abwehrmaßnahmen zwingt, so
wurde ab der ersten Ansteckungswelle im Jahr
1830 – der Philosoph Hegel wurde vom Weltgeist
im Bazillus weggerafft – die Cholera zur
Geißel des bürgerlichen Zeitalters.
VON DIRK SCHÜMER
Wie heute Corona, so war damals die Cholera
Ursache weitgreifender sozialer Veränderungen.
Nationen wie die USA führten auf der
Quarantäneinsel Ellis Island Abschottungen
und Rückweisungen von Migranten ein.
Grenzkontrollen gegenüber dem asiatischen
Osten, von wo man auch damals schon den Anmarsch
der Seuche vermutete, wurden verschärft.
Immer wieder kam es zu Massenpanik
mit Lynchjustiz und Pogromen gegen Fremde.
Einer der großen Vorkämpfer globaler Vernetzung
und Prävention bis nach Indien war der
Pariser Arzt Adrien Proust, Vater eines heute
sehr viel berühmteren Schriftstellers.
1903 kam es als Krönung internationaler Koordinierungen
zu einer weltweiten Hygienekonferenz,
die im Völkerbund weitergeführt
wurde und als Vorläuferin der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) diente.
Vor allem der deutsche Chemiker Max Pettenkofer
– er wurde später für seine Verdienste
sogar geadelt – baute seine beeindruckende
Karriere ab 1855 maßgeblich auf der Bekämpfung
der Cholera auf. Der bayerische Wissenschaftler
glaubte, dass die Seuche vom Unrat
und von den Lebensbedingungen der modernen
Großstädte begünstigt wird, und setzte im
Dienst der Krankheitsbekämpfung unermüdlich
die Umgestaltung einer ganzen Zivilisation
durch. Auf seine Planung hin bekam die entstehende
Metropole München bis heute bestehende
Trinkwasserleitungen und eine Kanalisation.
Die Drohung der Cholera führte direkt zu
elementaren Einrichtungen des modernen Urbanismus
wie Müllabfuhr, zentralem Schlachthof
und gesäuberten Großmärkten, städtischer
Straßenreinigung und schließlich Klärwerken.
Alle modernen Großstädte Europas
und Nordamerikas folgten diesem Beispiel.
Das Kuriose am Siegeszug der von Pettenkofer
selbst so getauften „Gesundheitspolitik“:
Sie beruhte auf verkehrten Grundannahmen.
Der Bauernsohn Pettenkofer glaubte an eine
statistische Ballung von Risikofaktoren wie
schlechter Luft, schmutzigem Wasser und vor
allem verseuchter Erde, von wo die tödlichen
„Miasmen“ der Cholera aufstiegen. In seinen
Schriften steht wenig zu lesen von Erregern
und Keimen, dafür viel von „Luftwechsel in
Die Krankheit,
der Irrtum
und die Macht
Der Konflikt zischen Drosten und Streeck ist nur
Schattenboxen, verglichen mit dem maßlosen
Streit zwischen Max Pettenkofer und Robert Koch
über die Cholera im 19. Jahrhundert. Wie heute
Corona wurde die Krankheit damals skandalisiert,
um politische Maßnahmen durchzusetzen
Wohngebäuden“, „Respiration“ oder über den
„Boden und seinen Zusammenhang mit der
Gesundheit“.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zum
Zusammenstoß zwischen Pettenkofer und seinem
preußischen Pendant Robert Koch kommen
musste, der die Cholera als Folge von
Wasser deutete, das mit einem von ihm entdeckten
Bazillus verunreinigt war. Dabei waren
beide deutschen Titanen der Seuchenkunde
keine Professoren der Medizin, sondern
hatten neu geschaffene Lehrstühle für Hygiene
in München respektive Berlin inne. Pettenkofer
ging in seiner Wut auf den mikroskopierenden
Kollegen so weit, dass er vor Zeugen eine
ganze Bakterienkultur des Choleraerregers
austrank, was er wohl nur darum überlebte,
weil ihn eine Epidemie in Jugendjahren weitgehend
immunisiert hatte.
Es gibt in der Rückschau keinen Grund, sich
über solche Fehden und Irrtümer lustig zu machen.
Kochs dilettantisch erzeugtes und völlig
nutzloses Medikament „Tuberkulin“ gegen die
Schwindsucht kostete ihn viel von seinem wissenschaftlichen
Ruf. Und Pettenkofers Starrsinn
gegenüber Keimen verhinderte nicht, dass
seine Hygienemaßnahmen ebendiesen Keimen
das Leben schwerer machten – und dadurch
Menschenleben retteten. Die bürgerliche Geschichte
der Seuchenmedizin, in die sich noch
der Franzose Louis Pasteur einreihen lässt, ist
eine mal heroische, mal tragische Abfolge von
Durchbrüchen und Irrtümern.
Die deutschen Medizinhistoriker Heiner Fangerau
und Alfons Labisch widmen der Gesundheitspolitik
in den Fußstapfen Pettenkofers aus
aktuellem Anlass einen Aufsatz in der aktuellen
Ausgabe von „Spektrum der Wissenschaft“. Dabei
weisen sie auf einen signifikanten Unterschied
zwischen der Prominenz von Cholera im
öffentlichen Diskurs des 19. Jahrhunderts und
ihrer tatsächlichen Gefährlichkeit hin.
Während nahezu alle Städte Europas gemäß
den Anforderungen einer hygienischen Stadt –
Durchlüftung, Säuberung, Bewässerung – umgebaut
wurden, gerieten sehr viel gefährlichere
Infektionskrankheiten wie Scharlach, Typhus
und Diarrhö aus dem Blick. Schon während der
großen Choleraepidemien zur Mitte und zum
Ende des 19. Jahrhunderts hatte der deutsche
Mediziner Friedrich Oesterlen darauf hingewiesen,
dass Cholera höchstens den achten
Platz im Ranking der gefährlichsten Infektionskrankheiten
besetzte, weit nach anderen
Killern wie Keuchhusten, Masern, Pocken.
Nüchterne Medizinhistorie muss konstatieren,
dass die gigantische Modernisierung, die
wie in Hamburg oder Florenz mit Abriss der
Armenviertel im historischen Kern und massiver
Immobilienspekulation einherging, „nicht
immer auf rational nachvollziehbare Weise geschah.
Vielmehr bilde(te)n akute und als bedrohlich
empfundene Seuchen wichtige Argumente,
um öffentliche Gesundheitsleistungen
zu diskutieren und durchzusetzen.“
Fangerau und Labisch prägen für diese Diskrepanz
zwischen kollektiver Gefahr und individueller
Angst den Begriff der „skandalisierten
Krankheit“. Er besagt, dass gewaltige Anstrengungen
zur sozialen Neuordnung in keinem
nachvollziehbaren Zusammenhang zur
eher moderaten Opferzahl einer Seuche stehen
müssen.
Im Fall der nach dem Ersten Weltkrieg global
ausbrechenden Spanischen Grippe war es
dann genau umgekehrt. Zwar verbreitete sich
die tödliche Krankheit in der Schlussphase der
Kämpfe bei Soldaten aller Parteien sowie den
ausgehungerten und geschwächten Bevölkerungen
im französischen, deutschen, britischen
Hinterland, doch wegen der militärischen
Zensur durfte darüber nicht einmal gesprochen
werden – von drastischen Virologenmaßnahmen
wie Versammlungsverbot, Abriegelung
oder Ausgangssperre ganz zu schweigen.
Der Name der Spanischen Grippe rührt
einzig daher, dass erst im Nichtkriegsland Spanien
einigermaßen ehrlich über die Opferzahlen
berichtet werden durfte.
So konnte diese Influenza unter dem Radar
der Weltgesundheitsbehörden bis nach China,
Kalifornien oder Südamerika ein Mehrfaches
der Opfer des Ersten Weltkriegs umbringen,
wohl mindestens 50, vielleicht gar 100 Millionen
Menschen, wobei vorher mindestens eine
halbe Milliarde infiziert wurde. Dennoch ist
der Todeszug dieser Kriegsfolgenseuche in
Epochenwerken oft nur für eine Randnotiz
gut, wohingegen die Choleraepidemie in Hamburg
mit 8600 Toten bis heute im Stadtgedächtnis
präsent blieb.
Mit klarem Bezug zur aktuellen Epidemie
stellen die Medizinhistoriker Fangerau und Labisch
die noch nicht zu beantwortende Frage,
„inwieweit es sich bei Covid-19 um eine skandalisierte
Krankheit handelt“. Rechtfertigt Corona
die jetzigen massiven Eingriffe ins Sozialund
Wirtschaftsleben nach dem Muster der
Cholera?
Jene Epidemie, vor der ganze Generationen
angstvoll erschauerten, wäre mit sauberem
Wasser viel einfacher zu bekämpfen gewesen
als mit Grenzschließungen, mit Kampagnen
gegen Alkohol und fürs Zähneputzen, mit demolierten
Altstädten, neu angelegten Parks
und Lichtschneisen in Armensiedlungen nach
dem Muster Pettenkofers. Doch weil sein Konzept
der reinen, gesunden, modernen Stadt damals
obsiegte, fielen die falschen Vorannahmen
eines infektiösen Sozialraums der Armut
und Rückständigkeit nie ins Gewicht.
Hier kommt einer der wichtigsten Vertreter
einer kritischen Sozialhistorie ins Spiel, der
Franzose Michel Foucault. Viele rhapsodische
Verklärungen von Geisteskrankheiten in seiner
Studie „Wahnsinn und Gesellschaft“ aus
dem fatalen Jahr 1968 klingen heute nach zeittypischem
Kitsch, doch beginnt dieser bahnbrechende
Traktat zu den Fundamenten der
modernen Vernunft und der staatlichen Ordnungsmacht
nicht zufällig mit einem Abriss
der Seuchenbekämpfung. Die große Einsperrung
von Frankreichs Geisteskranken und Armen
um 1680 fußt nach Foucault auf der vorherigen
Ausschließung von Infizierten in zahllosen
Leprosenhäusern.
Mit dem Siegeszug des französischen Zentralstaates
sollten die Unzurechnungsfähigen
und Marginalen als faule und anstößige Irre in
Arbeitshäusern weggesperrt und nutzbar gemacht
werden. Die Begründung für diese historische
Gewaltmaßnahme gegenüber den Untertanen
war freilich keine politische oder
wirtschaftliche, sondern wurde von der Medizin
geliefert. „Der Irre“ jedoch wird nach Foucault
„nicht als solcher erkannt, weil eine gewisse
Krankheit ihn in Richtung der Randzonen
der Normalen“ gesetzt hat, sondern weil
ihm aufgrund einer völlig vagen Diagnose seine
Freiheitsrechte aberkannt wurden.
Wo sich vorher die Gesellschaft mehr
schlecht als recht gegen die Ansteckung durch
Lepra zu schützen versuchte, wurden nun unter
wachsender ärztlicher Aufsicht die Menschen
interniert, die dem Projekt einer vernünftigen,
produktiven, gesunden Gesellschaft
im Wege standen. Seuchenbekämpfung wurde
also schon lange vor Max Pettenkofer zu Sozialpolitik
in ganz großem Maßstab.
Nicht Abgeordnete und Richter entschieden
dabei über Freiheit und Kerker, Anständigkeit
und Marginalität, Städtebau und Alltagsgewohnheiten,
sondern Ärzte. Der Arzt, so Foucault,
„kann seine absolute Macht über die
Welt des Asyls nur in dem Maße ausüben, indem
vom Ursprung her er Vater und Richter,
Familie und Gesetz ist“.
Gegen Hysterie und Panik, gegen Ausgrenzung
und Empörung, aber auch gegen diesen
Absolutismus durch Ärzte stellt gerade die Medizinhistorie
ein Rezept aus, das sich bei unerklärlichen
Seuchen aber meist erst im Nachhinein
als das richtige erweist: Offenheit und
Kommunikation im Umgang mit den Erregern
sowie die ehrliche Abwägung, welche Schutzmaßnahmen
nicht allzu große Ungerechtigkeiten
und Härten zur Folge haben.
Fangerau und Lobisch folgern: „Skandalisierte
Krankheiten sind nicht immer vordringliche
Gefahren für die öffentliche Gesundheit.
Sie erzeugen aber Furcht, da über sie wenig bis
nichts bekannt ist, da sie exotisch erscheinen
oder weil sie die öffentliche Aufmerksamkeit
auf gesellschaftliche Prozesse richten, die häufig
bereits im Gang sind.“ Auch diese Furcht ist
ein Teil der Pandemie.